Hintergrund und Fragestellung

Die myalgische Enzephalomyelitis/das chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung mit vielfältiger Symptomatik, die oft zu einem hohen Grad an körperlicher Behinderung sowie einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität führt [16, 51, 55] und für die es bislang keine kausale Therapie gibt [3, 15, 45, 56]. Die Zahl der ME/CFS-Kranken in Deutschland wird auf mehr als 300.000 geschätzt [19]. Eine aktuelle US-Studie geht von einer Prävalenz von 0,42 % aus [23]. Frauen sind mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer [27]. Typisch ist ein chronischer Krankheitsverlauf mit einer in Art und Intensität fluktuierenden Symptomatik [13, 22, 46]. Es gibt Anzeichen für eine eingeschränkte Lebenserwartung [31] und ein erhöhtes Suizidrisiko [24].

Der Erkrankung liegt eine Dysregulation des Immunsystems, des Nervensystems und des zellulären Energiestoffwechsels zugrunde, auch wurden Probleme beim zellulären Ionentransport festgestellt [9, 12, 17, 18, 33, 38, 50, 53, 56]. ME/CFS tritt meist nach einer Infektionskrankheit auf [19, 21, 39]. Kennzeichnend ist die Post-Exertional Malaise (PEM), eine ausgeprägte und anhaltende Verstärkung aller Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung [2, 47]. Die PEM geht mit einer hochgradigen physischen und psychischen Kraft- und Energielosigkeit, mit Muskelschmerzen, grippalen Symptomen und einer rapiden Verschlechterung des Allgemeinzustands einher. Sie tritt in der Regel bereits nach geringen Belastungen auf. Weitere typische ME/CFS-Symptome sind Herzrasen, Schwindel, Blutdruckschwankungen und eine erhöhte Infektanfälligkeit. Aber auch ausgeprägte Muskel‑, Gelenk- und Kopfschmerzen, Muskelkrämpfe, massive Schlafstörungen, neurokognitive Symptome, Temperaturregulationsstörungen und eine Überempfindlichkeit auf Sinnesreize sowie ausgeprägte Überempfindlichkeiten bei Nahrungsmitteln und chemischen Substanzen kommen häufig vor [26]. Man schätzt, dass etwa ein Viertel der ME/CFS-Erkrankten das Haus aufgrund der Schwere der Symptomatik nicht mehr verlassen kann. Mehr als 60 % sind arbeitsunfähig [4].

Obwohl es bereits seit langem internationale Konsensuskriterien für die Diagnose der ME/CFS gibt [11, 12], ist die Krankheit noch immer sehr vielen Ärzt:innen in Deutschland unbekannt oder wird als psychosomatische/psychiatrische Erkrankung fehldiagnostiziert [42]. Viele Patient:innen beschreiben ablehnende Reaktionen der konsultierten Ärzt:innen, wenn sie selbst den Verdacht äußerten, dass es sich um ME/CFS handeln könnte [19].

Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass ME/CFS-Betroffene mit der medizinischen Versorgung unzufrieden sind [6, 49]. Dies liegt nach Ansicht der Betroffenen u. a. auch daran, dass Ärzt:innen die Erkrankung aufgrund der vielfältigen Symptomatik als „schillernd“ betrachten und die meist schwer erkrankten Menschen in ihrer schwierigen Situation nicht ernstnehmen [8]. Auch Berichte von zahlreichen Betroffenen in Internet-Foren legen nahe, dass es im Gesundheitsbereich erhebliche Defizite im Umgang mit ME/CFS-Erkrankten gibt. Ziel dieser Untersuchung war es daher zu beleuchten, welche Bedeutung das ärztliche Auftreten und Verhalten im Rahmen der Arzt-Patient-Beziehung (AP-Beziehung) zwischen ME/CFS-Erkrankten und ihren behandelnden Ärzt:innen aus Sicht der Betroffenen einnimmt.

Studiendesign und Untersuchungsmethode

Im Rahmen einer explorativen qualitativen Studie wurden hierzu erwachsene ME/CFS-Erkrankte (> 20 Jahre), bei denen bereits eine ärztliche ME/CFS-Diagnose vorlag, nach ihren subjektiven Erfahrungen im Hinblick auf das ärztliche Auftreten und Verhalten im Rahmen der AP-Beziehung befragt. Die Befragung war Teil der APAV-ME/CFS-StudieFootnote 1, an der insgesamt 1238 Personen (ME/CFS-Erkrankte und deren nahe Angehörige) teilnahmen.

Sampling

Die Gewinnung der Proband:innen erfolgte einerseits über das Sampling durch Selbstaktivierung und andererseits über das Schneeballprinzip [37]. Ausgeschlossen wurden Long-COVID-Patient:innenFootnote 2, die die Internationalen Konsensus Kriterien (noch) nicht erfüllten [12]. Beim Sampling durch Selbstaktivierung erfolgt keine primäre Selektion durch die Forschenden. Die Auswahl hängt stattdessen von der Bereitschaft der potenziellen Proband:innen zur Studienteilnahme ab. Um genügend Proband:innen für unsere Studie zu gewinnen, wurde daher in der 2. Jahreshälfte 2022 Kontakt zu 6 ME/CFS-PatientenorganisationenFootnote 3 sowie zum Charité Fatigue Centrum in Berlin und dem Chronischen Fatigue Centrum für junge Menschen der TU München aufgenommen. Sie wurden gebeten, einen Aufruf zur Studienteilnahme an ME/CFS-Erkrankte und deren Angehörige weiterzuleiten. Studienteilnehmer:innen gaben den Hinweis zudem an andere ME/CFS-Erkrankte bzw. deren Angehörige weiter.

Studienteilnehmende

Insgesamt nahmen an der APAV-ME/CFS-Studie 1238 Personen (ME/CFS-Erkrankte und deren nahe Angehörige) teil. Für die in diesem Studienabschnitt zu untersuchende Fragestellung standen uns die schriftlichen Survey-Antworten von insgesamt 549 erwachsenen ME/CFS-Erkrankten (n = 456 ♀, n = 93 ♂) mit bereits vorliegender ärztlicher ME/CFS-Diagnose zur Verfügung. Die Proband:innen gaben die durchschnittliche bisherige Dauer ihrer Erkrankung mit etwa 11,3 (± 9,3; Median: 8; Min.: 0,5; Max.: 41) Jahren an. Die Diagnosestellung erfolgte im Durchschnitt etwa nach 6,6 (± 7,6; Median: 4; Min.: 0,7; Max.: 41) Jahren. Da die Teilnehmenden hier Zeiträume angekreuzt hatten, wurde ihnen bei diesen Berechnungen jeweils der Mittelwert des angekreuzten Zeitraums zugeordnet. Bei dem Zeitraum „länger als 40 Jahre“ wurde der Wert „41 Jahre“ eingesetzt. Es handelt sich bei den Ergebnissen der Berechnungen also um Annäherungswerte.

Nach einer ersten Sichtung des umfangreichen Datenmaterials wurde beschlossen, trotz des großen Zeitaufwands alle 549 Antworten einer qualitativen Inhaltsanalyse zu unterziehen. Dies geschah zum einen, um keine Hinweise der Proband:innen zu übersehen und zum anderen, um dem potenziellen Argument einer Antwortselektion bereits vorab zu begegnen. Tab. 1 nennt die Anzahl der hier betrachteten Frauen und Männer in den verschiedenen Altersgruppen und ordnet sie einer ID-Gruppe zu. Die ID eines Teilnehmers/einer Teilnehmerin enthält somit Informationen zu Alter und Geschlecht der betreffenden Person. Bei den folgenden Zitaten im Text zeigt die ID J22 z. B., dass es sich hierbei um eine Frau mit einem ärztlich diagnostizierten ME/CFS aus der Altersgruppe 51–60 Jahre handelt.

Tab. 1 Anzahl der betrachteten Proband:innen mit ärztlich diagnostiziertem ME/CFS (myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom), unterschieden nach Geschlecht und Altersgruppe. Auf dieser Basis erfolgt eine Zuordnung zu einer ID-Gruppe

Leitfadenerstellung und Durchführung des Surveys

Die Proband:innen wurden in der 2. Jahreshälfte 2022 schriftlich mit Hilfe eines analog zu einem fokussierten, standardisierten Leitfaden aufgebauten Survey-Fragebogens befragt. In die hier vorliegende Auswertung flossen die offenen Antworten von 4 der 13 Survey-Fragen ein:

  • Erfahrungen, die die Erkrankten seit Beginn ihrer Erkrankung mit den hierzu konsultierten Ärzt:innen gemacht haben (1. Einstiegsfrage),

  • Schilderung einer aus ihrer Sicht typischen Situation, die sie mit diesen Ärzt:innen bereits erlebt haben (2. Einstiegsfrage),

  • Ursachen für die geschilderte problematische bzw. gute AP-Beziehung aus Sicht der Betroffenen,

  • Reaktion der behandelnden Ärzt:innen auf die von dem/der Erkrankten geäußerten Vermutung, dass die vorliegenden Symptome wahrscheinlich auf eine ME/CFS-Erkrankung zurückzuführen sind.

Zudem wurden Basisinformationen abgefragt (u. a. Alter und Geschlecht der Erkrankten). Der Fragebogen enthielt darüber hinaus Informationen zum Studienablauf, zum Umgang mit den Daten sowie eine Einwilligungserklärung zur Studienteilnahme, der die Proband:innen zugestimmt haben. Der Fragebogen wurde von den Teilnehmer:innen überwiegend über das Online-Tool SurveyMonkey beantwortet. Im Hinblick auf mögliche Probleme der Erkrankten, den umfangreichen Fragebogen in einem Zug auszufüllen, bestand alternativ die Möglichkeit zum Download, sodass der von Hand/am PC beantwortete Fragebogen dann per E‑Mail, Fax oder Post an die Studienleitung gesandt werden konnte. Den Proband:innen wurde zugesichert, dass sie – wenn gewünscht – über die Ergebnisse der Studie informiert werden.

Datenbearbeitung, Datenanalyse und Gütekriterien

Die Daten der per E‑Mail, Fax oder Post zugesandten Fragebögen wurden dem Online-Datensatz später von Hand hinzugefügt. Nach der vollständigen Eingabe dieser Fragebögen wurden 12 zufällig ausgewählte Fragebögen (10 % von n = 118) zur Validierung ein zweites Mal eingegeben. Hierbei traten keine Fehler auf, sodass von einer korrekten Datenübertragung auszugehen ist.

Die Auswertung der Fragebögen erfolgte im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring [30]. Dabei wurde durch Paraphrasierung und Abstrahierung bzw. Generalisierung der einzelnen Aussagen eine frühe Reduktion der Komplexität der Daten angestrebt und nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden geschaut. Auf dieser Basis wurden dann zentrale inhaltliche Kategorien identifiziert und die einzelnen Aussagen den festgelegten Kategorien bzw. Unterkategorien zugeordnet. Zuvor wurde in einem Kodierleitfaden definiert, welche Textbestandteile unter eine Kategorie fallen sollten. Darüber hinaus wurden konkrete Textstellen als Ankerbeispiele festgehalten. Wo Abgrenzungsprobleme zwischen Kategorien bestanden, wurden Kodierregeln formuliert, um eindeutige Zuordnungen zu ermöglichen [29, S. 119 ff.]. Zur Kontrolle fand eine Rücküberprüfung statt, bei der das Kategoriensystem erneut mit den Ausganstexten abgeglichen wurde.

Nach Bacher und Horwarth [1] können die Auswahlkriterien für die Teilnahme an qualitativen Studien danach festgelegt werden, dass es sich entweder um typische Fälle, um Extremfälle oder abweichende Fälle, um besonders kritische Fälle oder um besonders wichtige und sensible Fälle handelt. Vor allem aber kann mit der Fallauswahl die Varianz der vorliegenden Fälle dargestellt werden. Da bei dieser Studie keine Vorabauswahl der Teilnehmenden erfolgte, sollten die Auswahl der Zitate das Spektrum der Äußerungen der Teilnehmenden widerspiegeln und dabei auch auf besonders wichtige Aussagen eingehen. Weitere Zitate finden Sie in den Online-Zusatzmaterialien. Da die klassischen Gütekriterien aus der quantitativen Forschung (Objektivität, Reliabilität, Validität) hier nicht anwendbar waren, wurde stattdessen nach Transparenz, Intersubjektivität und Reichweite als häufig angegebene Gütekriterien der qualitativen Forschung geschaut [54]. Darüber hinaus wurden die Gütekriterien Gegenstandsangemessenheit und Regelgeleitetheit des Vorgehens nach Mayring [29, S. 120] berücksichtigt.

Nach Vogl ist die Quantifizierung qualitativer Daten ein ergänzender Schritt in der qualitativen Forschung, um der „Vielschichtigkeit und Komplexität der Daten gerecht zu werden und gleichzeitig Muster aufzuzeigen“. Sie hilft, die Perspektive zu erweitern und ergänzende Blickwinkel zur interpretativen Analyse zu sammeln [57]. Um die relative Bedeutung der Thematik aufzuzeigen, wurde daher hier zusätzlich eine Quantifizierung der von den Proband:innen verwendeten Wortfelder bzw. Homöonyme vorgenommen.

Ergebnisse

Um Antworten auf die Fragen zu erhalten, welche Bedeutung das ärztliche Auftreten und Verhalten im Rahmen der AP-Beziehung zwischen ME/CFS-Erkrankten und ihren behandelnden Ärzt:innen aus Sicht der Betroffenen hat, wurden die Antworten auf folgende Fragen ausgewertet:

  1. 1.

    Welche Erfahrungen haben Sie seit Beginn der Erkrankung mit den hierzu konsultierten Ärzt:innen gemacht?

  2. 2.

    Bitte schildern Sie uns eine für das AP-Verhältnis typische Situation, die Sie mit einem behandelnden Arzt/einer behandelnden Ärztin bereits erlebt haben.

  3. 3.

    Wie erleben Sie die Beziehung zu den behandelnden Ärzt:innen? Wie schätzen Sie das AP-Verhältnis ein? Was stört Sie dabei am meisten?

  4. 4.

    Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Ursachen für die von Ihnen geschilderte problematische bzw. gute AP-Beziehung?

Schon eine erste Durchsicht der Antworten der Studienteilnehmer:innen zeigte, dass viele Befragte das AP-Verhältnis zu ihren behandelnden Ärzt:innen insgesamt, insbesondere jedoch auch das Auftreten und Verhalten der Ärzt:innen ihnen gegenüber überaus kritisch sahen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht einzelne Proband:innen – oft jedoch erst nach langer Suche – auch positive Erfahrungen mit den sie behandelnden Ärzt:innen gemacht hätten.

H32: „Zu meinem behandelnden Arzt habe ich ein sehr gutes Arzt-Patient-Verhältnis. Er ist der Einzige, der sich mit ME/CFS auskennt und [mich] ernstnimmt.“

D3: „Die Beziehungen zu den eigenen behandelnden Ärzten [sind] sehr gut und vertrauensvoll. Es sind ja die nach langer und sehr aufwendiger Suche verbliebenen wenigen Ärzte, die sich menschlich kümmern wollen.“

Erfahrungen von ME/CFS-Erkrankten mit den sie behandelnden Ärzt:innen

Die auf unsere Fragestellung bezogenen Antworten aus den beiden Einstiegsfragen ließen sich den folgenden beiden Kategorien zuordnen: (1) Reaktionen der Ärzt:innen auf die Schilderung der ME/CFS-Symptome und (2) Reaktionen der Ärzt:innen auf eine bereits gestellte ME/CFS-Diagnose.

Reaktionen der Ärzt:innen auf die Schilderung der ME/CFS-Symptome

Nur wenige Proband:innen gaben an, dass sie im Zusammenhang mit der Schilderung ihrer ME/CFS-Symptome gute Erfahrungen gemacht hätten. Viele berichteten davon, dass ihnen die konsultierten Ärzt:innen nicht zuhörten. Als noch kränkender empfanden Proband:innen, dass ihre Schilderungen und damit auch sie als Person von ihren Ärzt:innen nicht ernstgenommen wurden.

K13: „… haben die meisten Ärzte verlernt, den Patienten zuzuhören. Die meisten sehen nur Laborwerte und haben keine Zeit und kein Interesse, sich näher mit den Anliegen der Patienten zu beschäftigen, wenn die Laborwerte i. O. sind.“

G40: „Einmal wurde mir von einem Arzt auch gesagt, für ME/CFS ginge es mir noch nicht schlecht genug. Und das war zu einem Zeitpunkt bereits 6–7 Jahre nach den ersten Symptomen und mehrjähriger Arbeitsunfähigkeit.“

Zudem beklagten Proband:innen auch ein generelles Unverständnis und Desinteresse an der Erkrankung und damit auch an den ME/CFS-Patient:innen.

H48: „Mich stört, dass […] ganz selten mal überhaupt Interesse an der Erkrankung von Ärzten gezeigt wird, die diese noch nicht kennen. Noch nie hat eine Ärztin Infomaterial durchgelesen oder mich überhaupt zum Verlauf gefragt oder irgendwie Interesse signalisiert.“

J19: „Stellen Sie sich vor, Sie sagen zu einem Arzt, sie hätten MSFootnote 4 und dieser Arzt sagt, dass ihn das nicht interessiere. Ist mir so mit ME/CFS oft passiert. Man unterstellt, ich lüge oder übertreibe meine Symptome. […] Wenn man Symptome nennt, werden von Ärzten, Krankenschwestern und med. Personal die Augen verdreht, gelacht, getuschelt und/oder es wird direkt gesagt, man lüge.“

Sie empfanden das Auftreten der behandelnden Ärzt:innen dabei als ignorant und arrogant.

I24: „Von oben herab, ignorant, abschätzig. Ich war Wissenschaftler an der Uni, und wurde behandelt, als wäre ich hysterisch, dumm und unterbelichtet.“

A7: „Am meisten stört mich die unglaubliche Arroganz der meisten Ärzte, die denken, heute wären alle Erkrankungen bereits bekannt und behandelbar und daher können sie innerhalb von 30 s ohne psychiatrische Qualifikationen [erkennen], dass eine Erkrankung psychisch sein muss, weil es [sonst] nicht in ihr Schubladendenken passt.“

Einige Proband:innen erklärten sogar, dass Ärzt:innen ihnen gegenüber ärgerliches bis aggressives Verhalten zeigten.

J84: „Fragen werden abgewürgt, auf Fragen wird auch mal ärgerlich reagiert, weil ich ja wohl nicht einschätzen kann, wie mein Körper reagiert – aber ein Arzt, der mich gar nicht kennt?“

J151: „Ich finde es psychisch sehr belastend, zusätzlich zur Krankheitslast, extrem reduzierter Lebensqualität, Existenzängsten und finanziellen Problemen mit der Verächtlichkeit und z. T. der Aggression seitens eines Arztes umzugehen.“

Häufig berichteten ME/CFS-Erkrankte davon, dass die geschilderten Symptome von konsultierten Ärzt:innen als psychisch bzw. psychosomatisch bedingt eingestuft wurden und empfanden das größtenteils als stigmatisierend.

A8: „Mir wurde vielfach mitgeteilt, dass mein Verhalten Auslöser und aufrechterhaltender Faktor der Erkrankung ist (Dekonditionierung). ‚Pacing‘Footnote 5 wird als Faulheit und Angst vor Aktivität missverstanden. Infomaterial von Patientenorganisationen oder Charité wird nur widerwillig entgegengenommen und nicht beachtet. Bestehende Beschwerden (z. B. POTSFootnote 6) werden nicht ernst genommen. Es besteht keinerlei Interesse an Therapieversuchen zur symptomorientierten Behandlung, z. B. nach Empfehlungen der Charité. Die Ablehnung von Sport oder Aktivierung wird als mangelnde Compliance verstanden. Die verzögerte Verschlechterung nach Überlastung wird ignoriert und mir Symptomfixierung unterstellt.“

H52: „Oft hab ich auch gehört, dass ich mir das einbilde, sowas wie ME/CFS gibt es nicht, und ich solle aufhören, ständig nach Diagnosen zu suchen und zum Arzt zu rennen. Das sei psychisch, und ich solle das endlich akzeptieren. Immer waren die Reaktionen invalidierend und oft entwürdigend.“

In diesem Zusammenhang wurde von Proband:innen angemerkt, dass sie das Gefühl hatten, dass die Anamnesefragen der Ärzt:innen, wenn denn überhaupt gefragt wurde, nicht auf ihre Symptomatik passten.

H10: „Es stört mich, dass man kaum was gefragt wird. Ich als Patient weiß ja oft gar nicht, welche Dinge wichtig sind, und weil der Arzt kaum Zeit hat, versucht man sich auch kurz zu fassen. Es stört mich auch, dass viele die einfachste und erstbeste Erklärung nehmen und gar nicht weitersuchen. Ich empfinde die Arztbesuche meistens ziemlich erniedrigend.“

G6: „Die Anamnese ist nicht auf meine Erkrankung bezogen und stellt eine enorme körperliche Belastung dar. Es wird nicht auf meine Symptome eingegangen.“

Zudem fehle Ärzt:innen das Verständnis für die Schwere der Erkrankung. Dies sei auch ein Grund für die fehlende Rücksichtnahme den Patient:innen gegenüber.

B7: „Die Schwere der Symptome wird teilweise völlig verkannt. Man bekommt oft zu hören: Aber Sie sitzen ja jetzt hier und haben es ja auch gut geschafft. Es wird oftmals nicht gesehen, welche starke Belastung ein Arztbesuch für den gesamten Organismus ist. Die einsetzende postexertionale Malaise bekommen die Ärzte nicht zu Gesicht. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass man sich von einem Arztbesuch teilweise mehrere Wochen erholen muss, bis eine Zustandsverbesserung eintritt.“

J144: „Fehlende Rücksichtnahme (lautes Sprechen, Hektik, über das Notwendige hinaus helle Beleuchtung usw.).“

Andere Ärzt:innen warfen den Erkrankten vor, selbst nicht genug für die Verbesserung ihrer Krankheitssituation zu tun, insbesondere dann, wenn diese krankheitsverschlechternde Therapieempfehlungen wie GETFootnote 7 ablehnten.

H10: „Man sucht nach der einfachsten, erstbesten Erklärung und behandelt einen, als wäre man selbst schuld, weil man ja z. B. nicht genug isst oder nicht genug Sport macht.“

J134: „Die Ärzte geben einem die Schuld, dass es einem schlecht geht, weil man sich nicht auf die Antidepressiva und psychiatrische Erkrankung einlasse.“

Reaktionen der Ärzt:innen auf eine bereits gestellte ME/CFS-Diagnose

Studienteilnehmer:innen berichteten auch von ablehnenden Reaktionen der konsultierten Ärzt:innen auf eine bereits andernorts gestellte ME/CFS-Diagnose.

B6: „Selbst nach der Diagnose wurde vor allem in Kliniken ME/CFS als Erkrankung abgelehnt und teilweise als unwissenschaftlich bezeichnet. Obwohl die Diagnose sehr ausführlich und nach den Kriterien der Charité erfolgte.“

H25: „… jeder der Ärzte hat empört und zurückweisend reagiert. Ich wurde daraufhin sogar von der Frauenärztin angeschrien, […]. Eine andere Ärztin hat mich gefragt, ob ich nun ihren Job übernehmen wolle, meistens antworten die Ärzte, dass es das ja nicht gibt und [es] nur eine Verlegenheitsdiagnose sei.“

Sie wiesen darauf hin, dass es infolge dieser ablehnenden Haltung auch nach Diagnosestellung weiter zu Falschbehandlungen kam.

C14: „Gemachte Erfahrungen werden von Ärzten missachtet, Diagnoserichtlinien werden missachtet und Falschbehandlungen empfohlen.“

Von den behandelnden Ärzt:innen sei auch nach Diagnosestellung keine Hilfe zu erwarten.

A1: „Dort allerdings informierte man mich sofort, dass ich keine Behandlung erwarten könne.“

A2: „Von den Fachärzten ist also keine Hilfe, im schlimmsten Fall Stigmatisierung zu erwarten. Hausärzte […] konnten mir erst recht keine Therapie anbieten, aber wenn man Glück hat, wird man wenigstens ernstgenommen.“

Das Auftreten und Verhalten der Ärzt:innen aus Sicht der ME/CFS-Patient:innen

Nach den Einführungsfragen wurden den Proband:innen noch weitere Fragen gestellt, die als Nachfragen zu den bereits im vorangegangenen Abschnitt genannten Aspekten verstanden werden können. Diese Antworten wurden ebenfalls gesichtet und den daraus extrahierten Hauptkategorien zugeordnet. Zur besseren Übersicht wurden diese Hauptkategorien anschließend noch in Unterkategorien unterteilt. Es soll nochmals betont werden, dass die Antworten die subjektiven Erfahrungen der befragten Frauen und Männer mit ME/CFS widerspiegeln.

Schilderung des Auftretens und Verhaltens der konsultierten Ärzt:innen durch die Proband:innen

An dieser Stelle soll nun die auf diese Weise ermittelte Hauptkategorie Auftreten und Verhalten der Ärzt:innen im Rahmen einer ärztlichen Konsultation näher betrachtet werden. Auch hier betonten die Proband:innen immer wieder, dass die konsultierten Ärzt:innen ihnen nicht zuhörten. Dies lag ihrer Ansicht nach auch daran, dass sie als Patient:innen nicht ernstgenommen werden bzw. dass ihnen nicht geglaubt wird. Sie beschrieben, dass sie belächelt, als geistig beschränkt hingestellt und mit ihren gesundheitlichen Problemen alleingelassen wurden, was sie als traumatisierende Erfahrung erlebten.

H72: „Was mich am meisten stört ist, dass Ärzte oftmals nicht gut zuhören, dass sie nicht infrage gestellt werden wollen und dass sie es nicht befürworten, wenn ein Patient selbst Verantwortung für seine Gesundheit übernehmen möchte. Es ist mir schon öfter passiert, dass Ärzte Entscheidungen nicht nur über, sondern auch gegen meinen Körper treffen und mir dann manchmal nur ein Arztwechsel übrigbleibt.“

D35: „… oder im besten Fall wird man als Simulant hingestellt. Sehr oft schiebt man das Ganze in Richtung Psychosomatik bis hin zu schweren Depressionen (festgestellt durch Orthopäden). Am Ende kommt es immer auf das Gleiche raus, man [be]kommt gesagt, dass man sich das Ganze nur alles einbilde und man keine körperlichen Ursachen feststellen kann. Somit wird man weitergeschickt und mit der Problematik alleine gelassen.“

J70: „… die Reaktion ist oft ein Lächeln und in der Folge eine zwischenmenschliche Behandlung, als wäre man ein kleines dummes Kind.“

Eine Folge hiervon war nach Aussagen der Proband:innen, dass ärztlicherseits das Körperempfinden der Patient:innen und das vorhandene Patientenwissen ignoriert und die mitgebrachten wissenschaftlichen Informationsmaterialien nicht beachtet wurden.

I115: „… mir werden meine geistigen Fähigkeiten abgesprochen. […], dass das eigene Empfinden, schwer krank zu sein in Frage gestellt wurde – massive Invalidisierung – traumatisierend.“

I49: „Ich wurde schallend ausgelacht. Das mitgebrachte Informationsmaterial wurde mir entgegengeworfen.“

Proband:innen beklagten in diesem Zusammenhang das Unverständnis, die Vorurteile und Voreingenommenheit der konsultierten Ärzt:innen.

C15: „… ME/CFS hätte man im englischsprachigen Raum, ‚in Deutschland hat man Rücken‘, und ich solle stationär in seine psychosomatische Klinik kommen.“

J144: „Alles psychisch. Sie muss raus aus dem Bett, und wenn sie etwas will, muss sie zu mir in die Praxis kommen.“

Sie bemerkten jedoch auch die Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Unsicherheit und Frustration mancher Ärzt:innen, insbesondere, da ja derzeit (noch) keine kurative Therapie möglich sei. Andere gingen von einer Überforderung ihrer Ärzt:innen aus.

G40: „Vor allem erlebe ich Hilflosigkeit. Die einzige Veränderung seit der Diagnose ist, dass nicht mehr über den Grund meiner Erkrankung gesprochen wird. Hilfe zu bekommen ist immer noch schwierig. Vor allem habe ich das Gefühl, vertröstet zu werden. Man könne bei der Erkrankung ja nichts machen.“

H80: „Ich glaube auch hier, dass es an Überforderung liegt. Die Ärzte haben keine Zeit, sehen einen verzweifelten Menschen mit unklaren Symptomen und verwechseln ‚Erschöpfung‘ mit Antriebslosigkeit.“

Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang auch die empfundene Arroganz und Überheblichkeit der kontaktierten Ärzt:innen beklagt, die ME/CFS-Patient:innen als Simulanten darstellten, die angeblich an einer nicht ernstzunehmenden „Modekrankheit“ litten.

J15: „Von den meisten Ärzten werde ich nicht ernstgenommen und nur belächelt. In Befunden werde ich mit sarkastischem Unterton als Simulantin oder Hypochonderin dargestellt, was ich immer wieder als demütigend empfinde.“

I77: „Ignoranz, ME/CFS gäbe es nicht, sei eine Modeerkrankung für Menschen, die nicht arbeiten wollen.“

H71: „Respektlos, menschenverachtend, macht psychisch kaputt. Wenn man noch keine Diagnose hat, lässt es einen am eigenen Verstand zweifeln, obwohl man ganz genau weiß, dass man recht hat und etwas mit dem eigenen Körper nicht stimmt. Am meisten stört mich, dass einem nicht geglaubt wird und einem das Gefühl gegeben wird, man wär’ ein Hypochonder, v. a. dass einem nicht geglaubt wird, dass Bewegung die Symptome schlimmer macht!“

Nicht selten seien die konsultierten Ärzt:innen auch genervt oder sogar den Patient:innen gegenüber aggressiv.

K35: „Ich hasse die genervten Blicke der Ärzte, die wieder einmal nicht wissen, was ME/CFS ist, und die sich trotzdem jeglichen Informationen verweigern.“

K41: „Ein Arzt meinte: ‚Können Sie denn nicht von sich selbst absehen?‘ Ich war baff. Ich gehe doch nicht zum Arzt, um mit ihm zu plaudern, sondern um Hilfe von ihm zu bekommen. Ich hatte schon fast das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen dafür, dass ich dem Arzt die Zeit stehle.“

Auch berichteten Proband:innen davon, dass die in Anspruch genommenen Ärzt:innen sie wieder loswerden wollten.

H52: „Die Reaktionen darauf waren vielfältig: Belächelnd, ignorierend, lächerlich machend, immer invalidierend. Beim Insistieren oder Erläutern-wollen, wurden die meisten Ärzte unwirsch und wollten einen schnell loswerden.“

G33: „Hausarzt will mich loswerden, weil ich viel Arbeit mache und er das alles nicht abrechnen kann.“

Eine typische Reaktion von Ärzt:innen auf die Schilderung von ME/CFS-Symptomen sei neben dem Leugnen der Erkrankung ME/CFS auch das Bagatellisieren der Symptomatik sowie das vorschnelle Stellen einer psychosomatischen oder psychiatrischen Diagnose (auch durch fachfremde Mediziner:innen).

I107: „Nicht ernstgenommen werden und immer schnell als depressiv abgestempelt zu werden. [Hingegen] bin ich alles andere als das. Ich habe sogar trotz der Misere ein Onlinestudium absolviert, damit ich irgendwie weiterarbeiten kann. Das wird nicht gesehen.“

J149: Zitat: „Das kann ich mir gar nicht vorstellen, Sie sehen aus wie das blühende Leben.“

Die Ursachen für die Art des Auftretens und Verhaltens der konsultierten Ärzt:innen aus Sicht der ME/CFS-Erkrankten

Die Antworten der Proband:innen zur Hauptkategorie „Ursachen des Auftretens und Verhaltens der Ärzt:innen aus Patientensicht“ ließen sich folgenden beiden Unterkategorien zuordnen: (1) ärztliches Selbstverständnis, Auftreten und Handeln und (2) Art der Kommunikation.

Ärztliches Selbstverständnis, Auftreten und Handeln.

Das ärztliche Selbstverständnis, das geringschätzende, als äußerst unangenehm empfundene Auftreten und das auf fehlender Fachkenntnis basierende fehlerhafte Handeln vieler Ärzt:innen wurden von vielen ME/CFS-Patient:innen als maßgebliche Ursachen ihres schlechten AP-Verhältnisses genannt. Angesprochen wurde in diesem Zusammenhang auch wieder die Ignoranz und Überheblichkeit der behandelnden Ärzt:innen.

H47: „Jemanden nicht helfen zu können, greift das Selbstbild an und gefährdet die Erfüllung des eigenen Anspruchs an sich selbst. […] Zu sagen, ich weiß es nicht, wird dann vermieden, weil der Anspruch ja ist, so ein toller, engagierter Arzt zu sein. Der ideale Ausweg ist dann die psychosomatische Diagnose: „Ich habe nix Körperliches gefunden, weil es das nicht gab. Auch wenn ich nix gefunden habe, kann ich mich als Superarzt fühlen, der verständnisvoll ‚den ganzen Menschen‘ sieht, und ein paar gute Ratschläge auch für solche Leute hat.“ Und wenn Patienten das nicht annehmen, wird ja doch der Selbstwert in Frage gestellt, und das soll ja verhindert werden. Also werden sie dann schnell garstig. Das wäre so leicht zu verbessern, wenn es Teil der Arztidentität wäre, nicht perfekt und besser als alle anderen zu sein.“

J22: „Ich glaube außerdem, dass die meisten Ärzte der Körperwahrnehmung und dem Urteilsvermögen von Patienten nicht trauen und sogar die Einschätzungen von Kollegen anzweifeln, wenn sie nicht in das eigene Bild passen.“

Proband:innen beklagten in diesem Zusammenhang neben der fehlenden Empathie der behandelnden Ärzt:innen auch ihre fehlende Sensibilität und Sozialkompetenz.

H27: „Es fehlt in der Arzt-Patienten-Beziehung meist an Wärme, EMPATHIE, Verständnis. DAS ist schon heilend. Und das sollte die Basis sein für diese Kommunikation. Stattdessen immer wieder Erniedrigung, Bloßstellung, Lächerlichmachen, vorschnelle Urteile. Ich denke, viele Ärzte verachten (unbewusst?) Schwäche und Krankheit. Und das spüren die Patienten. Ich kenne nur ein paar sehr wenige WARMHERZIGE Ärzte.“

I88: „Auffällig ist auch, dass viele Ärzte hinsichtlich ihrer Sozialkompetenz schlecht aufgestellt sind. Ich habe nicht wenige Ärzte erlebt, die zumindest in dieser Hinsicht für den Kontakt mit Patienten ungeeignet sind.“

Insbesondere wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass sich die ME/CFS-Patient:innen nicht ernstgenommen sehen, dass die von ihnen geschilderten Symptome und die Krankheit ME/CFS von den behandelnden Ärzt:innen nicht ernstgenommen würden und dies dazu führe, dass das Vertrauen zu den Ärzt:innen schwinde bzw. gar nicht mehr vorhanden sei.

H81: „ME/CFS-Patienten brauchen eigentlich gar nicht so viel …, aber sie bekommen nicht einmal das, was eigentlich jedem Patienten zusteht. Ernstnehmen.“

H3: „Ich habe kein Vertrauen mehr in meine Ärzte.“

Bei den Ärzt:innen führe das Nicht-Weiterwissen nicht selten zu einer Abwehrhaltung den Patient:innen gegenüber.

H29: „Wenn Ärzte nicht weiterwissen, geben sie das ungern zu. Als Patient, der sich informieren möchte, weil er gesund werden möchte, stößt man sehr oft auf Abwehr.“

J22: „Dass ich nach den ganzen Therapien eine Verschlechterung der Symptomatik erlebte war (laut Ärzten) nur in meiner Vorstellung so, tatsächlich bemühe ich mich nicht ausreichend, sonst würde es mir ja besser gehen. Letztendlich bekam ich die Diagnose ‚histrionische Persönlichkeitsstörung‘, damit war das Problem komplett auf mich abgewälzt.“

Kommunikations- und Interaktionsprobleme.

Einige Proband:innen gaben zudem an, dass zwischen ihnen und den sie behandelnden Ärzt:innen überhaupt keine offene Kommunikation möglich sei.

H25: „Mich stört am meisten, dass keine offene Kommunikation möglich ist, dass die meisten Ärzte nicht transparent sind, dass sie zornig werden, keine Geduld haben und [unter] Zeitdruck stehen, [es] keine klare Anerkennung der Krankheit ME/CFS gibt, [dass es] durch die ‚Komplexität‘ […] zu Misstrauen kommt. Mehrmals musste ich mir anhören, dass ME/CFS eine erfundene Krankheit aus den USA ist und dass es eine Verlegenheitsdiagnose sei. Die Unwissenheit von Ärzten und dass, wenn man sich als Patient selbst hilft und sich einliest, das bei Ärzten negativ bewertet wird, nicht gern ‚gesehen‘ wird.“

H27: „Ich weiß es nicht, vielleicht fühlt sich der Arzt dadurch in seiner Kompetenz in Frage gestellt? Warum gibt es da keine Offenheit? Kein Interesse? Ich komme nicht mit Homöopathie oder Zaubersprüchen. Sondern Studien.“

Immer wieder beklagten Proband:innen, dass es sich bei der AP-Beziehung nicht um eine Beziehung auf Augenhöhe handele.

J142: „Und selbst wenn ich mit [anderen] körperlichen Problemen einen Arzt aufsuche, der die Diagnose kennt, werde ich oft nicht mehr für voll genommen und bekomme Beruhigungstropfen verordnet. Das macht mich zum Unterlegenen und ein Gespräch findet nicht wirklich statt. Ich fühle mich ausgeliefert, nicht für voll genommen und stigmatisiert. Der Kontakt findet nicht auf Augenhöhe statt, und meine Äußerungen werden für unglaubwürdig erklärt bzw. umgedeutet.“

H47: „Wenn Ärzte geübter darin wären, ihre eigenen Reaktionen auf ‚schwierige‘ Patienten wahrzunehmen, würde wahrscheinlich viel Frust auf beiden Seiten verhindert.“

Ein wichtiger Punkt im Bereich der Kommunikation, der sich nach Ansicht der Proband:innen ebenfalls auf die AP-Beziehung auswirkt, sei die Erfassung der Symptomatik im Rahmen der Anamnese.

I82: „Einerseits wird oft gar nicht erst richtig zugehört oder nachgefragt, um Symptome genauer zu erfassen, …“

J46: „Obwohl ich immer klar und deutlich kommuniziere und auch immer sagte, dass mein Zustand in keinster Weise meinem Blutbild entspricht: ‚Alles Bestens‘.“

In diesem Zusammenhang spiele auch die fehlende sprachliche Präzision seitens der Ärzt:innen eine nicht zu unterschätzende Rolle.

B1: „Eines der Hauptprobleme ist ein Mangel an sprachlicher Präzision: Da wird aus ‚erschöpft‘ dann ‚antriebslos‘ abgeleitet (→ Symptom einer Depression). Fast immer wird ‚erschöpft‘ auch mit ‚müde‘ gleichgesetzt oder alternierend genutzt (erschöpft = muss ruhen, aber: müde = muss schlafen).“

J18: „Selbst in einer hilfreichen Arztbeziehung sind Missverständnisse durch unzureichende sprachliche Ausdrucksformen (Erschöpfung/Kraftlosigkeit/Müdigkeit) und fehlende diagnostische Tools (Bsp. Handmessgerät) vorprogrammiert.“

Quantifizierung der von den Proband:innen verwendeten Wortfelder bzw. Homöonyme

Um die relative Bedeutung der Thematik aufzuzeigen, wurde abschließend noch eine Quantifizierung der Beschreibungen des Auftretens und Verhaltens der konsultierten Ärzt:innen durch die befragten ME/CFS-Erkrankten vorgenommen. Die Grundlagen hierfür bildeten die Antworten auf die ersten drei der eingangs des Ergebnisteils genannten Fragen. Insgesamt waren dies Antworten im Umfang von 420.278 Zeichen (ohne Leerzeichen) bzw. 72.666 Wörtern (ø 765,5 Zeichen, ø 132,4 Wörter pro Antwort). Tab. 2 gibt die absoluten und relativen Häufigkeiten der Proband:innen an, die entsprechende Wortfelder bzw. Homöonyme zur Beschreibung des Auftretens und Verhaltens der von ihnen konsultierten Ärzt:innen und zur Einschätzung ihres AP-Verhältnisses verwendet haben. Pro Person wurde nur maximal eine Nennung registriert, auch wenn mehrere Wörter aus einem Wortfeld genutzt wurden. Zudem ist zu berücksichtigen, dass es sich hier um Mindestangaben handelt. Einige Proband:innen haben andere Begriffe und Beschreibungen für ähnliche Aussagen genutzt, die hier jedoch nicht abgefragt wurden. Andere sprachen ein bestimmtes Themenfeld gar nicht an. Auch wurden Begriffe dann nicht gezählt, wenn Rechtschreibfehler vorlagen.

Tab. 2 Nennung der absoluten und relativen Häufigkeiten der Proband:innen, die entsprechende Wortfelder bzw. Homöonyme zur Beschreibung des Auftretens und Verhaltens der von ihnen konsultierten Ärzt:innen und zur Einschätzung ihres AP-Verhältnisses verwendet haben

Die Tabelle zeigt, dass es sich bei den im qualitativen Teil gemachten Aussagen keineswegs um Randerscheinungen handelt. Nur 7 Proband:innen nannten keine der hier angegebenen Begriffe. In der Regel nutzten die Teilnehmenden zahlreiche Ausdrücke aus den genannten Wortfeldern zur Beschreibung des Auftretens und Verhaltens der von ihnen konsultierten Ärzt:innen und des daraus resultierenden AP-Verhältnisses. Mehr als 60 % der Proband:innen beschrieben das Auftreten aller oder eines Teils der von ihnen konsultierten Ärzt:innen mit negativen Termini. Hinzu kommen noch einmal fast 9 %der Proband:innen, die angaben, dass sie bei den konsultierten Ärzt:innen auch die für ein gutes AP-Verhältnis wichtigen Eigenschaften (z. B. Empathiefähigkeit) vermisst haben. Besonders häufig wurden die das AP-Verhältnis beeinflussenden Fehldiagnosen (insbesondere im psychosomatischen und psychiatrischen Bereich) sowie falsche Therapieempfehlungen genannt. Über die Hälfte beklagte die Unkenntnis der Ärzt:innen in Bezug auf die Erkrankung ME/CFS. Fast 30 % der Befragten nutzten sehr negative Beschreibungen des Verhaltens der konsultierten Ärzt:innen (von beleidigend oder respektlos bis menschenverachtend). 20 % der Proband:innen bezeichneten die von ihnen erlebten AP-Verhältnisse explizit als sehr schlecht. Hier nutzten jedoch viele auch andere Begriffe, um die negativen AP-Verhältnisse zu beschreiben.

Kurze Zusammenfassung der Ergebnisse

Die Proband:innen nannten als einen zentralen Faktor im Rahmen der von ihnen als problematisch empfundenen AP-Beziehung ein Fehlen an Empathie und Wertschätzung den Patient:innen gegenüber, die Patient:innen würden nicht ernstgenommen. Dies äußere sich z. B. in einem geringschätzenden, ignoranten und arroganten Auftreten sowie in einem allgemeinen Desinteresse. Es gebe kein AP-Verhältnis auf Augenhöhe. Zudem beschrieben sie die Hilflosigkeit der behandelnden Ärzt:innen, da es bei ME/CFS keine kurative Therapie gibt und keine Heilungschancen bestehen. Es entstünde eine Abwehrhaltung den Patient:innen gegenüber, sodass die Patient:innen letztendlich als „schwierige Fälle“ weitergereicht würden (Tab. 3).

Tab. 3 Zusammenfassung der Beschreibung des Auftretens und Verhaltens der von den ME/CFS-Patient:innen konsultierten Ärzt:innen sowie der von ihnen wahrgenommenen Kommunikations- und Interaktionsprobleme

Diskussion

Im Folgenden werden nun die geschilderten Studienergebnisse in einen Zusammenhang mit bereits bekannten wissenschaftlichen Erkenntnissen gestellt.

Interaktionelle Grundbedürfnisse und die asymmetrische AP-Beziehung bei ME/CFS

Die von uns befragten ME/CFS-Patient:innen sprachen immer wieder das ärztliche Selbstverständnis sowie ein geringschätzendes, als äußerst unangenehm wahrgenommenes Auftreten der behandelnden Ärzt:innen an. Insbesondere fehle es „in der AP-Beziehung meist an Wärme, EMPATHIE, Verständnis“ (H27). Sie empfanden die Interaktion mit den konsultierten Ärzt:innen daher als belastend. Auch Braun und Sappok [7, S. 51 ff.] bezeichnen die Empathiefähigkeit als Kernkompetenz von Fürsorge und als Schlüsselelement in der AP-Kommunikation. Sie zeigen mit Neumann et al. [35] auf, dass in Deutschland die Empathie bei den angehenden Ärzt:innen im Zuge des Medizinstudiums und der Facharztausbildung oft verloren geht, Empathie aber dabei helfe, die allgemeine klinische Wahrnehmung und die Urteilsfähigkeit der Ärzt:innen zu verbessern. Nach Sachse [41, S. 38 ff.] gehört es zu den wesentlichen interaktionellen Grundbedürfnissen, vom Gegenüber anerkannt, geachtet, Wert geschätzt und positiv definiert zu werden. Zu den Grundbedürfnissen gehöre auch, dass man dem Gegenüber wichtig sein möchte. Man möchte, dass es sich um eine verlässliche Beziehung handelt, dass das Gegenüber zuhört und wenn nötig auch hilft. Zudem sollte gewährleistet sein, dass beide Interaktionspartner innerhalb der Beziehung selbstbestimmt agieren können und eigene Grenzen durch das Gegenüber respektiert werden. Die Schilderungen der belasteten AP-Verhältnisse bei ME/CFS-Patient:innen zeigen jedoch, dass all diese Grundbedürfnisse in unterschiedlichem Umfang von den behandelnden Ärzt:innen ignoriert oder missachtet wurden. Die Proband:innen beschrieben anstatt Wertschätzung Desinteresse sowie demütigendes und abwertendes Verhalten (G27) und anstatt Respekt Ignoranz und Arroganz (D5, H27). Immer wieder gaben sie an, dass man ihnen nicht zuhört (I34) und Hilfe verweigert (J115) bzw. dass sie sich fremdbestimmt vorkommen (I77).

Von uns befragte ME/CFS-Patientinnen schlossen hieraus, dass es sich bei ihrem AP-Verhältnis nicht um eine Beziehung auf Augenhöhe handelt (G27), es sei vielmehr sehr stark durch die Machtstellung der Ärzte definiert (D15). Dies zeige sich insbesondere im Hinblick auf die Definitionsmacht, d. h. die konsultierten Ärzt:innen definieren, was ME/CFS ist. Die Patient:innen seien in dieser Hinsicht von ihnen abhängig. Hier spiele jedoch auch der unterschiedliche Kenntnisstand der beiden Gesprächspartner:innen im Hinblick auf das Gesprächsthema eine wichtige Rolle. Normalerweise wisse der Arzt/die Ärztin mehr als der Patient/die Patientin. Bei ME/CFS sei dies jedoch meist umgekehrt. Damit hinterfragten sie ärztliches Wissen und Handeln und wichen aus Sicht der Ärzt:innen von ihrer Patientenrolle ab. Für Ärzt:innen, die ein eher paternalistisches Modell der AP-Beziehung bevorzugten und eine überwiegend direktive, arztzentrierte Gesprächsführung praktizierten, unterminiere dies ihr ärztliches Selbstverständnis und könne zu einer Kränkung führen. Die daraus resultierende asymmetrische verbale, nonverbale und paraverbale Kommunikation äußere sich ihrer Ansicht nach z. B. im Nicht-Zuhören, im Übergehen von Fragen, in Themenwechseln, in Beziehungskommentaren oder in Zeichen der Geringschätzung durch Sprache, Mimik und Gestik bis hin zu Zeichen von Ärger und Aggression sowie zum Abbruch der Beziehung durch die konsultierten Ärzt:innen. Dabei nutzten die Ärzt:innen teilweise einen restringierten Sprachcode, obwohl die Patient:innen durchaus einen komplexen Sprachcode verständen. Der Grund hierfür sei, dass sie die Symptomenschilderungen, die Krankheit ME/CFS sowie die Erkrankten als Person nicht ernstnähmen. Den Patient:innen würden damit ihre geistigen Fähigkeiten abgesprochen. All diese Aspekte wurden auch von unseren Proband:innen immer wieder angeführt. Zudem würde durch das direktive Vorgehen der Ärzt:innen die Autonomie der Patient:innen beschnitten, über den Behandlungsprozess mitzuentscheiden (s. a. J18). In den 1950er-Jahren beschrieb Parsons [36, S. 428–479] erstmals die AP-Beziehung als ein Verhältnis, in dem die gesellschaftlich definierten Rechte und Pflichten der jeweiligen Rollenträger „Arzt“ und „Patient“ festgelegt sind. Seiner Ansicht nach handelt es sich grundsätzlich um eine asymmetrische Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass es sich bei den Patient:innen um hilfsbedürftige Laien, bei den Ärzt:innen jedoch um professionelle Expert:innen handele, die Verantwortung für die Erkrankten übernehmen und den Patient:innen die bestmögliche Behandlung bieten möchten. Begenau et al. [5, S. 11] gehen davon aus, dass dieses paternalistische Modell – trotz der immer wieder beschworenen Änderung der AP-Beziehung hin zu einem partnerschaftlichen Verhältnis – weiterhin das vorherrschende ist, da die Asymmetrie zwischen den wissenden Ärzt:innen und den unwissenden Patient:innen ja weiterhin als konstitutiver Bestandteil dieser Beziehung bestehen bleibe. Zudem werden diese Asymmetrie und die oftmals daraus resultierenden Spannungen durch die Form der medizinischen Ausbildung, den Habitus der Ärzt:innen und die Art der Leistungserbringung sowie die Perspektivendivergenz zwischen beiden Seiten verstärkt [4, 5, S. 7 f.].

Deutlich wird diese Asymmetrie v. a. dadurch, dass in Deutschland etwa 90 % der klinisch tätigen Ärzt:innen nach dem immer gleichen Schema im Anschluss an eine knappe einleitende Befragung den Patient:innen mitteilen, welche Erkrankung sie vermuten und sie darüber informieren, welche Tests nun zur Bestätigung ihrer Diagnose durchgeführt werden sollen. Nur 5 % der Ärzt:innen fragen die Patient:innen, was sie selbst über ihre Erkrankung denken. Fast drei Viertel der befragten Ärzt:innen hatten während ihrer Ausbildung nichts oder eher wenig über Gesprächsführung und die Kommunikation mit Patient:innen und Angehörigen gelernt [34]. Bezeichnenderweise beträgt die Eingangsredezeit der Patient:innen in Deutschland bei Kontakten mit Allgemeinmediziner:innen im Mittel nur 11 bis 24 s, die gesamte Konsultation knapp 6 bis 11 min [52]. Die durchschnittliche Dauer eines Arztkontaktes liegt bei etwa 8 min [20]. Begenau et al. [5, S. 7 f.] gehen davon aus, dass Ärzt:innen einerseits zwar nicht genügend Zeit für ein ausführliches Aufklärungsgespräch haben, andererseits aber auch das Informationsbedürfnis ihrer Patient:innen systematisch unterschätzen. Dies könne dazu führen, dass sich Patient:innen zu wenig beachtet, ungenügend aufgeklärt oder mit Fachbegriffen zugeschüttet fühlten, was wiederum die Asymmetrie im Verhältnis zwischen Ärzt:innen und Patient:innen weiter vergrößere und zu Spannungen führe. Auch unsere Proband:innen berichteten immer wieder davon, wie wenig Zeit sich die konsultierten Ärzt:innen für das ärztliche Gespräch nahmen (G38, H10, I82, I88, J84).

Comerford und Podell [14] weisen zudem darauf hin, dass ME/CFS-Patient:innen – wie auch durch unsere Proband:innen bestätigt (B6, H58, I92, J107) – in der Regel gezwungen sind, sich an Ärzt:innen zu wenden, die nicht in der Erkennung und Diagnose von ME/CFS geschult sind bzw. die ME/CFS nicht als eine neuroimmunologische Multisystemerkrankung betrachten. Dies führe zu einer erheblichen Beeinflussung und Beeinträchtigung der ohnehin schon arztzentrierten Beziehung. Proband:innen unserer Studie versuchten die Situation v. a. dadurch zu verbessern, dass sie den konsultierten Ärzt:innen Informationsmaterialien und wissenschaftliche Studien unterbreiteten, die dann jedoch meist ignoriert oder zurückgewiesen wurden (I49, J51). Tezcan-Güntekin [48, S. 103 f.] weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „die Asymmetrie zwischen Arzt und Patient nicht durch gute Informiertheit des Patienten überwunden oder vermindert werden kann, da die Basis dieser Asymmetrie nicht in der Menge der verfügbaren Informationen, sondern in der Erfahrung im professionellen Umgang mit der Krankheit begründet“ sei. Ihrer Ansicht nach kann es bei informierten Patient:innen nur dann zu einer guten AP-Beziehung kommen, wenn sich diese aufgrund ihres Vertrauens in die Entscheidungshoheit des Arztes/der Ärztin begeben. Das Vertrauen zum Arzt/zur Ärztin spielt hiernach also für das AP-Verhältnis eine wichtigere Rolle als umfangreiche Informationen über eine Erkrankung [48, S. 107]. Allerdings ist das Vertrauen zu ihren Ärzt:innen bei hier befragten Proband:innen (H78 und H44) u. a. durch das fehlende Fachwissen und ein als überheblich, arrogant und ignorant empfundenes Auftreten der Ärzt:innen bereits verlorengegangen.

Der „schwierige“ Patient und die ärztliche Sicht

Viele Proband:innen hatten das Gefühl, für ihre Ärzt:innen ein extrem schwieriger Fall zu sein, den niemand behandeln will (G37). Man werde insgesamt als „schwieriger“ Patient wahrgenommen (H47). Bezeichnenderweise gibt es im deutschsprachigen Raum gleich mehrere Bücher zum Thema „schwierige Patient:innen“, während „schwierige Ärzt:innen“ kaum thematisiert werden. Schwierig sind Patient:innen dann, wenn die behandelnden Ärzt:innen sie so einordnen. Aus der Sicht der Patient:innen kann die Situation durchaus umgekehrt sein, wie die Berichte unserer Proband:innen immer wieder zeigten. Schwierige Patient:innen sind aus Sicht der Ärzt:innen in der Regel solche mit problematischen Persönlichkeitsanteilen, schwierigen Handlungsweisen und real oder vermeintlich schwierigen Motiven in der vorliegenden aktuellen Behandlungssituation [25, S. 16 f.]. Sonntag [44, S. 19] betont, dass Patient:innen bei ihren Ärzt:innen dann einen ansprüchlichen, unkooperativen und schwierigen Eindruck hinterlassen, wenn sie dem möglicherweise angemessenen Konzept des Arztes/der Ärztin nicht erwartungsgemäß folgen. Nach Schubert [43, S. 149] halten Ärzt:innen eine AP-Interaktion dann für gelungen, wenn die Patient:innen mit ihnen kooperieren, ihre Autorität anerkennen und wenn sie der Meinung sind, helfen zu können. Bühring [10] betont dagegen, dass „schwierige“ Patient:innen im Grunde solche sind, die negative Gefühle wie Ärger, Frustration, Wut, Überforderung oder Hilflosigkeit bei ihrem Gegenüber auslösen. Hierzu gehören z. B. Patient:innen, die aus Sicht der Ärzt:innen nicht auf den Punkt kommen, alles besser wissen, ihnen die Kompetenz absprechen oder aggressiv auftreten. Kowarowsky [25, S. 59] geht andererseits davon aus, dass Patient:innen immer dann zu „schwierigen“ Patient:innen werden, wenn sie ihre menschlichen Grundbedürfnisse, etwa nach Wertschätzung, Solidarität und Autonomie, als verletzt oder bedroht wahrnehmen. Auch die Proband:innen unserer Studie berichteten, dass sie bei den konsultierten Ärzt:innen Überforderung oder Hilflosigkeit wahrnahmen (J61, G16). Andere berichteten dann von Ignoranz und Aggressivität seitens der Ärzt:innen (A8, G33).

Begenau et al. [5, S. 13] betonen in diesem Zusammenhang, dass die Patientenperspektive im Medizinstudium auch heute noch kaum von Bedeutung sei. Die geschilderte Asymmetrie werde sukzessive erlernt, bis sie schließlich zum ärztlichen Habitus gehöre. Dabei spiele auch der weiße Kittel als „Demarkationslinie“ gegenüber den Patient:innen eine wichtige Rolle. Nach Schubert [43, S. 156] gehört zu dieser Objektivierung der Patient:innen durch die Ärzt:innen auch die Diskussion am Krankenbett, ohne den jeweiligen Patienten einzubeziehen, und seine Betrachtung als biomedizinischer Krankheitsfall, der sich in der Patientenakte widerspiegele. Über unbequeme Patient:innen würden häufig abwertende Bemerkungen gemacht, meist in deren Abwesenheit. Es komme jedoch auch vor, dass Patient:innen eingeschüchtert und für ihre Erkrankung selbst verantwortlich gemacht würden. Auch dies berichteten ME/CFS-Patient:innen unserer Studie (B5). Wie Schubert [43, S. 156] kritisierten sie zudem, dass der Kontakt zu ihnen oft auf ein Minimum reduziert oder ganz vermieden würde, wenn man sie nicht physisch loswerden könne (G33, H52, H53, J148).

Limitationen der Studie

Die Studie betrachtet das AP-Verhältnis ausschließlich aus der Perspektive der ME/CFS-Patient:innen. Es wäre daher wünschenswert, wenn eine Folgestudie sich mit dem AP-Verhältnis aus Sicht der behandelnden Ärzt:innen beschäftigen würde.

Die qualitative Analyse des Datenmaterials aller 549 Proband:innen, also des gesamten Samples, ist für eine qualitative Studie sehr ungewöhnlich. Dies geschah zum einen, um keine Hinweise der Studienteilnehmer:innen zu übersehen, die später von Relevanz für die Entwicklung darauf aufbauender Verbesserungsvorschläge sein könnten, und zum anderen, um dem potenziellen Argument einer Antwortselektion schon vorab zu begegnen. Auch war eine Erschließung aller Texte nötig, um für eine spätere Quantifizierung der qualitativen Daten den Boden zu bereiten. Um die Texte inhaltlich möglichst gut durchdringen zu können, wurde die Untersuchung ohne die Unterstützung durch eine qualitative Analysesoftware durchgeführt, d. h. die Daten wurden in einem Zeitraum von 6 Wochen von Hand ausgewertet. Ungewöhnlich ist auch die sehr große Anzahl der Probandenzitate im Ergebnistext. Da die betroffenen ME/CFS-Patient:innen, ihre Erfahrungen und die dadurch bei ihnen ausgelösten Empfindungen im Mittelpunkt dieser Studie stehen, war es für uns selbstverständlich, dass sie im Sinne eines patientenzentrierten Ansatzes auch immer wieder selbst mit ihren eigenen Aussagen zu Wort kommen sollten. Wir sind der Ansicht, dass nur so Ärzt:innen und andere Akteure im Gesundheitssystem nachvollziehen können, welche Folgen ihr Auftreten und Handeln bei den Erkrankten auslöst.

Über die genaue Zahl der ME/CFS-Erkrankten in Deutschland ist bislang noch wenig bekannt. Viele Betroffene sind zudem nicht oder nur unter einer anderen Diagnose in ärztlicher Behandlung. Daher wurden unsere Proband:innen im Rahmen einer offenen Rekrutierung gewonnen. Dies gelang über den Zugang zu den fünf wichtigsten ME/CFS-Selbsthilfegruppen in Deutschland und zu den bislang einzigen Behandlungszentren für ME/CFS-Erkrankte in Berlin und München. Anhand der erhobenen demografischen Variablen konnte gezeigt werden, dass das Sample zumindest im Hinblick auf das Geschlecht – Frauen sind mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer [27] – den Erhebungen früherer Studien entspricht.

Grundsätzlich gibt es bei qualitativen Studien das Problem, dass eine Generalisierung der gewonnenen Aussagen je nach angewandter Methode und der Zusammensetzung des Samples nur sehr eingeschränkt möglich ist. Allerdings kann nach Mayring [28] das Arbeiten mit einer größeren Anzahl an Proband:innen – wie bei unserer Studie – generell als Strategie verfolgt werden, da umso besser generalisiert werden kann, je mehr Fälle analysiert werden. Beim Sampling durch Selbstaktivierung ergeben sich jedoch auch automatisch Selektionsprozesse [40, S. 141 f.]. Zudem besteht auch beim Sampling nach dem Schneeballprinzip die Gefahr, dass es zu einer stärkeren Homogenität der gewonnenen Informationen kommt und weitere relevante Informationen nicht erfasst werden. Möglich ist auch, dass sich die Befragten untereinander austauschen und dadurch die Datenvarianz einengen [32, S. 102, 40, S. 141 f.]. Dies wurde jedoch aus unserer Sicht durch die sehr große Zahl an Studienteilnehmer:innen mehr als wettgemacht.

Um auch Personen mit moderatem bis schwerem Krankheitsverlauf (und damit sehr geringen Energiereserven) in die Studie einzubeziehen, wurde die Befragung schriftlich durchgeführt. Dies hatte den Nachteil, dass keine Nachfragen möglich waren. Aufgrund des umfangreichen Textmaterials insgesamt und pro Person waren solche Nachfragen jedoch auch nicht nötig. Auch Informationen über die Körpersprache der Proband:innen konnten durch die schriftliche Erhebung nicht in die Auswertung mit einbezogen werden. Einige Probandinnen drückten ihre Gefühle jedoch über Emojis im Text aus und unterstrichen damit die zuvor geäußerten schriftlichen Aussagen.

Fazit für die Praxis

  • Das Auftreten und Verhalten der Ärzt:innen ist für ME/CFS-Erkrankte ein zentraler Aspekt einer meist als problematisch erlebten Arzt-Patient-Beziehung, die sich nicht auf Augenhöhe befinde. Die Betroffenen fühlen sich oft in die Kategorie „schwierige Patient:innen“ eingeordnet. Die Studienergebnisse zeigen, welche große Bedeutung ein gutes AP-Verhältnis für die Patient:innen und ihre gesundheitliche Situation hat. Daher sollten Schulungen zu ME/CFS insbesondere auch auf die interaktionellen Grundbedürfnisse von Patient:innen und Ärzt:innen eingehen.

  • Basierend hierauf sollen nun weitere Faktoren analysiert werden, die helfen sollen, das AP-Verhältnis bei ME/CFS zu verbessern. Zudem sollen die Auswirkungen von problematischen AP-Verhältnissen auf die Gesundheit der Erkrankten untersucht werden. Ziel ist es, Handlungsempfehlungen für eine möglichst optimale Versorgung von ME/CFS-Patient:innen zu erarbeiten, um die gesundheitliche Situation der Erkrankten zu verbessern.