Einleitung

Das akute Nierenversagen (ANV) und die chronische Nierenkrankheit („chronic kidney disease“, CKD) stellen eine zunehmende, globale Herausforderung für die Gesundheitssysteme dar und werden als wachsendes Versorgungsproblem eingeschätzt [1]. Nephrologische Patienten weisen durch ihre Vielzahl an Komorbiditäten, häufige Polypharmazie und dadurch überdurchschnittlich häufige Arztkonsultationen eine hohe Komplexität auf [2]. Die hohe Belastung dieser Patienten durch eine Vielzahl an Interaktionen im Gesundheitswesen steht dabei zugleich dem Wunsch gegenüber, erwerbstätig zu bleiben und möglichst wenig Zeit im Krankenhaus zu verbringen. Die Telemedizin stellt dabei eine Möglichkeit dar, diese Positionen zu verbinden. Dieser Artikel möchte einen Überblick über aktuelle Evidenz und Nutzung der Telemedizin in den verschiedenen Bereichen der Nephrologie geben.

Dialyse

Im Bereich der Dialyse bietet die Telemedizin innovative Konzepte sowohl für Heimdialyseverfahren als auch für die Zentrumsdialyse. Die Heimhämodialyse hat klare Vorteile gegenüber der zentrumsinternen Behandlung in Bezug auf Flexibilität, Lebensqualität und Kosten [3], während ein Überlebensvorteil weiterhin schwer nachzuweisen ist [4]. In der Peritonealdialyse als klassischem Heimdialyseverfahren wurden in den letzten 20 Jahren immer wieder neue telemedizinische Ansätze vorgestellt, die sich vielfach aber nicht in die Regelversorgung durchsetzten. Dabei war es zunächst die Absicht, die Betreuung von Patienten in entlegenen Gebieten bei klarer Assoziation zwischen der Entfernung zum Dialysezentrum und der Mortalität zu verbessern [39]. Neue Impulse haben sich durch die Einführung von Sharesource (Baxter) und theHub (Fresenius Medical Care) ergeben [41]. Sharesource erlaubt es, Behandlungsdaten unmittelbar in einer Cloud zu hinterlegen, die durch das Behandlungsteam eingesehen und verändert werden können. Dadurch ergaben sich signifikant mehr präemptive Konsultationen sowie eine deutlich häufigere Anpassung des Dialyseregimes. Zudem führte das sog. Remote Patient Monitoring (RPM) zu einer größeren Adhärenz [40]. In weiteren Studien ist nun zu untersuchen, ob dadurch auch Peritonitis- und Hospitalisierungsraten gesenkt werden können.

Im Bereich der Heimhämodialyse untersuchte die Arbeit von Weinhandl et al. im Rahmen einer Kohortenstudie mit 606 Teilnehmern die Möglichkeit einer Patienten-App bei der Therapie mit der Dialysemaschine NxStage (Fresenius Medical Care). Dabei zeigten sich eine signifikant niedrigere Rate an Verfahrensabbrüchen aus technischen Gründen oder wegen Komorbiditäten des Patienten sowie eine höhere Therapieadhärenz [5]. Auch für die Zentrumsdialyse gibt es in zunehmendem Maße telemedizinische Interventionen, um z. B. die Adhärenz in Bezug auf Ernährung, Blutdruckeinstellung und Trinkmengenbeschränkung an Nichtdialysetagen zu fördern [6].

Stationäre Versorgung und virtuelle Beratung

Eine nephrologische Fachbetreuung ist nicht nur für Dialysepatienten, sondern für alle Patienten mit Nierenkrankheiten zwingend notwendig und mit einer Senkung der Mortalität verbunden [24]. Gerade in ländlichen Regionen kann diese nicht immer flächendeckend oder beispielsweise auch am Wochenende gewährleistet werden. Die Telekonsultation kann in diesen Fällen eine Möglichkeit sein, nephrologische Expertise einzuholen. Ein Bespiel für erste gute Erfahrungen mit dem „virtuellen Krankenhaus“ ist das Projekt TELnet@NRW in den Regionen Aachen und Münster, was gerade auch in der COVID-19(„coronavirus disease 2019“)-Pandemie zu einer Verbesserung der Versorgung durch Bildung eines sektorenübergreifenden Telemedizinnetzwerks in der Intensivmedizin und in der Infektiologie beitragen konnte [25].

Ein Grund für den Erfolg telemedizinischer Angebote für Heimdialysepatienten ist, dass diese Patienten häufig jünger, proaktiv und in der Regel IT(Informationstechnologie)-kompetent sind. Es kann jedoch schwierig sein, diesen Ansatz auf Patienten einer allgemeinen nephrologischen Ambulanz auszuweiten. Für Patienten mit CKD sind bereits unterschiedliche Modelle der Fernberatung etabliert [7,8,9,10,11,12,13,14]. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse zweier britischer Studien zur virtuellen Nachsorge von CKD-Patienten [15, 16]. Dabei konnte sowohl das Gesamtüberleben verbessert als auch die Anzahl der Notfall-Dialyseeinleitungen gesenkt werden. Zudem war die Wartezeit für einen virtuellen Beratungstermin deutlich kürzer als für eine Präsenzkonsultation. Eine virtuelle Beratung kann die Arbeitsbelastung von Ärzten in Kliniken senken [17]. Ein gegenteiliger Effekt kann aber ebenso beobachtet werden: Die Umstellung eines Patientenkollektivs von einer traditionellen Präsenzsprechstunde zu einem virtuellen Modell kann mit erheblichem Aufwand einhergehen. Dieser umfasst v. a. eine deutliche Lernkurve auf beiden Seiten der Technologie, technische Probleme, aber auch das stetige Werben für diesen innovativen Zugang bei Patienten, Angehörigen, Hausärzten und Klinikmanagement. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, das potenzielle Zielpatientenkollektiv genau zu definieren. Wie 2 aktuelle europäische Studien zeigen konnten, ist zum einen nur ein gewisser Teil der Behandlungsanlässe für eine telemedizinische Behandlung geeignet, zum anderen konnte trotz allgemeiner positiver Erfahrungen kein eindeutiger Nutzen belegt werden [14, 26].

Ein weiterer Bereich der Nephrologie, bei dem Telemedizin eine breitere Anwendung finden könnte, ist die Transplantationsnachsorge. Dies bietet sich zum einen an, da die Transplantationspopulation, v. a. im Bereich der Nierenlebendspende, im Durchschnitt jünger und IT-kompetent ist, aber auch weil sich dadurch in diesem sehr kostenintensiven Gesundheitsbereich erhebliche Einsparungen erzielen lassen [22]. Der Blick ins Ausland ist hier interessant: Im Vergleich zum deutschen Gesundheitswesen ist die Transplantationsnachsorge in Großbritannien dadurch enorm erleichtert, dass alle Laborbefunde in Laboren des National Health Service (NHS) erhoben werden und allen Zentren zugänglich sind. Die Patienten sind es gewohnt, ihre eigenen Laborwerte durch ein passwortgeschütztes Portal (PatientView™) zu verfolgen [42]. Dieses Projekt des britischen Gesundheitsministeriums und verschiedener Patientenselbsthilfegruppen ist unter Transplantierten in Großbritannien verbreitet und beliebt und ermöglicht es auch regional, den Kontakt zum Transplantationszentrum bei Rückfragen zu vereinfachen. Insgesamt hat sich die Organisation der Transplantationsnachsorge als Resultat der COVID-19-Pandemie nun dramatisch verändert: Im Frühjahr 2020 wurde NHS anywhere™ als neue Plattform für Videosprechstunden im gesamten NHS eingeführt. Die Software ist sehr benutzerfreundlich für Patient und Arzt und bietet unter anderem die Möglichkeit, Patienten via SMS oder E‑Mail einzuladen, Labordaten gemeinsam zu betrachten und eine weitere Person (Angehöriger, Psychologe etc.) in die Konsultation einzubeziehen. Im Vergleich zur telefonischen Konsultation schätzen Patienten, Angehörige und Behandler besonders den „Augenkontakt“ – dies ist insbesondere relevant, wenn ein langjähriges Arzt-Patienten-Verhältnis besteht und Patienten während der Pandemie auch sozial sehr isoliert sind. Es überrascht daher nicht, dass nun als Resultat der COVID-19-Pandemie viele Transplantationssprechstunden weitgehend via NHS anywhere™ durchgeführt werden, wenngleich eine formale Evaluation noch fehlt. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die virtuelle Transplantationsnachsorge sich aus ihrem Nischendasein vor COVID-19 schon jetzt weitgehend zur Routine entwickelt hat, wobei nur noch sehr wenige Patienten persönlich im Zentrum vorstellig werden, typischerweise bei akuten Problemen.

Schon vor der Pandemie wurden dazu weitere unterschiedliche Programme entwickelt [18,19,20,21]. Interessant werden dabei die Ergebnisse der aktuell laufenden deutschen TRANSNephro-Studie sein, bei der durch Intervention mittels Smartphone-Apps die Adhärenz gesteigert und so das Transplantatüberleben verbessert werden soll [23]. Die rapide zunehmende Verbreitung virtueller Transplantationsnachsorge wirft jedoch auch eine Reihe von Fragen auf:

  • Wie sicher ist die Nachsorge virtuell und wie oft sollte ein Langzeittransplantierter noch im Zentrum vorstellig werden?

  • Ist für gewissenhafte Patienten möglicherweise mehr Autonomie möglich, wie etwa das in der Rheumatologie erprobte „patient-initiated follow up“ [43]?

Denkbar wäre für gewissenhafte Patienten eine Transplantationsnachsorge, bei der außerhalb einer jährlichen Präsenzvorstellung weitere Vorstellungen nur auf Anregen des Patienten erfolgen oder wenn vorher vereinbarte Grenzwerte (Kreatinin, Medikamentenspiegel etc.) überschritten werden. Auch muss bedacht werden, dass virtuelle Nachsorge langfristig die Arzt-Patienten-Beziehung nachhaltig verändern wird. Diesbezüglich haben Patienten schon angefragt, ob alle Sprechstundenkontakte nach Transplantation virtuell erfolgen können. Transplantationszentren sollten frühzeitig darüber nachdenken, ob und unter welchen Bedingungen sie das erlauben wollen. Unseres Erachtens wird die Mehrzahl der Transplantationsnephrologen einen neuen Sprechstundenpatienten zumindest einmal persönlich sehen wollen.

Patientenportale und mHealth

Die in den letzten Jahren zunehmende Digitalisierung des Alltags hat auch einen wachsenden Markt für gesundheitsbezogene Mobilapplikationen (mHealth) hervorgebracht. Im Idealfall geht mHealth auf das Kommunikationsbedürfnis der Patienten und Angehörigen ein und ermöglicht auch chronisch kranken Patienten den Zugang zu den für sie relevanten Informationen zum richtigen Zeitpunkt („Small-data-Prinzip“) oder von unterwegs [27].

Einige Studien legen nahe, dass interaktive Therapiepläne die Adhärenz fördern und die Sicherheit verbessern können [28, 29]. Ein deutscher kommerzieller Anbieter ist dabei noch einen Schritt weiter gegangen: Die App MyTherapy ermöglicht es Nutzern nicht nur, ihre Gesundheitsdaten wie Blutdruckwerte, Medikationsplan oder Symptomtagebuch digital zu erfassen und zu verwalten, sondern die Daten können auch mit Angehörigen, behandelnden Ärzten oder Pflegenden aktiv geteilt und kommentiert werden. Dadurch erhält der Nutzer gezieltes Feedback und Motivation [30]. Darüber hinaus gibt es zunehmend App-Entwicklungen, die gezielt Lösungen für einzelne Patientenkollektive anbieten. So gaben Dialysepatienten in Japan nach Nutzung einer solchen App an, dass diese ihnen helfe, auf ihr Trockengewicht und eine kalium- und phosphatarme Ernährung zu achten [31].

Die Fallzahlen solcher Untersuchungen sind aktuell aber noch zu gering, um belastbare Schlussfolgerungen zu erlauben. Auch sind die Patientenerfahrungen mit diesen Apps nicht immer positiv, v. a. in Bezug auf nutzerfreundliches Design [32]. Eine aktuelle amerikanische Studie hat in diesem Zusammenhang einen weiteren wichtigen Aspekt der Thematik beleuchtet: die Korrelation von App-Bewertungen zwischen Patienten und Nephrologen. Dabei zeigte sich, dass sich die Bewertung von 28 derzeit häufig genutzten Apps z. T. erheblich zwischen Patienten und Behandlern unterschied [33].

Fallstricke und rechtliche Aspekte

Zur Etablierung der Telemedizin im medizinischen Alltag ist die Umsetzung verschiedener technischer und rechtlicher Aspekte notwendig. Dazu ist beispielsweise die Interoperabilität technischer Geräte notwendig, um einen effizienten Datentransfer herzustellen. Allerdings gibt es noch keine internationalen Standards zur Schnittstellenkompatibilität, sodass für die Anwender hohe Anschaffungskosten entstehen können, die zudem auch eine Herstellerbindung bedingen. Darüber hinaus müssen im Rahmen des Bundesdatenschutzgesetzes hohe Standards an IT-Sicherheit erfüllt werden. Gleichzeitig gibt es im Bereich des Datenschutzes sich aktuell überschneidende Rechtsvorschriften, was die Erhebung und Weiterleitung personenbezogener Daten anbelangt, z. B. zwischen der Datenschutzgrundverordnung und dem Medizinproduktegesetz [37, 38].

Ein weiteres fundamentales Problem ist mit dem Begriff „digital divide“ verbunden. Ursprünglich beschreibt dieser Begriff einen ungleichen Zugang zu digitaler Technologie, oft verursacht durch mangelnde finanzielle Mittel. Mittlerweile wird der Begriff jedoch weiter interpretiert und umfasst auch mangelnde IT-Kompetenz und andere Faktoren [44]. Die COVID-19-Pandemie hat dabei auch gezeigt, dass die „digital divide“ kein statisches Konstrukt ist. So stellte sich bei Einführung der NHS-anywhere™-Plattform für Videosprechstunden heraus, dass ein erstaunlicher Anteil der Patienten im Alter von 80 bis 90 Jahren nun über Tablets verfügt. Diese sind typischerweise zu Beginn der Pandemie beschafft worden, um den Kontakt zwischen der jüngeren Generation und den örtlich und sozial isolierten Älteren zu halten. Statt über die politischen und sozialen Wurzeln der „digital divide“ nachzudenken, sollten Kliniker und Zentren vielleicht diskutieren, wie Patienten mit niedriger IT-Kompetenz unterstützt werden können, sodass sie in gleichem Maße von neuer Technologie profitieren können. Es hat uns im Laufe der Pandemie sehr überrascht, wie viele unserer alten und nicht IT-kompetenten Patienten mit ein wenig Hilfe (z. B. durch Anwesenheit von Nachbarn oder Angehörigen) an Videokonsultationen teilnehmen konnten.

Zukunftsperspektiven 2021

Die Weiterentwicklung der digitalen Nephrologie im nächsten Jahrzehnt wird wesentlich durch die Innovationen in 2 Kernbereichen bestimmt werden: Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) und Integration von Smartphone-Apps in die Arzt-Patienten-Beziehung.

Vielversprechende Beispiele für den Einsatz von Deep Learning in der Nephrologie sind z. B. die Bildverarbeitung zur Bestimmung des Nierenvolumens bei ADPKD(autosomal-dominante polyzystische Nierenerkrankung)-Patienten [34] oder in der Nephropathologie [35]. Auch die Ergebnisse der ANEMEX-Studie zum Einsatz eines Algorithmus mit Erythopoetindosierungsempfehlungen dürften interessante Impulse geben [36].

Ein weiteres Feld mit potenziell erheblicher Zukunftsperspektive ist das Gebiet der „wearables“. Ob und wie weit sich diese Technologie im klinischen Alltag durchsetzen wird, ist derzeit vollkommen spekulativ. Die Technologie für solche Anwendungen ist zum Teil bereits vorhanden, wenngleich nicht kommerziell verfügbar. So beschrieben Fallahzadeh und Kollegen ein Smart-Sock-Device, welches telemedizinisches Monitoring peripherer Ödeme erlaubt [45]. Abgesehen von den Kosten, muss man sich auch fragen, ob Patienten so eine Technologie daheim wirklich akzeptieren und als angenehm empfinden würden. Telemedizinische Blutdruckmessung ist ebenfalls beschrieben [46]. Technologie zur Auswertung des Urinstix via Smartphone ist bereits kommerziell erhältlich und hat sich zur Verlaufskontrolle bei Glomerulonephritis während der COVID-19-Pandemie als ausgesprochen hilfreich erwiesen ([47]; Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Konzept der Smartphonetechnologie: Das Kit beinhaltet Teststreifen, Farbskala und Zugang zur entsprechenden App. Der Patient testet den Urin, hält den benutzten Teststreifen gegen die Farbskala und fotografiert mit dem Smartphone (1); die App generiert ein semiquantitatives Testergebnis, welches im Internet abgerufen werden kann (2)

Im Verlauf der Pandemie haben sich bei allem Enthusiasmus für Telemedizin und virtuelle Sprechstunden aber auch neue Probleme gezeigt: Aus unserer Erfahrung funktionieren z. B. Videokonsultationen sehr gut, wenn sich Arzt und Patient bereits lange kennen und vertrauen. Sie funktionieren allerdings kaum bei Neuvorstellungen oder Verlaufskontrollen bei Patienten, die man nur selten betreut hat. Ebenso unerwartet waren die positiven Auswirkungen auf Sprechstundenplanung und Arbeitsablauf im Lancashire Teaching Hospital: So ist das traditionelle Sprechstundenmodell zum Teil durch eine sehr flexible Videosprechstunde ersetzt worden, bei der Verfügbarkeit von Raum, Termin und Assistenzpersonal letztlich großenteils irrelevant werden.

Insgesamt sind somit die telemedizinischen Entwicklungen in der Nephrologie vielversprechend und werden vielleicht auch gerade durch die aktuelle COVID-19-Pandemie schneller voranschreiten. Die langfristigen Auswirkungen sind dabei schwer zu erfassen. Man muss aber annehmen, dass in der nächsten Dekade solche Technologien in zunehmendem Ausmaß genutzt oder nachgefragt werden. Kliniker sollten reflektieren, was dieser Trend langfristig bedeutet.