Geflüchtete Frauen sind vielfältigen gesundheitlichen Herausforderungen ausgesetzt, sie verfügen jedoch auch über gesundheitsförderliche Ressourcen. Im Rahmen eines partizipativen Forschungsprojekts (EMPOW) wurde ein Peer-Projekt von und für Frauen, die aus farsi- und arabisch-sprachigen Ländern nach Deutschland geflüchtet sind, umgesetzt. Das Projekt zeigt die Stärken des Peer-Ansatzes für die Gesundheitsförderung. Es werden jedoch auch Grenzen deutlich. Die Erkenntnisse der Studie weisen auf die Unterstützungsbedarfe der Peers hin.

Geflüchtete Personen sind im Hinblick auf Gesundheitsförderung in Deutschland nicht ausreichend versorgt [14]. Gerade bei geflüchteten FrauenFootnote 1, so die These des vorliegenden Beitrags, bestehen besondere Potenziale und Bedarfe der Gesundheitsförderung. Geflüchtete Frauen sind eine heterogene Gruppe, deren Gesundheit von vielen Faktoren abhängt: Fluchterfahrungen, rechtlicher Status, Zugang zu Bildung, Arbeitsmöglichkeiten, Unterstützungssysteme, die in Verschränkung mit geschlechtsbezogenen Faktoren jeweils spezifische Gesundheitschancen und -risiken mit sich bringen [11]. Viele geflüchtete Frauen sind vor, während und nach der Flucht Gewalterfahrungen ausgesetzt [2, 8, 15]. Diese Gewalt kann physisch, psychisch oder sexualisiert sein und erhebliche Auswirkungen auf ihre psychische und physische Gesundheit haben [1]. Gleichzeitig verfügen Frauen über wertvolle gesundheitsbezogene Ressourcen und Potenziale für Selbsthilfe und Selbststärkung (Empowerment), die gerade im Kontext Flucht zum Vorschein kommen können [16]. Dazu gehören kommunikative und soziale Kompetenzen, die zur gegenseitigen Unterstützung genutzt werden können. Geflüchtete Frauen sind häufig von ihren familiären Netzwerken, Freund*innen und Communities getrennt und leben in einer weitgehend unbekannten Umgebung, wo zudem sprachliche Barrieren bestehen. Soziale Unterstützungsnetze, insbesondere solche, die kurz nach der Ankunft im Aufnahmeland aufgebaut werden, können den Zugang zu Gesundheitsdiensten verbessern, die Isolation verringern, die Lebenszufriedenheit erhöhen, diskriminierungsbedingten Stress mindern und die körperliche und psychische Gesundheit fördern [11].

Peer-Ansätze nutzen und stärken die Selbsthilfe- und Empowerment-Potenziale von vulnerablen Gruppen. Als „Peers“ werden Personen bezeichnet, die den Zielgruppen oder lebensweltlichen Gemeinschaften („Communitys“) angehören, die von Angeboten oder Forschungsaktivitäten erreicht werden sollen [10]. Peer-Ansätze spielen sowohl in der Gesundheitsförderung als auch in der partizipativen Gesundheitsforschung eine zentrale Rolle. Vielfältige Beispiele verdeutlichen die Potenziale und Erfolge von Peer-Ansätzen [18, 25, 27], allerdings werden auch Grenzen und Herausforderungen diskutiert [5, 13, 23]. So weisen beispielsweise Ibáñez-Carrasco et al. [13] darauf hin, dass Peer-Forschende spezifische Unterstützungsbedarfe haben, da die Arbeit als „Peer“ mit Disclosure-Erfahrungen einhergeht und emotionale Arbeit erfordert. Ist keine ausreichende Unterstützung gegeben, kann die Beteiligung an Forschung und Gesundheitsförderung für Peers sogar schädlich sein, indem einzelne Personen überfordert, unrealistische Erwartungen geweckt und Konflikte in der Community erzeugt werden. Sowohl in der Gesundheitsförderung als auch in der partizipativen Gesundheitsforschung werden solche nicht-intendierten Folgen der Beteiligung von Peers zunehmend kritisch reflektiert [5, 19, 24]. Geflüchtete Frauen befinden sich in einer besonders vulnerablen Situation. Die von der Forschung noch weitgehend unbeantwortete Frage, inwiefern es machbar, wirksam und ethisch vertretbar ist, geflüchtete Frauen als Peers in Gesundheitsförderung und partizipativer Gesundheitsforschung zu beteiligen, ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Wir dokumentieren die Machbarkeit, finden erste Hinweise auf die Wirksamkeit (aus Sicht beteiligter Frauen) und diskutieren ethische Fragen.

Methoden

Partizipative Gesundheitsforschung im EMPOW-Projekt

Partizipative Forschung sieht die Beteiligung lebensweltlicher Gemeinschaften („Communities“) an der Erforschung von Gesundheitsproblemen und an der Entwicklung von Lösungsansätzen vor. Das Projekt „Vulnerabilität und Empowerment: Partizipative Ansätze der Gesundheitsförderung mit Geflüchteten“ (EMPOW) zielte insgesamt darauf ab,

  1. 1.

    gesundheitsbezogene Bedarfe und Ressourcen ausgewählter Gruppen mit Fluchterfahrung an drei Standorten (Berlin, Hannover, München) partizipativ und Community-basiert zu analysieren;

  2. 2.

    gemeinsam praktische Maßnahmen der Gesundheitsförderung für Menschen nach der Flucht zu entwickeln und

  3. 3.

    zu verstehen, wie Vulnerabilität (Verletzbarkeit) und Empowerment von Menschen mit Fluchterfahrung im Hinblick auf ihre Gesundheit erlebt werden.

Im Rahmen des partizipativen EMPOW-Projekts arbeiteten Menschen mit Fluchterfahrung (Community-Partner*innen) mit Vertreter*innen des professionellen Unterstützungssystems (Praxis-Partner*innen) und Wissenschaftler*innen (LMU-Partner*innen) gleichberechtigt zusammen [22]. Arbeitsgruppen an den Standorten konnten die konkrete Schwerpunktsetzung eines lokalen Projekts im Rahmen der oben genannten Ziele festlegen und über finanzielle Ressourcen zur Umsetzung verfügen.

Zielsetzung am Standort Hannover

Am Standort Hannover war die Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. (LVG & AFS) als Praxispartnerin beteiligt. Hier wurde eine peer-basierte Arbeitsgruppe aus 5 Community-Partnerinnen, die selbst aus Afghanistan, Iran, Jemen und Syrien nach Deutschland geflohen waren, gebildet. Die Gruppe traf sich wöchentlich, wurde von der Erstautorin dieses Beitrags auf Minijobbasis koordiniert (die übrigen Peers erhielten Aufwandsentschädigungen) und von einem Mitarbeiter der LVG & AFS und dem LMU-Team begleitet. Das lokale Projekt verfolgte die Zielsetzung, eine Maßnahme (Intervention) der Gesundheitsförderung von und für Frauen zu entwickeln, die aus farsi- und arabisch-sprechenden Ländern nach Deutschland geflüchtet sind und Erkenntnisse über die Potenziale eines Peer-basierten Ansatzes der Gesundheitsförderung unter besonderer Berücksichtigung von Vulnerabilität und Empowerment in der Situation von Frauen nach der Flucht zu generieren. Der Schwerpunkt lag damit auf dem zweiten, praxisbezogenen Ziel des EMPOW-Projekts, dessen partizipative Umsetzung und Evaluation am Standort Hannover im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht.

Entwicklung und Umsetzung einer Intervention mit Social Media

Die lokalen Projektaktivitäten wurden von den Peers über 12 Monate (2021–2022) konzipiert und umgesetzt. Aufgrund der Coronapandemie war die Gruppe weitgehend auf Online-Aktivitäten begrenzt.Footnote 2 Es wurden zwei WhatsApp-Gruppen aufgebaut (eine in arabischer Sprache und eine in Farsi). Insgesamt wurden per „word of mouth“ und Schneeballsystem sukzessive ca. 100 geflüchtete Frauen im Raum Hannover als Mitglieder gewonnen. Über die Social-Media-Netzwerke wurden Informationen, Videos, Ermutigungen und Kommentare geteilt, die die Mitglieder bei der Bewältigung ihres Alltags (auch während der Coronapandemie) unterstützen. Die Peers haben die Chat-Verläufe moderiert, Fragen gestellt und beantwortet, den Austausch der Frauen untereinander ermöglicht und KurzvideosFootnote 3 zu verschiedenen Themen erstellt. Sie haben Regeln eingeführt, die darauf abzielten, die Privatsphäre der Beteiligten zu schützen und die Inhalte zu begrenzen:

  • Es dürfen keine sensiblen persönlichen Daten in der Gruppe ausgetauscht werden; falls Hilfe benötigt wird, können die Peers über einen Chat oder per Telefon erreicht werden.

  • Wer mit anderen Gruppenmitgliedern über persönliche Themen sprechen möchte, kann dies z. B. über einen privaten Chat tun.

  • Keine Chataktivitäten nach 22 Uhr, um Ruhezeiten zu respektieren.

  • Die Gruppen dienen dem Austausch von Informationen über die Gesundheit von Frauen und ihren Familien und ihren alltäglichen Problemen; der Austausch über andere Themen, insbesondere über Religion und Politik, ist nicht gestattet.

  • Rechtliche Fragen zum Asylverfahren, Kindergeld, Sozialleistungen u. ä. werden soweit möglich beantwortet. Bei offenen Fragen werden Teilnehmende an Beratungsstellen verwiesen.

Allgemeine Gesundheitsfragen, die in den Chats formuliert wurden, wurden von den Peers übersetzt, an eine Ärztin weitergeleitet und die Antworten für die Netzwerke rückübersetzt. Weiterhin wurde ein zusätzliches Online-Sprachcafé zum niedrigschwelligen Deutschlernen organisiert. Darüber hinaus wurden die Mitglieder der Netzwerke bei Bedarf in vertraulichen Zweiergesprächen an professionelle Hilfsangebote weitervermittelt. Mit ca. 30 Teilnehmerinnen fanden solche bilateralen Gespräche mit anschließenden Weitervermittlungen statt.

Datenerhebung und -auswertung zur prozessbegleitenden Evaluation

Der partizipative Prozess in Hannover umfasste die Entwicklung und Umsetzung einer praktischen Maßnahme (Intervention) der Gesundheitsförderung, die in Form von Projektdokumentationen (Protokollen, Feldnotizen und Berichten) dokumentiert und in regelmäßigen Gesprächen mit dem Mitarbeiter der LVG/AfS und dem LMU-Team begleitend unterstützt und ausgewertet wurde. Zur formativen Evaluation wurden außerdem zwei Fokusgruppen (FG) mit den beteiligten Peers durchgeführt. Darin wurden folgende Fragen vertiefend reflektiert: 1) Welche Auswirkungen hat die Coronapandemie auf die Situation geflüchteter Frauen in Hannover, die Peers und die Zusammenarbeit im EMPOW-Projekt? und 2) Wie bewerten die Peers ihre Mitwirkung am EMPOW-Projekt im Hinblick auf a) die Erreichung der Zielsetzung, die Gesundheit geflüchteter Frauen zu fördern (sowie damit verbundene Limitationen), und b) die Auswirkungen dieser Arbeit auf die Peers selbst (u. a. im Hinblick auf Empowerment und Vulnerabilität)?Footnote 4 Die Fokusgruppen fanden online und in deutscher Sprache statt (Dauer jeweils ca. 60 min). Sie wurden aufgezeichnet und transkribiert.Footnote 5 Die Analyse dieser Daten erfolgte in einem partizipativen Prozess, der wiederkehrende Gruppenreflexionen beinhaltete [21], die Corona-bedingt überwiegend online stattfanden. Die Auswertung wurde zusätzlich durch einen qualitativen Kodier- und Auswertungsprozess unterstützt, der vom LMU-Team (mithilfe der Software MAXQDA) umgesetzt wurde und sich an den Prinzipien der Grounded-theory-Methodologie orientierte [4]. Die vorliegende Analyse fokussiert die partizipative Evaluation der peer-basierten Intervention und fragt nach der Zielerreichung im Hinblick auf Gesundheitsförderung unter besonderer Berücksichtigung von Vulnerabilität und Empowerment aus Sicht der beteiligten Community-Partner*innen. Die Einhaltung forschungsethischer Grundsätze wurde von der Ethikkommission der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der LMU positiv begutachtet. Die Reflexion ethischer Fragen und die Schaffung von „safe spaces“ spielte auch in der Forschungszusammenarbeit eine große Rolle [9, 26], weshalb eine eigene AG Ethik eingerichtet wurde, in der die Projektpartner*innen gemeinsam Herausforderungen adressierten.

Ergebnisse

Gesundheit fördern nach der Flucht

Die Peers kommen auf Basis ihrer Erfahrungen mit den WhatsApp-Gruppen und in den bilateralen Gesprächen mit einzelnen Mitgliedern dieser Gruppen zu dem Schluss, dass ihre Intervention die Gesundheit der teilnehmenden Frauen in dreierlei Hinsicht gefördert hat. Zum einen konnten die teilnehmenden Frauen konkrete, gesundheitsbezogene Fragen stellen, die von anderen Frauen in der WhatsApp-Gruppe, von den Peers und/oder der beteiligten Ärztin beantwortet wurden. Dabei war oft nicht nur die eigene Gesundheit, sondern auch die Gesundheit der Familie und insbesondere der Kinder (sofern vorhanden) von Interesse. Für die Peers beinhaltete die Begleitung dieser Diskussion und teilweise die Beantwortung der Fragen Recherchen, die dazu führten, dass auch ihr eigenes Gesundheitswissen erweitert wurde. Zu der Frage, ob diese Informationen und Videos z. B. zur Ernährung, zum Tragen einer Gesichtsmaske oder zur Durchführung eines Corona-Selbsttests, dazu geführt haben, auch das Verhalten der Frauen, also ihr Gesundheitshandeln, zu ändern, konnten die Peers keine Aussagen treffen. Eine konkrete Vorstellung hatten sie dagegen von den verbesserten Kontakten zum Sozial- und Gesundheitswesen durch den Austausch in der Gruppe und durch die bilaterale Vermittlung durch die Peers. Die zweite Ebene der Förderung der Gesundheit bezieht sich damit auf den verbesserten Zugang zur Gesundheitsversorgung und professionalisierten Unterstützungsangeboten. Drittens hatten die Peers auf Basis der Äußerungen und Rückmeldungen der Frauen den Eindruck, dass diese auch mental und in der psychosozialen Bewältigung ihres Alltags nach der Flucht stark von dem vertrauensvollen, gegenseitigen Austausch und der Unterstützung durch andere geflüchtete Frauen, die ihrer Sprache mächtig waren, profitierten.

Prozesse der Selbstermächtigung (Empowerment)

Die Frage, inwiefern das Projekt zu Prozessen der kollektiven Stärkung und Befähigung geführt hat, wurde von den Peers in zweifacher Hinsicht diskutiert: zum einen im Hinblick auf die Frauen, die an den WhatsApp-Gruppen teilgenommen haben und von ihnen in individuellen Gesprächen sowie durch Weitervermittlungen und Begleitungen unterstützt wurden. Zum anderen im Hinblick auf ihre eigene Situation als geflüchtete Frauen und engagierte Peers.

Die WhatsApp-Gruppen dienten dem Austausch unter den teilnehmenden Frauen und ermöglichten Fragen zu stellen und Hilfe zu bekommen – in den kleineren und größeren Dingen der Alltagsbewältigung, wobei der „Alltag“ für geflüchtete Frauen voll neuer Herausforderungen ist und routinierte Handlungen und Abläufe erst etabliert werden müssen. In diesem Zusammenhang boten die WhatsApp-Gruppen eine niedrigschwellige Möglichkeit zum Austausch und gegenseitigen Unterstützen, die rege genutzt wurde. Ein Mitglied der Arbeitsgruppe (Peer) beschreibt die Entwicklung der Gruppe seit Beginn:

„Wenn ich an den Anfang denke, da waren wir nur wenige Frauen in der Gruppe …, aber jetzt sind wir viele. Und dann, wie schön ist es, wenn ich sehe, alle versuchen, den anderen zu helfen mit ihrer Erfahrung und mit Antworten auf die Fragen. Manchmal bin ich in der Schule oder bei der Arbeit und dann sehe ich ‚Oh guck mal, jetzt sind es 80 Nachrichten. Was ist passiert in unserer Gruppe?‘ Wenn ich die Nachrichten gelesen habe, wenn jemand eine Frage hat, zum Beispiel zu einem Arzt oder wegen eines Problems beim Sozialamt oder beim Jobcenter oder alle diese Fragen und die anderen Frauen haben es sofort beantwortet. Sie geben eine Telefonnummer oder eine Adresse. Und ich finde, das ist echt super toll … das ist ganz genau, was wir wollten.“ (TN3 FG8)

Auf die Frage, warum sie sich bei EMPOW engagiert, antwortet ein anderes Mitglied der Arbeitsgruppe:

„Ich mache bei EMPOW mit, weil es mich immer freut, neue Leute kennenzulernen, und besonders mit Frauen zu diskutieren. Als ich nach Deutschland gekommen bin, war ich einsam und auch das ist jetzt in der Gruppe. Wir wollen, dass wir alle zusammen, diesen Weg zusammen [gehen]. … Manche Frauen in der Gruppe jetzt wir sind befreundet. Sie rufen mich ab und zu an. … Und jetzt kann ich wirklich Hilfe bekommen, Hilfe anbieten, weil ich bin immer im Internet und ich rede, ich surfe viel und ich such nach Informationen. Ja. Das ist, ich bin gutes Teamwork in der arabischen Gruppe.“ (TN4 FG8)

Der Austausch musste Corona-bedingt online stattfinden und die Peers waren selbst überrascht, wie gut die Vernetzung via Social Media funktioniert hat. Es wurde jedoch auch darauf hingewiesen, dass Face-to-face-Kontakt dennoch wichtig ist:

„Der persönliche Kontakt ist, glaube ich, einfacher und besser als Online-Kontakt. Viele Gefühle kann man nicht per WhatsApp oder online zeigen. Und genau das ist, was Frauen brauchen. Sie brauchen manchmal dieses Vertrauen und Mitgefühl … und das ist mit dem persönlichen Kontakt einfacher.“ (TN1 FG5)

Allerdings waren die Social-Media-Gruppen während der Coronapandemie hilfreich, um überhaupt Informationen auszutauschen, zu übersetzen und zu diskutieren (z. B. über Ängste bezüglich der Coronapandemie, Impfungen, Homeschooling, Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen). Die Gruppe bot moralische Unterstützung, v. a. für diejenigen, die in Gemeinschaftsunterkünften lebten und aufgrund von Besuchsbeschränkungen kaum soziale Kontakte hatten.

Die Peers haben durch diese Tätigkeit an Selbstvertrauen gewonnen. Sie beschreiben, wie sie wertvolle Kompetenzen entwickelten und auch ihr eigenes soziales Netzwerk erweitert haben. Auch der Zuverdienst wurde positiv erwähnt. Aber das Engagement als Peers beinhaltete auch Herausforderungen. Für die Peers, die selbst vor nicht allzu langer Zeit geflüchtet waren, war es manchmal belastend, sich mit den Themen Flucht und Asyl auseinanderzusetzen, insbesondere wenn Frauen mit Gewalt- oder Traumaerfahrungen sie um Hilfe baten. Es dauerte eine Weile, bis sie lernten, mit solchen Situationen angemessen umzugehen und sich selbst dabei zu schützen.

Unterstützungsbedarfe und Verletzbarkeiten geflüchteter Frauen

Die Themen in den Chat-Verläufen zeigen welche Aspekte der Alltagsbewältigung von Austausch und Peer-Support profitieren: Informationen über muttersprachliche Angebote und Ärzt*innen in verschiedenen medizinischen Einrichtungen, Ernährung und Einkäufe, Schulalltag und Kindererziehung sowie die Navigation durch die Bürokratie des deutschen Sozial- und Gesundheitssystems und der Ausländerbehörde. Vertrauliche bilaterale Gespräche außerhalb der Gruppen-Chats und die Weitervermittlungen ins professionelle Hilfesystem geben Aufschluss über sensible Bereiche, in denen geflüchtete Frauen besonders verletzbar sind und einen besonderen Unterstützungsbedarf haben. Folgende Themen waren hier besonders relevant: rechtlicher Beistand, Ausbildungs‑/Sprach‑/Arbeitsmöglichkeiten, psychosoziale Unterstützung und Hilfe bei häuslicher Gewalt, sowie Zugang zum Gesundheitssystem.

In den Fokusgruppen haben die Peers auch ihre persönliche Situation beschrieben und biografische Brüche, abgebrochene Berufskarrieren sowie Probleme in der Vereinbarkeit von Familie und Arbeit oder Ausbildung thematisiert. So beschreibt beispielsweise TN3 ihr Leben als „sehr anstrengend“; sie fragt sich, wieso sie jetzt wieder „bei Null anfangen muss“ (TN3, FG8). Vor ihrer Flucht hatte sie im Iran studiert und in leitender Funktion bei einem Finanzunternehmen gearbeitet, nun macht sie eine Ausbildung zur Angestellten. Ganz ähnlich geht es TN4, die in Syrien IT studiert hatte und in ihrem Beruf in Deutschland nicht arbeiten kann. Auch sie muss sich neu orientieren:

„Jetzt habe ich mit einer Weiterbildung angefangen. Und ist wirklich schwer … weil ich muss immer bis 16 Uhr an den Weiterbildungen [teilnehmen]. Danach muss ich auf die Kinder aufpassen und das Haus putzen und das Essen vorbereiten. Und ich habe keine Zeit zu lernen.“ (TN4 FG8)

Auf ihre Situation als berufstätige Mutter angesprochen sagt sie: „Mir tut mein Herz weh, wenn ich an die Kinder denke“ weil sie zu wenig Zeit für ihre noch sehr jungen Kinder hat und sie bspw. nicht mehr zum Kindergarten bringen und abholen kann. Weil auch der Vater der Kinder berufstätig ist, müssen eine Nachbarin und Freund*innen aushelfen. Während sie immerhin in dieser Form auf ein soziales Netz zurückgreifen kann, sind andere Frauen isolierter und mehr auf sich allein gestellt. Hier wird die große Stärke des niedrigschwelligen Peer-Ansatzes zur Vernetzung sichtbar: es erlaubt den Frauen, in Kontakt mit anderen Frauen zu treten und neue soziale Kontakte zu knüpfen. Für die Peers ist das Engagement eine Möglichkeit, mit anderen Frauen solidarisch zu sein und sie erleben diese Möglichkeit insb. auch vor dem Hintergrund bestehender Geschlechterungleichheiten als sinnvoll, bereichernd und befriedigend:

„Es freut mich immer sehr, ich mache das mit meinem Herzen und mit diesem Gefühl, dass, ja, wenn ich ein Problem für jemanden lösen kann, das bedeutet, dass es ihr Leben verbessert, weil sie ein Problem weniger hat, besonders wenn sie eine Frau ist. Weil ich bin selbst auch Frau und ich weiß, dass die Situation nicht so einfach ist für Frauen. Männer haben vielleicht bessere Möglichkeiten oder sind offener, das in Gesellschaft vorzulassen. Aber für Frauen ist es immer schwerer.“ (TN2 FG8)

Stärken und Probleme des Peer-Ansatzes

Das Engagement für andere Frauen in einer ähnlichen Situation bringt für die Peers also auch Herausforderungen mit sich. So beschreibt ein Mitglied der Arbeitsgruppe, die Vollzeit berufstätig ist und sich in EMPOW in ihren Pausenzeiten und am Wochenende engagiert, dass sie viel Stress verspürt, oft unruhig ist und entsprechende Symptome entwickelt hat (Schlafstörungen und psychosomatisch bedingte Atemprobleme). Sie ist selbst erst vor wenigen Jahren nach Deutschland geflohen, hatte in der ersten Zeit ihrer Mitarbeit in EMPOW noch einen unsicheren Aufenthaltsstatus und fühlte sich teilweise von den Problemen „überfordert“ (TN2 FG8). Ein Thema, das allen Peers sehr nahe geht, sind Erfahrungen von häuslicher Gewalt unter geflüchteten Frauen. Dieses Thema wird in den vertraulichen Zweiergesprächen angesprochen. Die Peers unterstützen die betroffenen Frauen durch Empathie und Weitervermittlung an Beratungsstellen, Frauenhäuser, die Polizei und Rechtsanwälte, oft begleiten sie die Frauen dabei und übersetzen. Auf die Frage welche Auswirkungen die Mitarbeit bei EMPOW auf sie hatte, lautet eine differenzierte Antwort eines Mitglieds der Arbeitsgruppe, dass sie lernen musste, emotional Distanz zu wahren:

„Am Anfang waren die Auswirkungen nicht immer positiv, sondern eher negativ und belastend für mich. Besonders als Person mit eigener Fluchterfahrung, die selbst noch keine Anerkennung hatte, war es schwierig, persönliche Grenzen zu setzen. Schließlich habe ich gelernt, meine Energie darauf zu konzentrieren, den Frauen zu helfen, ohne mich zu stark in ihre Probleme zu involvieren. … Es gab jedoch auch schöne Momente, wenn die Frauen, die ich unterstützt habe, von ihren Fortschritten und Erfolgen erzählten. Zum Beispiel eine Frau, die ich lange Zeit durch dieses Projekt unterstützt habe, war Opfer von Gewalt, aber sie hat es geschafft, für ihre Rechte zu kämpfen, Deutsch bis zum Niveau C1 zu lernen. Und jetzt macht sie eine Ausbildung … [und hat] ihre Aufenthaltserlaubnis erhalten.“ (TN2 FG8)

Aus Sicht der Peers hat das EMPOW-Projekt es ermöglicht, dass geflüchtete Frauen sich untereinander unterstützen. Durch ihre Peer-Tätigkeit haben die Peers auch selbst dazu gewonnen (z. B. sich zuzutrauen, mit Frauen zu sprechen, Videos zu drehen, Gesundheitsinformationen zu recherchieren usw.). Auch für den beteiligten Praxispartner generierte die Zusammenarbeit einen Nutzen. Die Arbeit der Peers ermöglichte es ihm, die Problem- und Defizitorientierung des professionellen Hilfesystems zu überwinden und neben den Problemen aus Sicht der geflüchteten Frauen auch deren Ressourcen stärker wahrzunehmen. Dabei wurde aber auch deutlich, dass diese Arbeit auch sehr herausfordernd sein kann und entsprechend unterstützt werden muss: nicht nur finanziell, sondern auch durch psychosoziale Unterstützung, Supervisionsmöglichkeiten und eine gute Vernetzung der Peers mit dem professionellen Hilfesystem, um Weitervermittlungen zu erleichtern.

Diskussion

Das Peer-Projekt von und mit geflüchteten Frauen im Rahmen von EMPOW Hannover zeigt deutlich, dass Empowerment und Vulnerabilität sich nicht ausschließen. Verletzbarkeit und Selbstermächtigung stellen keine Gegensätze dar, sondern bedingen sich gegenseitig. Statt homogenisierende Zuschreibungen von Hilflosigkeit an Gruppen vorzunehmen, und diese Hilflosigkeit als vermeintlich ‚natürliche‘ (essentielle) Eigenschaft der Gruppen darzustellen, verstehen neuere Konzepte von Vulnerabilität ‚Verletzbarkeit‘ als eine universelle und konstante Bedingung allen menschlichen Lebens (d. h. alle Menschen sind prinzipiell verletzbar; [6]). Diese allgemeine Verletzbarkeit wird in bestimmten Situationen z. B. durch soziale, politische oder ökologische Faktoren verstärkt (z. B. verstärken die Lagerbedingungen an den Außengrenzen der EU die Verletzbarkeit der dort untergebrachten Personen; [17]). Die Flucht selbst kann sowohl verletzbar machen als auch Möglichkeitsräume für Handlungsmacht und Selbstbestimmung eröffnen. Vulnerabilität kann in diesem Sinne auch eine Grundlage für kollektives Handeln und politischen Widerstand sein [3]. Das heißt, Empowerment, verstanden als individuelle und kollektive Selbstermächtigung [20], ist auch in Situationen ausgeprägter Vulnerabilität möglich. Das ist auch bei geflüchteten Frauen der Fall – dies zeigen sowohl andere Studien [16] als auch das vorliegende Projekt. Die Vulnerabilität der geflüchteten Frauen stellt bei EMPOW Hannover die Grundlage für Prozesse der Solidarisierung, Vernetzung und Selbstorganisation dar, die als Empowerment verstanden werden können und wiederum stärkende Effekte haben. Gender fungierte dabei als wichtiges strukturierendes Prinzip für soziale Beziehungen, um „sicheren Räume“ zu eröffnen, auch über häusliche Gewalt und andere geschlechtsbezogenen Probleme zu sprechen und Unterstützung sowohl zu leisten als auch zu bekommen. Gleichzeitig verstärken diese Prozesse der gegenseitigen Unterstützung wiederum die Vulnerabilität der Peers, die selbst von Fluchterfahrungen und sozioökonomischer Benachteiligung betroffen sind.

Die strukturelle Benachteiligung, die Ausgangspunkt für das Engagement der Peers ist, kann durch ihr Engagement nicht aufgehoben werden. Sie kann nur punktuell gelindert werden, und die damit verbundene Arbeit belastet die ohnehin schon beanspruchten Peers. Dies wirft ethische Fragen auf: Inwiefern sind die Belastungen für Peers, die selbst geflüchtet sind, zumutbar? Und wer entscheidet darüber? Im EMPOW-Projekt wurden die Belastungen von den Peers selbst artikuliert und im Rahmen ihrer lokalen Arbeitsgruppe sowie in der AG Ethik mit weiteren beteiligten Partner*innen reflexiv bearbeitet. Dabei wurde von ihnen positiv hervorgehoben, dass sie auch für diese Zeit finanziell entschädigt wurden. Zusätzlich bestand die Möglichkeit, ein externe Supervision in Anspruch zu nehmen, was jedoch nicht erfolgte, u. a. weil das Konzept und die Praxis der Supervision noch wenig bekannt waren und die engmaschige gegenseitige Unterstützung der Peers in der Arbeitsgruppe von diesen als ausreichend eingeschätzt wurde. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie wichtig es ist, Peer-Arbeit angemessen zu unterstützen, sowohl finanziell als auch in fachlicher und psychosozialer Hinsicht, denn das Engagement für die eigene Community erfordert immer auch emotionale Arbeit und ethische Reflexivität [7, 10, 13].

Die Ergebnisse bestätigen zudem die Wichtigkeit von sozialer Unterstützung für die Gesundheit von Frauen nach der Flucht [11]. Es gibt jedoch auch Limitationen. Im Unterschied zu einer partizipativen Studie mit Migrantinnen in Schweden [18] wurden in EMPOW Hannover chronische Schmerzen und psychische Erkrankungen weniger stark thematisiert. Dies ist möglicherweise ein Effekt der verwendeten Methoden: Während die Story-Dialog-Methode, die in der schwedischen Studie angewandt wurde, viel Raum für biografische Narrationen einzelner Frauen bietet, war dafür in den Chat-Gruppen von EMPOW Hannover (und auch in den Fokusgruppen mit den Peers) weniger Raum. Die Beiträge waren kürzer und fokussierten stärker auf die gegenseitige Unterstützung in der Bewältigung von Alltagsproblemen.

Eine herausragende Stärke des Peer-Ansatzes bei Frauen nach der Flucht besteht in der Eröffnung von niedrigschwelligen, muttersprachlichen Möglichkeiten, Unterstützung und Hilfe zu finden. Geflüchtete Frauen, die von Gewalt betroffen sind, wissen oft nicht, wohin sie sich wenden können, welche Rechte sie haben oder welche Konsequenzen es hat (für sie und ihre Familien), in der prekären Situation nach der Flucht, Hilfe zu suchen [2, 15]. Hier können die Peers eine entscheidende Unterstützung leisten.

Fazit für die Praxis

  • Peer-Ansätze der Gesundheitsförderung sind bei Frauen nach der Flucht empfehlenswert, da muttersprachliche Kontakte und soziale, gender-basierte Unterstützung bei der Bewältigung der Herausforderungen des neuen „Alltags“ helfen.

  • Peer-Ansätze sind insbesondere für den Zugang zum Gesundheits- und Sozialsystem und im Hinblick auf dem Umgang mit gender-basierter Gewalt für geflüchtete Frauen wertvoll.

  • Peers benötigen ausreichende Unterstützung und finanzielle Aufwandsentschädigung, um diese Arbeit leisten zu können.

  • Die Peers benötigen angemessene Kenntnisse und fachliche Unterstützung, um geflüchtete Frauen bei Bedarf in das professionelle Hilfesystem weiter zu vermitteln.