Evidenzbasierte Leitlinien sollen Ärzt*innen helfen, das Versorgungsgeschehen effektiver, wissenschaftsorientierter und strukturierter zu gestalten. Insbesondere Allgemeinmediziner*innen, die mit einer stark unselektierten Patient*innenklientel zu tun haben, können hiervon profitieren. Eine Mixed-methods-Studie hat untersucht, wie Hausärzt*innen auf Leitlinien blicken, welche Erfahrungen sie mit ihnen gemacht haben und inwieweit Implementierungshürden bestehen.

Evidenzbasierte Leitlinien stellen ein wichtiges Instrument dar, um medizinische Versorgung effektiv, praktikabel und evidenzorientiert ablaufen zu lassen [5, 22, 28]. Als institutionell konsertierte und kuratierte Regelwerke, wie sie insbesondere von großen Fachgesellschaften herausgegeben werden, fassen sie vorhandenes Wissen zusammen und übersetzen dieses in symptom- bzw. krankheitsspezifische Empfehlungen. Auf diese Weise sollen Ärzt*innen bei der Entscheidungsfindung für eine angemessene Diagnostik bzw. Behandlung wirksam unterstützt werden [14, 31, 32].

Da gerade Hausärzt*innen in der Rolle von ambulanten Primärversorger*innen mit einer großen Bandbreite an Symptomen und Krankheitsbildern konfrontiert sind [12], besteht ein natürlicher Bedarf nach systematischen Hilfsinstrumenten zur schrittweisen diagnostischen Abklärung, zum Monitoring von Erkrankungen oder zum Krankheitsmanagement [13, 25]. Zudem können Leitlinien einen Beitrag zu einer besser organisierten interdisziplinären Zusammenarbeit mit anderen Versorgungsebenen und damit zu einer optimierten Weiterversorgung von Patient*innen leisten [18, 22, 33]. In Deutschland entwickelt die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) seit mehr als 20 Jahren evidenzbasierte Leitlinien für das Primärversorgungssetting [2]. Eine Besonderheit ist dabei, dass praktizierende Hausärzt*innen konsequent im Entwicklungs- und Erprobungsprozess beteiligt werden, um eine möglichst große Anwendungsnähe zu gewährleisten [27].

Internationale Studien haben Hinweise darauf geliefert, dass gerade aus der Gruppe der Hausärzt*innen lange Zeit über Skepsis und Kritik an Leitlinien artikuliert wurde [19]. Diese distanzierte Haltung kann auf Befürchtungen vor einer Kompromittierung ärztlicher Handlungsmöglichkeiten und eingespielter Praxisabläufe begründet werden, ebenfalls mit einer Sorge vor einer zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens [8,9,10, 15, 17, 29]. Ein weiterer Aspekt, zu dem quantitative und qualitative Arbeiten im europäischen, kanadischen und US-amerikanischen Ausland eher skeptische Haltungen von Hausärzt*innen ermittelt haben, sind medikamentöse Empfehlungen in Leitlinien [1, 11, 17]. Diese sind nach Erfahrung der befragten Ärzt*innen häufig unangemessen und gehen mit beträchtlichen Nebenwirkungen einher (z. B. wenn es um die Therapie demenzieller Erkrankungen geht). Ferner besteht ärzteseitig die Sorge, evidenzbasierte Leitlinien könnten zu einer Überbeanspruchung der Hausarztmedizin führen, weil aufwendige Diagnose- und Therapieverfahren nahegelegt werden [4].

Ähnlich wie die angesprochenen internationalen Arbeiten liefern vereinzelt vorliegende ältere Untersuchungen unter Hausärzt*innen in Deutschland Hinweise darauf, dass diese Leitlinien oftmals eher zurückhaltend begegnen und seltener über fundierte Kenntnisse selbiger verfügen [7]. Als Ursache wird angeführt, dass Leitlinien teilweise als anwendungsfern sowie als Eingriff in die Therapiefreiheit erlebt werden [20, 22, 28]. Auch bestehen Hinweise darauf, dass Hausärzt*innen externe Evidenz aus klinischer Forschung gelegentlich im Widerspruch zur ‚gelebten Anamnese‘ im unmittelbaren Patient*innengespräch (Erfahrungswerte, Behandlungsverständnis) sehen [6, 21, 24, 33]. Gerade für den deutschsprachigen Raum fehlt es entsprechend an aktuellen und belastbaren Studien, die ein breites Bild bereitstellen, welche Einstellungen Hausärzt*innen in Bezug auf Leitlinien vertreten, wie stark sie sich an ihnen orientieren und unter welchen Voraussetzungen eine Implementierung ins Auge gefasst wird [20, 28].

Ziel der explorativen Arbeit war es, ein breites Bild über hausärztliche Haltungen und Nutzungshorizonte in Bezug auf evidenzbasierte Leitlinien zu gewinnen (v. a. S2e/S3-Leitlinien). Das Erkenntnisinteresse lässt sich anhand der folgenden Fragen zusammenfassen:

  • Welche Einstellungen vertreten Hausärzt*innen in Bezug auf Leitlinien?

  • Welche Erwartungen stellen sie an Leitlinien?

  • Welche Anwendungserfahrungen wurden mit ihnen gemacht?

  • Wie müssten Leitlinien verbessert werden, damit diese in Zukunft an Attraktivität für Hausärzt*innen gewinnen?

Methodik

Studiendesign und Erhebungsinstrumente

Die Wahl fiel zum einen auf eine quantitative Online-Befragung von Hausärzt*innen mit schriftlich-postalischem Anschreiben, zum anderen – zwecks Flankierung und Vertiefung der Thematik – auf qualitative, halbstandardisierte Interviews.

Quantitative Befragung: In den Entwicklungsprozess des Fragebogens (s. Anhang I) flossen verschiedene Elemente ein:

  • Ergebnisse einer vorangegangenen Gruppendiskussion mit insgesamt 10 Hausärzt*innen zum Thema Arbeit mit Leitlinien,

  • Fundierung auf einschlägigen Vorstudien der Autoren zum Einsatz evidenzbasierter Instrumente und Verfahren im hausärztlichen Setting [30, 31],

  • Durchführung einer Literaturrecherche, in deren Folge mehrere Arbeiten für den Entwicklungsprozess aufgegriffen wurden (v. a. [20, 28])

Die inhaltlichen Blöcke, die der Fragebogen behandelt, decken sich mit den aufgeführten Fragestellungen. Als soziodemografische Merkmale wurden Alter, Geschlecht, Praxisumgebung, Praxisform und Patient*innen pro Quartal erhoben. Vor dem Feldeinsatz wurde ein Pretest mit 20 Hausärzt*innen durchgeführt.

Qualitative Befragung: Der Leitfaden für die halbstandardisierten Interviews mit Hausärzt*innen (s. Anhang II) wurde bewusst an die im Zentrum stehende quantitative Befragung angelehnt, wobei hier entsprechend offene Fragen formuliert wurden. Dabei liegt der Fokus auf hausärztlichen Erfahrungswerten in Bezug auf Leitlinien (u. a. Auswirkungen auf die Versorgung, Implementierungshürden und -voraussetzungen).

Rekrutierung und Durchführung

Quantitative Befragung: Die Befragung wurde zwischen Februar und Juli 2022 in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz durchgeführt. Auf schriftlich-postalischem Weg zur Teilnahme an der anonymisierten Befragung eingeladen wurden sämtliche 12.993 aktiven Hausärzt*innen in den genannten Bundesländern. Es handelte sich um ein einmaliges Anschreiben, in dem die zu befragenden Ärzt*innen u. a. einen passwortgeschützten Zugang zur Online-Befragung mitgeteilt bekamen (keine Incentives).

Qualitative Befragung: Gemäß einer z. T. entlang der repräsentativen Verteilung verlaufenden Quotierung wurde für das Bundesland Rheinland-Pfalz mittels öffentlich einsehbarem KV-Arztfinder ein Pool von 143 Kontaktadressen hausärztlicher Praxen erstellt. Sämtliche Praxen wurden im Zuge der Rekrutierungsbemühen auf elektronischem oder telefonischem Weg kontaktiert. Die Autoren erhielten 26 Absagen, 97 Kontaktversuche blieben ohne (rechtzeitige) Antwort. Letztlich geführt wurden 20 Interviews (Dauer: 20 bis 45 min).

Datenanalyse

Quantitative Befragung: Die Daten wurden mittels SPSS 23.0 für Windows ausgewertet. Zur Feststellung von signifikanten Unterschieden zwischen zwei Gruppen kam ein t‑Test bei unabhängigen Stichproben zum Einsatz (p < 0,001). Zudem wurde auf das Verfahren der Faktorenanalyse (Varimax-Rotation) zurückgegriffen, bei der Variablen aufgrund systematischer Korrelationen untereinander zu Faktoren zusammengefasst werden [16]. Im Vorfeld wurden die Voraussetzungen hierfür geprüft (Stichprobeneignung nach Kaiser-Meyer-Olkin, signifikantes Ergebnis beim Bartlett-Test auf Sphärizität, Kommunalitäten aller eingeschlossenen Variablen über Grenzwert 0,5). Als Grenze, ab der ein Item auf einen Faktor lädt, wurde der Wert 0,4/−0,4 gewählt.

Qualitative Befragung: Die im Anschluss an die Datenerhebung erstellten Transkripte wurden vom Zweitautor mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring [31] ausgewertet (MAXQDA). Das generierte Kategoriensystem orientierte sich eng am Leitfaden und wurde mit Fortgang der Auswertung wiederholt geprüft und ggf. modifiziert.

Ergebnisse

Stichprobe

Von den 4588 bearbeiteten Fragebögen gingen 4538 vollständig ausgefüllte Bögen in die Auswertung ein (Rücklauf: 35 %). Die Stichprobe ist wie folgt strukturiert:

  • Geschlecht: 53 % männlich, 47 % weiblich,

  • Durchschnittsalter: 52 (Median: 54) Jahre,

  • Praxisumgebung: 52 % mittel- und großstädtisch, 48 % ländlich-kleinstädtisch,

  • Praxisform: 57 % Einzelpraxen, 41 % Gemeinschaftspraxen, 2 % Sonstige.

Das gewonnene Sample für die qualitativen Interviews setzt sich wie folgt zusammen:

  • Geschlecht: 12 männlich, 8 weiblich,

  • Durchschnittsalter: 48 (Median: 47) Jahre,

  • Praxisumgebung: 11 mittel- und großstädtisch, 9 ländlich-kleinstädtisch,

  • Praxisform: 12 Einzelpraxis, 5 Gemeinschaftspraxis, 3 Sonstige,

  • Status: 17 Praxisinhaber, 3 angestellte Ärzt*innen.

Einstellungen in Bezug auf Leitlinien

Quantitative Befunde: 58 % der Befragten bekunden, Leitlinien gegenüber (sehr) positiv eingestellt zu sein; 36 % bringen eine (eher) negative Einstellung zum Ausdruck (6 % schwer zu sagen). Nach Ansicht bzw. Erfahrung von 50 % ist der allgemeine Nutzen von Leitlinien (sehr) groß, während 37 % einen eher geringen oder sehr geringen Nutzen sehen (8 % kein Nutzen, 5 % keine Angabe). Während 79 % der Ärzt*innen mit mittel- und großstädtischem Praxisstandort Leitlinien (sehr) positiv wahrnehmen, sind dies bei Ärzt*innen in Kleinstädten und Landgemeinden 33 % (p < 0,001). Analog sehen 76 % der urbanen Ärzt*innen einen (sehr) großen Nutzen von Leitlinien, wohingegen es bei Landärzt*innen 34 % sind (p < 0,001).

Insgesamt 70 % erachten Leitlinien als hilfreich, eine verstärkte Evidenzorientierung zu gewährleisten und zeitgemäßes medizinisches Wissen anzuwenden. 64 % befürworten Leitlinien mit dem Ziel einer Vereinheitlichung von Diagnose- und Behandlungsstandards. 55 % sehen Leitlinien als nützlich an, um Über‑, Unter- und Fehlversorgung abzubauen. Eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Versorgungsebenen nehmen 40 % wahr.

Die Befragten assoziierten Leitlinien mit Anwendungsvorteilen wie besserer Strukturierung und Effizienzsteigerung von Diagnosen und/oder Therapien (vgl. Tab. 1). Zugleich wird ihre Vereinbarkeit mit Praxisabläufen nicht immer als reibungslos erlebt. Eine große Minderheit befürchtet, dass Leitlinien zu einer Einschränkung ärztlicher Handlungsmöglichkeiten führen könnten. Bei diesem Item besteht ein erheblicher Unterschied zwischen Ärzt*innen in städtischen (26 %) und ländlichen Praxen (66 %, p < 0,001).

Tab. 1 Einstellungsbezogene Aussagen zu Leitlinien. Fragewortlaut: „Welchen der folgenden Aussagen stimmen Sie zu?“ (N = 4538)

Qualitative Befunde: Die Mehrheit der interviewten Ärzt*innen steht positiv zu Leitlinien und betrachtet diese als verlässliche Orientierungshilfen. Abseits der Vorteile für Therapie- und Patient*innensicherheit und der Berücksichtigung aktuellen Wissens heben viele Interviewte die vermutete Rechtssicherheit positiv hervor. Soweit eine Orientierung an Empfehlungen etablierter, geprüfter Leitlinien erfolge, könne man sich auf formaljuristischer Ebene keine Fehlentscheidungen vorwerfen lassen.

„Der Patient profitiert von einer effektiven Behandlung, während der Arzt schneller, sicherer und rechtssicher handeln kann.“ (M4217A-A)

Indes sind viele Interviewte der Ansicht, dass die Integration von Leitlinien in den hausärztlichen Praxisalltag häufig konfliktär sei. So sei es oft nicht möglich, eine Leitlinie starr zu befolgen, da die individualmedizinische Versorgung hiermit kollidiere. Zugleich fehlten bei krankheitsspezifischen Leitlinien nicht selten übergeordnete Zusammenhänge, was eine Übertragbarkeit auf die hausärztliche Patient*innenklientel erschwere.

„Es ist so, dass es an der Realität ein bisschen vorbeigeht. Also, dass man dann einen Kompromiss finden muss zwischen dem, was die Leitlinie sagt … und dem, was praktisch für den Patienten machbar ist.“ (W3913M-I)

Nutzung von Leitlinien, Erfahrungen und Implementierungshürden

Quantitative Befunde: 36 % geben an, dass sie Leitlinien häufig anwenden; weitere 26 % wenden diese gelegentlich und 28 % eher selten an (10 % nie). Hauptsächlich werden Leitlinien in Situationen eingesetzt, in denen ein Verdachtsfall besteht (58 % häufige bzw. gelegentliche Anwendung), bei der Erstdiagnose (61 % häufige bzw. gelegentliche Anwendung), bei Therapie bzw. Krankheitsmanagement (56 % häufige bzw. gelegentliche Anwendung) sowie zur Verlaufskontrolle (45 % häufige bzw. gelegentliche Anwendung).

Unter Ärzt*innen, die Leitlinien häufig, gelegentlich oder selten einsetzen, bilanzieren 67 %, die Anwendung der von ihnen genutzten Leitlinien habe sich insgesamt (sehr) positiv auf die Versorgungs- und Behandlungsqualität ausgewirkt (23 % eher negativ, 10 % keine Angabe). Dabei fallen erneut Unterschiede zwischen urbanen (79 % positiv) und ländlichen Praxisstandorten (49 % positiv) auf (p < 0,001).

Es bekunden 68 %, durch die Anwendung von Leitlinien die eigenen diagnostischen bzw. therapeutischen Kompetenzen verbessert zu haben. 62 % richten sich bei der medikamentösen Therapie bevorzugt nach Leitlinien-Empfehlungen. 54 % halten die Anwendung von Leitlinien in der Versorgungspraxis für unverzichtbar. Für 66 % bringen Leitlinien mehr Vorteile als Nachteile.

Trotz dieser mehrheitlich positiven Erfahrungswerte geben 45 % der Befragten an, aufgrund der Anwendung von Leitlinien häufig oder gelegentlich im Praxisalltag Einschränkungen bzw. Komplikationen erlebt zu haben. Ärzt*innen, die grundsätzlich skeptisch in Bezug auf Leitlinien eingestellt sind, geben dies mit 81 % mehr als 3‑mal häufiger an als positiv eingestellte Ärzt*innen (23 %; p < 0,001).

Qualitative Befunde: Auch in den Interviews gibt eine Mehrheit an, die eigene Arbeit regelmäßig oder zumindest gelegentlich an Leitlinien auszurichten. Generell beobachteten die befragten Ärzt*innen vorwiegend Vorteile in der Versorgung. Viele Befragte geben indes an, dass in der Praxis zumeist keine starre Leitlinientreue entstehe, sondern eher eine Mischung aus Evidenz, subjektiver Erfahrung und der flexiblen Anpassung an Patient*innenbedürfnisse.

Das meistgenannte Hindernis zur Umsetzung evidenzbasierter Leitlinien ist deren oftmals hohe Komplexität und Detailliertheit sowie die mangelnde Verfügbarkeit kompakter Kurzversionen. Auch liege verbreitet eine mangelnde Praxistauglichkeit im Alltag vor, da Hausärzt*innen nicht nur streng medizinische Aufgaben, sondern auch beratende und psychosoziale Fürsorge ihrer langjährigen Patient*innen übernehmen. Ferner unterliegen gerade ältere, multimorbide Menschen angesichts verbreitet anzutreffender Polypharmazie bei gleichen Symptomen einem anderen Behandlungsregime als jüngere Patient*innen.

Viele Interviewte monieren überdies, dass vollständige Leitlinientreue oftmals mit den Wirtschaftlichkeitserfordernissen des Gesundheitssystems kollidiere und daher kaum befolgt werden könne. Es wird berichtet, dass die kassenärztlichen Restriktionen sich häufig nur unzureichend mit den Empfehlungen der Leitlinien decken.

„Wenn ich alles streng nach Leitlinien machen würde, bin ich mir sicher, hätte ich ständig einen Regress von der KV.“ (W6136M-A)

Klar positiv fallen die Erfahrungen der Interviewten mit den meisten DEGAM-Leitlinien aus, da diese wirtschaftlich umsetzbar und am besten an den hausärztlichen Alltag angepasst seien.

Erwartungen an Leitlinien und Implementierungsvoraussetzungen

Quantitative Befunde: Die Befragten formulieren verschiedene Anforderungen an die Beschaffenheit von Leitlinien, damit die Anwendung für sie in Frage kommt.

Neben dem Ausschluss von Haftungsrisiken wird besonderer Wert auf die Anwendungsfreundlichkeit gelegt. Dazu gehört v. a. ein komplexitätsreduzierender Algorithmus, der bei diagnostischen und therapeutischen Fragestellungen als Entscheidungsmaßstab dient. Eine wichtige Voraussetzung für viele Befragte ist die Einbeziehung von Hausärzt*innen in die Leitlinienentwicklung (vgl. Tab. 2).

Tab. 2 Anforderungen an Leitlinien. Fragewortlaut: „Was muss eine gute Leitlinie aus Ihrer Sicht bieten, damit die Anwendung einer solchen für Sie in Frage kommt?“ (N = 4538)

Wie eine Faktorenanalyse zeigt, lassen sich die Erwartungen und Wünsche der Befragten in Bezug auf die von Leitlinien zu erfüllenden Voraussetzungen vier unterschiedlich großen Clustern zuordnen. Während in den ersten beiden Clustern v. a. die Anwendungsnähe und hausarztkonforme Praktikabilität von Leitlinien betont werden, werden in den übrigen Clustern spezifische Eigenschaften von Leitlinien (z. B. Delegationsvorschläge, Kompatibilität mit Fortbildungsformaten) hervorgehoben. Auch wird als Bedingung für eine Leitlinienimplementierung erwartet, dass es sich um einen besonders hohen Qualitäts- bzw. Evidenzstandard (S3-Typ) handelt.

Für die ärztliche Bereitschaft, Leitlinien aufzugreifen spielt es eine große Rolle, dass es sich um unter Einbindung von Hausärzt*innen entstandene Leitlinien handelt [1, 12, 24]. Die meisten Befragten legen entsprechend Wert darauf, dass Leitlinien genuin von der DEGAM erarbeitet wurden. Unter dieser Voraussetzung geben Zweidrittel (68 %) an, Leitlinien bevorzugt anzuwenden. Erheblich größer ist hingegen die Zurückhaltung bei anderen Fachgesellschaften.

Qualitative Befunde: Den Interviewten kommt es darauf an, dass Leitlinien im Praxisalltag schnell und unkompliziert anwendbar sind. Ebenfalls gefordert werden hohe Praktikabilität und Praxisrelevanz, um eine Leitlinie implementieren zu können. Gerade Leitlinien fachfremder Fachgesellschaften berücksichtigten die außerklinischen Bedürfnisse nicht zureichend, was teils schwerwiegende Probleme bei der Umsetzung nach sich ziehe.

Eine weitere häufig genannte Voraussetzung betrifft das Angebot an adäquaten und aktuellen Fortbildungen. Ohne eine breitflächige Schulung von Hausärzt*innen, spezifische Leitlinien in ihren Praxisalltag zu integrieren, mache es wenig Sinn, dies auf eigene Faust auszuprobieren.

Optimierungsansätze

Quantitative Befunde: Zur weiteren Optimierung hausarztbasierter Leitlinien wird allem voran eine stärkere Berücksichtigung nicht-medikamentöser Alternativen bei der Leitlinienentwicklung gewünscht (49 %), gefolgt von einer stärkeren Auseinandersetzung mit Fragen der Lebensqualität (47 %), einer vergleichenden Betrachtung verschiedener Therapieoptionen (38 %) und der Einbeziehung alternativer Medizin (33 %).

Bei Umsetzung der gewünschten Verbesserungen können sich 20 % künftig eine deutlich stärkere Nutzung von Leitlinien vorstellen, während 56 % eine etwas stärkere Anwendung selbiger erwägen.

Qualitative Befunde: In Zukunft wünschen sich die Interviewten Leitlinien, welche klare, rechtssichere Optionen für die Delegation ärztlicher Aufgaben an nicht-ärztliches Personal regeln.

„Es ist meist unmöglich, alle Punkte in Leitlinien selbst abzuarbeiten. Da müssen einige Teile rechtssicher delegierbar sein.“ (M5733EA-AI)

Auch in den Interviews taucht die Forderung nach einer stärkeren Betonung von nicht-medikamentösen Behandlungsansätzen wie z. B. Bewegungstherapie verbreutet auf. Die Hälfte der interviewten Ärzt*innen gibt an, dass Leitlinien wirtschaftlich und von sämtlichen Kostenträgern verbindlich anerkannt sein müssten. Ansonsten würden Hausärzt*innen dafür bestraft, dass sie evidenzbasierten Empfehlungen folgen, indem ggf. sogar Regresszahlungen auf sie zukämen.

Auch sollte die Allgemeinmedizin generell stärker in interdisziplinären Leitlinienkommissionen vertreten sein, um Praxisnähe und Implementierbarkeit besser zu gewährleisten.

Diskussion

Zusammenfassung und Befunde anderer Arbeiten

Die kombinierte Befragung hat gezeigt, dass Hausärzt*innen Leitlinien als bedeutende Instrumente der Entscheidungshilfe ansehen und diese mit mehr Evidenzorientierung, Strukturierung und Effektivität in der Versorgung assoziieren. Wo Leitlinien genutzt werden, fällt die Beurteilung selbiger noch positiver aus. Eine Mehrheit der Befragten gibt an, durch Leitlinienanwendung die eigenen diagnostischen bzw. therapeutischen Fähigkeiten ausgebaut zu haben und auf Leitlinien nicht mehr verzichten zu wollen. Besonders wichtig ist den Befragten, dass Leitlinien leicht anzuwenden und rechtlich abgesichert sind; auch eine eingängige und anschauliche Gestaltung sowie die Berücksichtigung wirtschaftlicher Erfordernisse sowie der Gebührenordnung werden betont. Dennoch zeigen sich auch Vorbehalte und Kritik. So gehen viele Hausärzt*innen davon aus, dass Leitlinien im strengen Sinne kaum auf den hausärztlichen Praxisalltag übertragbar sind. Auch werden Leitlinien oft als schwer mit den Praxisabläufen vereinbar erlebt.

Damit fügen sich die Resultate im Wesentlichen in das Bild nationaler und internationaler Forschungsarbeiten, die eine kritisch-distanzierte Grundhaltung niedergelassener Mediziner*innen gegenüber Leitlinien festgestellt haben [1, 6,7,8,9,10,11, 15, 17, 19, 21, 22, 24, 27, 29, 33]. Allerdings reflektieren die Ergebnisse eine im Vergleich zu älteren Arbeiten erkennbar gewachsene Akzeptanz, Kenntnis und Verwendung von Leitlinien unter Hausärzt*innen. Diesbezüglich decken sich die Resultate mit einer jüngeren Studie zu hausärztlichen Einstellungen und Erfahrungen in Bezug auf Disease-management-Programme, die klar positiv ausfallen [30]. Viele Hausärzt*innen basieren ihre Arbeit heute in stärkerem Maße auf standardisierten, evidenzorientierten Interventionen [3, 27].Überdies konnte festgestellt werden, dass für die ärztliche Bereitschaft, Leitlinien aufzugreifen, von Bedeutung ist, dass es sich um unter Einbindung von Hausärzt*innen entstandene Leitlinien handelt [20, 27, 28].

Die Befunde bestätigen die Forderungen, die in allgemeinmedizinischen Expertisen seit geraumer Zeit erhoben werden. Dazu gehört etwa die Sicherstellung einer einfachen Anwendbarkeit sowie eine Übersichtlichkeit und Komplexitätsreduktion von Leitlinien, die über reine Kurzfassungen hinausgeht (z. B. stärkere Arbeit mit Visualisierungen und Algorithmen; [23]). Auch sollte sichergestellt werden, dass Leitlinien Handlungsspielräume für Hausärzt*innen erhalten und betonen, um praxisnahe Lösungen möglich zu machen. Leitlinien sollten, wo sinnvoll, Möglichkeiten der Delegation innerhalb des Praxisteams aufzeigen, um Ärzt*innen zu entlasten und die Anwendung zu effektivieren [26]. Bei der Konzeption interdisziplinärer Leitlinien sollten Hausärzt*innen noch stärker einbezogen werden.

Stärken und Schwächen

Die Befragung war durch eine vorhergehende Diskussion abgestützt und erzielte einen vergleichsweise großen Rücklauf. Dennoch weist sie eine Reihe von Limitationen auf, die kritisch reflektiert werden müssen. So kann die Studie keinen repräsentativen Anspruch erheben. Dies hängt zum einen mit der regionalen Rekrutierung zusammen, zum anderen mit dem Umstand, dass es sich um eine Online-Befragung handelte, die selbstselektive Stichproben begünstigt. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass Ärzt*innen mit thematischem Interesse oder positiven Vorerfahrungen mit Leitlinien in stärkerem Maße teilgenommen haben, sodass auch diesbezüglich ein Selektionsbias vorliegen könnte.

Schlussfolgerungen

Wie eruiert werden konnte, sehen viele Hausärzt*innen einen beträchtlichen Nutzen von Leitlinien, um die Patient*innenversorgung gezielt zu verbessern. Allerdings verläuft die positive Wahrnehmung und Anwendungsbereitschaft erkennbar stärker aufseiten von urbanen Ärzt*innen. Um die Attraktivität von Leitlinien für die Hausarztmedizin weiter zu fördern, erscheint es sinnvoll, Erwartungen von Allgemeinmediziner*innen an die von Leitlinien zu erbringenden Leistungen in möglichst umfassender Weise zu adressieren.

Fazit für die Praxis

  • Evidenzbasierte Leitlinien sollen Ärzt*innen helfen, das Versorgungsgeschehen effektiver, wissenschaftsorientierter und strukturierter zu gestalten.

  • Hausärzt*innen verbinden Leitlinien mit einem klaren Mehrwert für die Versorgung. Ärzt*innen, die Leitlinien selbst aktiv nutzen, haben verbreitet positive Effekte bei der Versorgungsqualität sowie einen Ausbau eigener Kompetenzen erlebt.

  • Damit die hausärztliche Bereitschaft zur Orientierung an evidenzbasierten Leitlinien weiter steigt, sollten diese praxisnah, wirtschaftlichkeits- und rechtskonform sein sowie ärztliche Handlungsspielräume betonen.