Hinführung

Die gesellschaftlichen Krisen der letzten Jahre, wie die Coronapandemie, die Flüchtlings- oder die Energiekrise, stellen Bürger*innen, Organisationen, Kommunen und Länder vor große Herausforderungen. Daher ist es wichtig, Krisen zu reflektieren und sie als Chance zu betrachten, um daraus zu lernen und resiliente Strukturen sowie Prozesse zur Krisenvorsorge bzw. zum -management aufzubauen. Dies geschieht im Idealfall unter Beteiligung der Bürger*innen. Vor diesem Hintergrund wurde eine Photovoice-Studie in einem Stadtteil einer Mittelstadt in Baden-Württemberg durchgeführt.

Hintergrund

Ein Stadtteil ist ein öffentlicher Lebensraum, in dem Menschen leben, wohnen und arbeiten. Resilient ist dieser, wenn er in der Lage ist, sich an gesellschaftliche Krisen- und Notfallsituationen anzupassen, diese zu bewältigen und sich trotz schwieriger Bedingungen zu regenerieren [12, 21, 29]. Dabei ist es wichtig, aus den Erfahrungen zu lernen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen [18, 19, 22]. Eine resiliente Stadt bzw. ein resilienter Stadtteil zeichnet sich durch verschiedene Merkmale aus [18, 26]:

  • Robustheit (Sicherheit und schnelle Erholung von Krisen),

  • Redundanz (Bereithalten von Reservesystemen),

  • Integration (von Krisenplänen und Maßnahmen in Handlungsabläufe und Organisationen),

  • Inklusion/Transparenz (Garantie der Partizipation und Teilhabe aller Beteiligten),

  • Anpassungsfähigkeit (Vorausschauen und Weiterentwickeln).

Das Thema Resilienz gewinnt in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft zunehmend an Bedeutung [24, 28]. Hintergrund ist auch die Vielzahl und Komplexität möglicher gesellschaftlicher Krisen und Notfälle (Tab. 1; [16, 32]).

Tab. 1 Relevante Krisen, Bedrohungen und Katastrophen für Stadtteile. (Eigene Darstellung [10, 17, 18])

Für resiliente Städte bzw. Stadtteile werden Interventionen benötigt, welche die verschiedenen Bedarfe und Herausforderungen der Bürger*innen und Systeme berücksichtigen [24]. Grundsätzlich gelten die frühzeitige Identifikation von Risiken, die Durchführung von Präventionsmaßnahmen sowie die Schaffung flexibler, anpassungsfähiger Strukturen und Prozesse als relevante Interventionen [5, 18, 19]. Sie können sich auf informative/integrative, technische oder organisationale Aspekte beziehen. Im Mittelpunkt stehen dabei sowohl die Resilienz auf individueller als auch auf organisationaler Ebene, wie bspw. von Unternehmen, Kindergärten, Pflegeheimen und Schulen (Tab. 2).

Tab. 2 Beispiele für Interventionen zum Aufbau von Resilienz. (Eigene Darstellung)

Obwohl die Bedeutung von Resilienz auf Stadt- bzw. Stadtteilebene unbestritten ist, bleiben die genauen Ziele und Vorgehensweisen im Kontext derartiger Strategien oftmals vage [24]. Zudem gibt es bisher nur wenige Studien, die Interventionen zur Förderung der Resilienz auf Stadt- oder Stadtteilebene beschreiben und evaluieren. Gründe hierfür liegen in der Komplexität und den Unterschieden von Notfällen, Krisen und der betroffenen Gemeinschaft [28]. In der Gesundheits- und Interventionsforschung wird die Bedeutung betont, die Betroffenen frühzeitig bei der Interventionsentwicklung einzubinden und die Bedarfe partizipativ zu erfassen [25, 31].

Photovoice-Studie

Zum Thema Krisen- und Notfallvorsorge wurde eine partizipativ angelegte Photovoice-Studie „Im Notfall vorgesorgt“ mit Bürger*innen eines Stadtteils einer Mittelstadt in Baden-Württemberg durchgeführt. Die zwei Forschungsfragen, die die Bürger*innen zusammen mit den Wissenschaftlerinnen entwickelt haben, lauten (Abb. 1):

  1. 1.

    Wie kann ich mich auf einen Notfall/eine Krise vorbereiten?

  2. 2.

    Was kann mein Stadtteil gemeinsam machen, um auf eine Krise vorbereitet zu sein?

Abb. 1
figure 1

Ablauf der Photovoice-Studie „Im Notfall vorgesorgt“. (Eigene Darstellung)

Studiendesign und Untersuchungsmethode

Kontext

In einem Landkreis in Baden-Württemberg wurde 2023 ein Resilienzzentrum (www.resilienzzentrum.ostalbkreis.de) gegründet. Dieses wird von der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Unter anderem geht es darum, die Bedarfe der Bürger*innen zu erfassen, um frühzeitig mögliche Interventionen zu entwickeln und umzusetzen. In einem hinsichtlich der Bevölkerungs- und Infrastruktur vulnerablen Stadtteil einer Mittelstadt wurde deshalb eine Photovoice-Studie durchgeführt. Dieser ist als System anfällig für mögliche Schäden wie Notfälle und Krisen [1] und gilt als vulnerabel, weil hier ein hoher Anteil an Menschen in Mehrfamilienhäusern lebt, die teilweise wirtschaftlich schlechter aufgestellt sind. Zudem existieren in dem Stadtteil Verbindungen zu einer Stadtteilkoordinatorin und dem Vorsitzenden der dort ansässigen Wohnungsbaugesellschaft, welche in diesem viele Mehrfamilienhäuser betreibt. Hierdurch besteht ein leichterer Zugang zu den vulnerablen Personen im Stadtteil.

Methode Photovoice

Photovoice ist eine Methode der partizipativen Gesundheitsforschung [30]. Eine vordefinierte Personengruppe, im Fall dieser Studie Bürger*innen eines Stadtteils, alias die Stadtteilexpert*innen [14], fotografiert ihre Lebenswelt. In Workshops werden die Fotos von den Wissenschaftlerinnen und den Stadtteilexpert*innen gemeinsam diskutiert und analysiert.

In dieser Photovoice-Studie wurden 3 Workshops mit 8 Stadtteilexpert*innen sowie einem Team aus 11 Wissenschaftlerinnen (inklusive einer Leitung) durchgeführt. Ziel war es, mindestens so viele Stadtteilexpert*innen wie Wissenschaftlerinnen zu gewinnen, damit jede*r Stadtteilexpert*in individuell unterstützt werden kann. Obwohl diese Zielsetzung nicht erreicht wurde, waren nie mehr Wissenschaftlerinnen als Stadtteilexpert*innen bei den Workshops. Die Workshops zielten darauf ab, den Stadtteilexpert*innen die Möglichkeit zu geben, kritisch über das Thema Krisen- und Notfallvorsorge zu diskutieren und diesbezüglich die Stärken bzw. Anliegen ihres Stadtteils und der Bürger*innen herauszuarbeiten. Letztendlich ging es darum, Entscheidungsträger*innen des Resilienzzentrums und der Kommune ihre Bedarfe anschaulich darzustellen.

Gemäß des Stufenmodells der Partizipation nach Wright et al. [31] wurde im gesamten Studienverlauf die Mitbestimmung und Entscheidungsmacht der Stadtteilexpert*innen angestrebt. Sie wurden wiederholt auf ihre partizipativen Möglichkeiten hingewiesen. Dabei haben sie die Forschungsfragen formuliert, die Fotos und Geschichten ausgewählt sowie über die Art der Ergebnispräsentation entschieden. Die Wissenschaftlerinnen haben sie unterstützt und waren vor allem für die Organisation und Aufarbeitung der Befunde für Politik und Gesellschaft zuständig.

Stadtteilexpert*innen

Bei der Auswahl der Stadtteilexpert*innen wurde darauf geachtet, eine möglichst heterogene Gruppe zu rekrutieren, um verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen. Die Ansprache möglicher Teilnehmenden erfolgte durch einen Informationsstand auf einem Stadtteilfest, das Verteilen von Flyern und Plakaten sowie die persönliche Ansprache von Passant*innen bei Begehungen des Stadtteils und durch die Stadtteilkoordination. Darüber hinaus wurde das Schneeballverfahren eingesetzt [9]. Insgesamt nahmen an der Studie 8 Stadtteilexpert*innen im Alter zwischen 34 und 77 Jahren teil (Tab. 3).

Tab. 3 Überblick Stadtteilexpert*innen. (Eigene Darstellung)

Ablauf

Im ersten Workshop stimmten die Stadtteilexpert*innen und die Wissenschaftlerinnen u. a. die Forschungsfragen, das Vorgehen und die Art der Ergebnispräsentation ab (vgl. Abb. 1). Entschieden haben sich die Stadtteilexpert*innen für die Durchführung von 2 weiteren Workshops. In der Zwischenzeit haben die Stadtteilexpert*innen 5 Fotos pro Forschungsfrage gemacht. Im 2. Workshop wurden diese Fotos präsentiert und diskutiert. Die Ergebnispräsentation, welche im 3. Workshop besprochen wurde, beinhaltete Plakate, Podcast-Beiträge und einen wissenschaftlichen Artikel. Zudem wurde eine Webseite erstellt (https://resilienzevaluation.wixsite.com/imnotfallvorgesorgt) (Wix.com Ltd., Tel Aviv, Israel).

Angesetzt wurde für jeden Workshop eine Dauer von maximal 3,5 h (Abb. 1). Die Stadtteilexpert*innen erhielten für ihre Teilnahme eine Aufwandsentschädigung in Form von Gutscheinen für einen lokalen Drogeriemarkt von insgesamt bis zu 100 € pro Stadtteilexpert*in (Workshop 1: 20 €; Workshop 2: 30 €; Workshop 3: 50 €).

Auswertungsmethode

Die Auswertung der Fotos im 2. Workshop erfolgte angelehnt an die SHOWED-Methode [27]. Sie bildete die Basis für die Entwicklung der Plakate. Für jedes diskutierte Thema wurde ein Plakat erstellt. Während der Workshops führten die Wissenschaftlerinnen Protokoll und zeichneten wichtige Diskussionsphasen digital auf. Im Anschluss wurden die Aufnahmen anonymisiert transkribiert und anhand einer thematischen Analyse nach Braun und Clarke [4] ausgewertet. Dabei wurden die Themen der Plakate deduktiv übernommen und induktiv ergänzt.

Evaluation

Am Ende des 3. Workshops evaluierten die 8 Stadtteilexpert*innen die Photovoice-Studie. Der Fragebogen umfasste die Zufriedenheit mit dem Studienverlauf und das wahrgenommene Ausmaß an Partizipation (in Anlehnung an die Partizipationsstufen von Wright et al. [31]). Ebenso wurde die Atmosphäre während der Workshops erfasst und ein inhaltlicher Bezug auf den Aspekt Krisen- und Notfallvorsorge genommen. Quantitativ ausgewertet wurde er mithilfe von SPSS (IBM Deutschland GmbH, Böblingen, Deutschland). Die offenen Fragen wurden durch eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring [20] analysiert.

Zusammenfassend zeigte sich eine hohe Zufriedenheit der Stadtteilexpert*innen. Sie fühlten sich einbezogen und unterstrichen ihr Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit. Jedoch äußerten sie den Wunsch nach mehr Informationen zum Studienverlauf im Voraus.

Ergebnisse

Insgesamt wurden 10 Plakate erstellt, die jeweils eine Überschrift, ein Ankerbeispiel der Stadtteilexpert*innen, ein gemeinsam ausgewähltes Foto und einen kurzen erklärenden Text, die Geschichte, enthalten (Abb. 2). Alle Plakate sind im Anhang zu finden. Die Analysen zu beiden Forschungsfragen zeigten, dass die Stadtteilexpert*innen 4 Hauptthemen als relevant erachteten (Tab. 4 im Anhang). Das sind 1. Eigenversorgung und Vorräte, 2. Aufenthaltsorte während einer Krise, 3. soziale Kontakte und Unterstützung sowie 4. positives Denken in Bezug auf die Krisen- bzw. Notfallvorbereitung. Für die erste Forschungsfrage wurden 6 und für die zweite Forschungsfrage 4 Plakate entwickelt.

Abb. 2
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Beispielplakat zum Thema Eigenversorgung und Vorräte, Plakat 3. (Eigene Darstellung)

Forschungsfrage 1 „Wie kann ich mich auf eine Krise/einen Notfall vorbereiten?“

Die Analyse der von den Stadtteilexpert*innen erstellten Fotos und der dazugehörigen Geschichten zeigte auf, dass ihnen Vorratshaltung (Lebensmittel, Wasser, Stromquellen) und relevante Informationen zum Verhalten (analoges Adressbuch, Überlebensrucksack) vor bzw. während einer Krise oder eines Notfalls wichtig sind (s. Anhang).

  • Das 1. Plakat „Rein oder raus?“ (Abb. 3) thematisiert krisenspezifische Verhaltensweisen. Die Stadtteilexpert*innen reflektierten über unterschiedliche Arten von Krisensituationen und die entsprechenden Verhaltensweisen und Vorbereitungsmaßnahmen. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob und wann das eigene Zuhause verlassen werden muss. Entsprechend ist auf dem Bild eine offenstehende Haustüre zu sehen. Allerdings kommunizierten hier die Stadtteilexpert*innen sehr deutlich, dass sie nicht wissen, wann sie das Haus verlassen müssen und wann nicht.

  • Bei Plakat 2 zum Thema Vorratshaltung von Wasser wird die Bedeutung eines ausreichenden Wasservorrats für die Vorbereitung auf Notfälle und Krisen betont. Deshalb trägt es den Titel „Wasser – auch in der Krise notwendig!“ (Abb. 4). Auf dem Foto sind gestapelte Wasserkisten in einem Keller abgebildet. Wasser wurde als lebenswichtig und für verschiedene Zwecke einsetzbar eingestuft, was die Relevanz eines entsprechenden Vorrats für die Stadtteilexpert*innen zuhause begründet. Allerdings zeigen sich hier die Problematiken des notwendigen Raumbedarfs zur Lagerung und der finanziellen Möglichkeiten.

  • Das 3. Plakat zum Thema Vorratshaltung von Lebensmitteln trägt den Titel „Pasta ist mein Laster“ (Abb. 5). Die Stadtteilexpert*innen sprachen sich für das Einrichten von Lebensmittelvorräten aus. Auf dem Bild ist ein Ausschnitt eines Regals zu sehen, in dem verschiedene Lebensmittel wie Nudeln und Kekse gelagert werden. Sie hoben in diesem Kontext hervor, Vorräte anzulegen, die nicht nur das physische Überleben in Krisenzeiten sichern, sondern auch positive Emotionen unterstützen (Abb. 2). Kritisch diskutiert wurde in diesem Zusammenhang die Haltbarkeit von Lebensmitteln und die Unsicherheit, welche Lebensmittel und wie viele sinnvoll vorrätig gehalten müssen, zumal in den Wohnungen der Platz begrenzt ist.

  • Das Thema Stromversorgung wird auf dem 4. Plakat diskutiert und trägt die Überschrift „Licht …!“ (Abb. 6). Ein wichtiger Aspekt der Krisen- und Notfallvorbereitung und des Managements bezieht sich auf das Verhalten während eines Stromausfalls. Die Stadtteilexpert*innen diskutierten Strategien, wie den Einsatz von Notstromaggregaten oder Kerzen, um die Stromversorgung von lebensnotwendigen elektronischen Geräten und das Vorhandensein von Lichtquellen zu gewährleisten. Auf dem Bild ist, vor einem schwarzen Hintergrund, ein brennendes Teelicht mit der Aufschrift „Notlicht“ zu sehen. Allerdings sind mit diesem Punkt die Instandhaltung und die praktische Erfahrung im Umgang mit diesen Geräten verbunden. Zudem entstehen Kosten, die erst einmal aufgebracht werden müssen.

  • Das 5. Plakat zum Thema Vorsorge, wenn das Zuhause verlassen werden muss, wurde mit „Überlebensrucksack“ (Abb. 7) betitelt. Auf dem Bild ist ein Rucksack, mit für die Stadtteilexpert*innen überlebenswichtigen Inhalten (z. B. Medikamente, Dokumente), zu sehen. Problematisiert haben die Stadtteilexpert*innen die ständige Verfügbarkeit und die Handhabbarkeit eines solchen Rucksacks, um in einer Krisen- bzw. Notfallsituation schnellstmöglich agieren zu können. Außerdem sind sie unsicher, was sie genau in den Rucksack einpacken müssen und wie sie mit den anfallenden Kosten umgehen.

  • „Alle Kontakte im Griff“ (Abb. 8) ist der Titel des 6. Plakats und thematisiert ein analoges Adressbuch. Die Stadtteilexpert*innen haben dies empfohlen, um unabhängig von elektronischen Geräten jederzeit auf wichtige Kontakte (z. B. Familie, Freund*innen, Ärzt*innen) zugreifen zu können, insbesondere in Zeiten von Stromausfällen oder technischen Defekten. Das Foto zeigt ein Notizheft mit der Aufschrift „Mein Adressbuch“. Die Entscheidung zu treffen, wer alles in das Adressbuch muss, ist eine Herausforderung. Ebenso, wie es aktuell zu halten.

Forschungsfrage 2 „Was kann mein Stadtteil gemeinsam machen, um auf eine Krise vorbereitet zu sein?“

Die Stadtteilexpert*innen identifizierten verschiedene Aspekte, welche für eine bedarfsorientierte Notfall- und Krisenvorbereitung auf Stadtteilebene relevant sind. Bei der Auswertung zeigten sich die Themen soziale Bindungen, gegenseitige Unterstützung, mögliche Sammelorte bei Krisen und Notfällen und positives Denken in Bezug auf die Krisen- bzw. Notfallvorbereitung.

  • Plakat 7, „Notfall – wohin dann?!“ (Abb. 9), bezieht sich auf Orte und Räume der Zuflucht. Das Foto zeigt eine dicke Metalltür zu einem Schutzraum. Kritisiert wurde die Unbekanntheit von Sammelorten und Schutzräumen, von Ansprechpersonen und Abläufen innerhalb des Stadtteils. Die Kenntnis solcher Orte und Räume sowie der verantwortlichen Stellen würde den Stadtteilexpert*innen Sicherheit geben und ihr Wohlbefinden bereits vor einer Krisensituation erhöhen. Die Stadtteilexpert*innen schlagen im Rahmen dessen die Durchführung von Notfallübungen mit allen Bürger*innen des Stadtteils und die Integration von Treffpunkten in deren Alltag vor. Hierdurch könnte das Vertrauen der Bürger*innen in die verantwortlichen Stellen gesteigert werden.

  • Netzwerkbildung und Gemeinschaft werden auf Plakat 8, „Miteinander geht es besser“ (Abb. 10), durch 5 aufeinanderliegende Hände dargestellt. Die Stärkung der sozialen Beziehungen und die Förderung von Netzwerken wurden als wesentliche Elemente der Notfall- und Krisenvorbereitung auf Stadtteilebene identifiziert. Die Stadtteilexpert*innen schlagen Veranstaltungen im Stadtteil vor. Sie wünschten sich nachbarschaftliche Beziehungen und einen engen Zusammenhalt bereits vor dem Notfall oder der Krise, um sich gegenseitig besser unterstützen zu können. Konkrete Ideen haben sie allerdings kaum geäußert.

  • Plakat 9 bezieht sich auf eine Liste mit Kontaktdaten, Fähigkeiten und verfügbaren Gegenständen im Stadtteil. Es trägt den Titel „Frau M. ist Elektrikerin“ (Abb. 11). Dabei wurde ein Laptop fotografiert, auf dem eine solche Liste zur gegenseitigen Unterstützung abgebildet ist. Die Etablierung einer Plattform zum Teilen individueller Fähigkeiten und Ressourcen innerhalb des Stadtteils könnte dessen kollektive Notfall- und Krisenvorbereitung verbessern. Die Stadtteilexpert*innen diskutierten, dass diese den Austausch von Fachkenntnissen, Werkzeugen und anderen Ressourcen erleichtert. Die Organisation könnte bspw. durch die Stadtteilkoordination oder das Resilienzzentrum über eine umfassende, zentral einzusehende Liste erfolgen. Allerdings sind den Stadtteilexpert*innen die damit verbundenen Herausforderungen, z. B. Aktualisierung der Liste, Verantwortlichkeiten, Datenschutz bewusst.

  • Als 10. Plakat befasst sich „Ohne Hoffnung ist alles nichts“ (Abb. 12) mit positivem Denken und zeigt einen Sonnenaufgang. Die Förderung des positiven Denkens in Bezug auf die Krisen- bzw. Notfallvorbereitung, die Stärkung der individuellen Resilienz auf Stadtteilebene sowie sich gegenseitig emotional zu unterstützen, können dazu beitragen, Notfall- und Krisensituationen besser zu bewältigen. Die Stadtteilexpert*innen forderten gemeinsame Aktivitäten, welche von der Stadtteilkoordination und/oder dem Resilienzzentrum organisiert werden, um Optimismus und Zusammenhalt zu fördern.

Diskussion

Diese Photovoice-Studie untersuchte, wie sich Bürger*innen auf Notfall- und Krisensituationen vorbereiten und wie öffentliche Einrichtungen, speziell die Stadtteilkoordination und das Resilienzzentrum unterstützend tätig sein können. Dabei gewähren die Ergebnisse einen Einblick in die Wahrnehmungen und Bedarfe von Bürger*innen auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene.

Die Stadtteilexpert*innen verdeutlichen die Wichtigkeit einer individuellen Vorsorge, um in Zeiten von gesellschaftlichen Krisen und Notfällen unabhängig und selbstversorgt handeln zu können (Forschungsfrage 1). Ebenso betonen sie die Bedeutung emotionaler und sozialer Unterstützung, auch während einer Krise bzw. eines Notfalls. Allerdings brauchen sie an verschiedenen Stellen Unterstützung durch Politik und Gesellschaft (Forschungsfrage 2). Sie sehen es bspw. eher als die Aufgabe einer übergeordneten Instanz, soziale Beziehungen und Netzwerke im Stadtteil zu bilden, zu stärken und aufrechtzuerhalten. Diese Verantwortung liegt in der Hand der öffentlichen Einrichtungen, wie z. B. dem Landkreis, der Stadtverwaltung, dem Resilienzzentrum und der Stadtteilkoordination. Die Stadtteilexpert*innen brauchen diese Unterstützung, da ihre eigenen Ressourcen, z. B. aufgrund von Platzmangel, Wissenslücken oder Finanzen, nicht ausreichen. Sie ist Voraussetzung zum Aufbau sozialer und gesundheitlicher Chancengleichheiten, auch in Krisenzeiten [8].

Bei der Identifikation konkreter Interventionen für die Bürger*innen des Stadtteils bleiben die Stadtteilexpert*innen lediglich auf informativer Ebene. Technische Interventionen (Tab. 2) nannten sie hingegen nicht. Sie gehen möglicherweise davon aus, dass die Maßnahmen in Eigenverantwortung ohne Unterstützung kommunaler Entscheidungsträger*innen erfolgen müssen. Mögliche Gründe für die wahrgenommene Eigenverantwortung könnten ein eingeschränktes Vertrauen oder mangelndes Wissen gegenüber den finanziellen, personellen und zeitlichen Ressourcen der kommunalen Entscheidungsträger*innen und des Resilienzzentrums sein. Ereignisse wie die Coronapandemie, die Flüchtlings- oder die Energiekrise haben deutlich gemacht, wie wichtig es ist, sich individuell und gemeinschaftlich auf mögliche Krisen vorzubereiten. Diese Erfahrungen können dazu beigetragen, dass Bürger*innen zunehmend die Bedeutung von Vorsorgemaßnahmen und der Unterstützung durch öffentliche Einrichtungen erkennen.

Limitationen

Die teilnehmenden Stadtteilexpert*innen bildeten eine eher heterogene Gruppe hinsichtlich Alter, Geschlecht, Gesundheits- und Beschäftigungsstatus. Sie sind Bürger*innen eines vulnerablen Stadtteils, auch wenn sie bspw. teilweise gut gebildet sind und sich selbst nicht als vulnerabel bezeichnen würden.

Es ist möglich, dass bestimmte Themen nicht behandelt werden konnten, da sie visuell nicht oder schlecht zu erfassen waren. Denkbar ist, dass trotz vorangegangener Schulung der Wissenschaftlerinnen das Auftreten oder die Aussagen dieser sowie evtl. bestehende Machtgefälle, die Meinung der Stadtteilexpert*innen und somit die Ergebnisse beeinflusst haben. Des Weiteren wurde die Diskussion der Stadtteilexpert*innen in den jeweiligen Workshops durch die zeitlichen Rahmenbedingungen eingeschränkt, wodurch einzelne Thematiken möglicherweise nicht vollständig ausdiskutiert werden konnten.

Es ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse der Photovoice-Studie auf andere Stadtteile bzw. Städte übertragen werden können, insbesondere wenn der Kontext bzw. die Lebenswelt vergleichbar ist. Menschen in Mietwohnungen und Stadtteilen mit wenig Infrastruktur brauchen u. a. aufgrund von Platzmangel, Informationsdefiziten und der Vielfalt möglicher Notfälle- und Krisen, Unterstützung im Bereich Vorsorge und Management durch Netzwerke, Praxisakteure und Politik. Zudem konnte gezeigt werden, dass die Methode Photovoice für Forschungsfragen im Kontext von Resilienz und settingbezogener Forschung erkenntnisgewinnend eingesetzt werden kann.

Fazit für die Praxis

  • Die Anregungen der Stadtteilexpert*innen bilden erste Handlungsempfehlungen für die Stadtteilkoordination und das Resilienzzentrum. Diese umfassen nicht nur die Bereitstellung materieller Ressourcen, sondern auch die Förderung von sozialen Beziehungen, die Stärkung individueller Resilienz und die Schaffung einer unterstützenden Gemeinschaft.

  • Dies beinhaltet: Vertrauensaufbau der Bürger*innen in Entscheidungsträger*innen durch Sensibilisierung und Aufklärung, Implementierung einer umfassenden Krisen- und Notfallvorbereitung auf Verhaltens- und Verhältnisebene und den Fokus auf vulnerablen Personengruppen bei Interventionen zur Krisen- und Notfallvorsorge.

  • Nur durch eine umfassende Vorbereitung auf verschiedenen Ebenen können Gemeinschaften effektiv auf Notfall- und Krisensituationen reagieren sowie ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Herausforderungen stärken.