Hinführung zum Thema

Geschwisterbeziehungen sind Primärbeziehungen und in den meisten Fällen die am längsten andauernden zwischenmenschlichen Beziehungen [14]. Achilles [1] beschreibt „Geschwister behinderter Kinder müssen vieles lernen und können. Sie sind Spielgefährte, Babysitter, Freund, Pfleger, Erzieher, Lehrer, Unterhalter, Co-Therapeut, Fürsprecher, Dolmetscher und in manchen Situationen sogar mal Ersatzmutter oder Ersatzvater für ihre behinderte Schwester oder ihren behinderten Bruder (S. 11).“ Forschende konnten darüber hinaus sowohl Belastungen als auch Ressourcen aufgrund des Aufwachsens mit einem Geschwister mit einer Erkrankung/Behinderung feststellen [4, 7].

Hintergrund

Risikofaktoren

Durch eine schwere Erkrankung/Behinderung eines Geschwisters treten oftmals einschneidende Veränderungen im System Familie auf. So sind die Kinder und Jugendlichen häufig mit vielen neuen Alltagsroutinen [16] und der Abwesenheit der Eltern konfrontiert [2]. Zudem kann es zu einer Ungleichbehandlung der Kinder seitens der Eltern kommen [1] sowie zu höheren schulischen Erwartungen [12]. Finanzielle Belastungen können zu Einschränkungen der Freizeitbeschäftigungen der gesunden Geschwisterkinder führen. Das elterliche Stressniveau und die elterliche Belastung, welche sich auch auf deren Kinder auswirken, tragen darüber hinaus zu einer Verschlechterung der familiären Kommunikation bei [28]. Durch mangelnde Kommunikation über die Erkrankung und deren Auswirkungen können Ängste entstehen und falsche Erwartungen geweckt werden [27]. Weiterhin besteht das Risiko, die Geschwister mit Aufgaben im Haushalt und Verantwortung gegenüber dem erkrankten Kind zu überfordern. Viele Geschwister stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück [1]. Eigene und berechtigte emotionale Reaktionen auf die belastende Situation werden dadurch nicht immer zugelassen und teilweise unterdrückt [29]. Auf sozialer Ebene berichten Geschwister von Diskriminierungserfahrungen im Kontext ihres erkrankten/behinderten Geschwisters [1, 7]. Dadurch entstehen Loyalitätskonflikte zwischen Zugehörigkeitsgefühl zur Familie und zum weiteren sozialen Umfeld [13].

Schutzfaktoren

Den risikoerhöhenden Faktoren können personale Ressourcen sowie ein stabiles familiäres System entgegenwirken [15]. Die soziale Unterstützung in der Familie sowie darüber hinaus begünstigt das Wohlbefinden der Geschwister, verbessert die Stressbewältigung und die Geschwisterbeziehung [6]. Weiterhin wurde bei förderlichen familiären Verhältnissen eine frühere Unabhängigkeit und Selbstständigkeit sowie ein gestärktes Verantwortungsbewusstsein bei gesunden Geschwistern beobachtet [12]. Gleichzeitig konnten ein deutlich prosozialeres Verhalten im Vergleich zu den Peers sowie höhere Empathiefähigkeit [21] und Toleranz [7] festgestellt werden. Zur Förderung dieser Resilienzfaktoren von Geschwistern wurden standardisierte Präventionskonzepte entwickelt [9, 18].

Aufsuchen von Unterstützungsangeboten

Um die flächendeckende Versorgung hinsichtlich präventiver Angebote in der Geschwisterbegleitung voranzubringen, gilt es, mögliche soziodemografische Risikofaktoren bei Familien mit erkrankten/behinderten Kindern zu erkennen, um daran anschließend gezielte Angebote und Anlaufstellen zu vermitteln. In der Praxis der Geschwisterbegleitung stellen Fachpersonen immer wieder fest, dass besonders stark belastete Familien Unterstützungsangebote aufsuchen. Einige wenige wissenschaftliche Untersuchungen konnten bereits zeigen, dass bei Familien von kranken/behinderten Kindern überzufällig häufig weitere Risikofaktoren vorliegen. Demnach hängt die Auftrittswahrscheinlichkeit von Leukämie bei Kindern mit höherer familiärer Armut zusammen [24]. Ergebnisse des repräsentativen Kinder- und Jugendgesundheitssurveys aus Deutschland weisen ebenfalls darauf hin, dass das Auftreten einiger chronischer Erkrankungen mit einem niedrigeren Sozialstatus einhergeht [17]. Die Annahme, dass besonders belastete Familien Unterstützungsangebote aufsuchen, wurde jedoch von Eapen [8] nicht bestätigt. Familien mit erhöhtem Risiko für Entwicklungsschwierigkeiten suchen demnach seltener Unterstützungsangebote auf. Weitere Forschung ist notwendig.

Kumulatives Risiko

Die sozialen, ökonomischen und psychologischen Aspekte des Familiensystems, in dem ein Geschwisterkind aufwächst, können als getrennte soziodemografische Risikofaktoren verstanden werden. Das Vorliegen eines einzelnen Risikofaktors hängt dabei mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zusammen, dass es zu Entwicklungsschwierigkeiten kommt [26]. Verschiedene soziodemografische Eigenschaften wurden bereits mit einem erhöhten Risiko für kindliche Entwicklungsprobleme in Verbindung gebracht. Häufig werden folgende Aspekte beschrieben: Geschlecht, Einkommen, elterliche Bildung, alleinerziehender Haushalt, junge Elternschaft und ethnische Zugehörigkeit. Je nach Fokus der Untersuchung und Datenverfügbarkeit werden in der Forschung verschiedene weitere Risikofaktoren berücksichtigt [11].

Der Effekt eines einzelnen Risikofaktors kann jedoch klein sein. Zudem können sich Belastungen aus der Interaktion von Risikofaktoren geben. Hat beispielsweise ein alleinerziehendes Elternteil zusätzlich ein stark reduziertes soziales Unterstützungsnetz, so kann dies zu reduzierter Aufmerksamkeit für die Kinder führen. Um die Auswirkungen von multiplen Risikofaktoren abzubilden, wurde der kumulative Risikoansatz [26] entwickelt. Jede Risikovariable wird dazu dichotomisiert: 0 = Risikofaktor liegt nicht vor vs. 1 = Risikofaktor liegt vor. Für jedes Kind wird anschließend summiert, wie viele Risikofaktoren vorliegen. Dieser kumulative Risikoindex kann zwischen Null und der Anzahl der untersuchten Risikofaktoren liegen. Je höher der kumulative Risikoindex, desto mehr potenziell ungünstige Bedingungen bestehen [26]. In einer Studie des US National Center for Children in Poverty wurden 8 Risikofaktoren bei knapp 24 Millionen Kindern untersucht. Bei 41 % der Familien lagen 1–2 Risikofaktoren vor; ≥ 3 Risiken bestanden bei 20 % [25]. Im Vergleich zu Geschwistern von Kindern mit typischer Entwicklung, liegt bei Geschwistern von Kindern mit Erkrankung/Behinderung jeweils mindestens 1 Risikofaktor vor; die entsprechende Erkrankung/Behinderung ist der Risikofaktor. Es bestehen in diesen Familien also per se mehr Risikofaktoren als im Populationsdurchschnitt. Ein höherer kumulativer Risikoindex korreliert mit negativen Auswirkungen für die kindliche Entwicklung. Zusammenhänge wurden z. B. für psychische und körperliche Gesundheit sowie kognitive Leistung bestätigt [11]. Unterstützungsangebote für Geschwister von Kindern mit Erkrankung/Behinderung sollten besonders jene Familien erreichen, welche hoch belastet sind.

Das Ziel dieser Studie ist es, Familien zu analysieren, welche das Präventionsangebot GeschwisterCLUB aufsuchen. Es sollen die Fragen beantwortet werden: Wie stark sind die Familien durch die Erkrankung/Behinderung des betroffenen Kindes in der Familie belastet? Welche weiteren soziodemografischen Risikofaktoren liegen in den Familien vor? Die Studie erprobt dazu erstmals in der Geschwisterforschung die Anwendung des Kumulativen Risikoansatzes.

Methode

Im Zeitraum von Februar 2020 bis August 2021 wurden im Rahmen des Projekts „Starke Geschwister“ Prä‑, Post- und Follow-up-Befragungen zur Evaluation der primärpräventiven Präventionskurse „SuSi – Supporting Siblings“ [18] und „GeschwisterTREFF ‚Jetzt bin ICH mal dran!‘“ [9] durchgeführt. Diese Kurse sind Teil des bedarfs- und bedürfnisorientierten Präventionskonzepts „GeschwisterCLUB“, welches verschiedene Angebote für Geschwister von Kindern mit Erkrankung/Behinderung umfasst. Die Angebote wurden diagnoseunspezifisch für Kinder und Jugendliche (3 bis 18 Jahre) konzipiert. So sollen im Rahmen des Angebots „Supporting Siblings“ Stressbewältigungs- und Sozialkompetenzen vermittelt und das Selbstwertgefühl verstärkt werden [18]. Der Kurs „GeschwisterTREFF ‚Jetzt bin ICH mal dran!‘“ legt den Fokus auf die Stärkung der Resilienz durch die Vermittlung von sozial-emotionalen Lebenskompetenzen und der Förderung von Ressourcen [9]. Die befragten Kinder und Jugendlichen wurden, soweit aufgrund der Coronaschutzmaßnahmen möglich, deutschlandweit in gemeinnützigen Organisationen im Rahmen familiärer Versorgung betreut und begleitet. In diesem Rahmen wurde die Teilnahme an den Präventionsprogrammen [9, 18] angeboten. Abhängig von den jeweils lokalen und zeitlichen Gegebenheiten wurden die primärpräventiven Interventionen als wöchentlicher Kurs oder als Kompaktkurs im Rahmen einer Freizeit angeboten.

Neben soziodemografischen Fragen erfassten standardisierte Verfahren Ressourcen, Stressverarbeitung und psychische Belastung der teilnehmenden Geschwister. Die familiäre Belastung wurde anhand des Familienbelastungsfragebogens (FaBel; [23]) im Elternbericht erfasst. Dessen Skalen messen die tägliche und soziale Belastung, die Belastung der Geschwisterkinder, die finanzielle Belastung, die persönliche Belastung/Zukunftssorgen und Probleme bei der Bewältigung (der Eltern). Bei den Untersuchten handelte es sich einerseits um gesunde Geschwister, die an einem Präventionsangebot teilgenommen haben und andererseits um Kinder, die pandemiebedingt keinen Kurs des GeschwisterCLUB besuchen konnten. Zur Analyse wurden die Prämessungen vor Intervention aller Familien eingeschlossen, bei denen vollständige Angaben vorlagen. Zunächst wurden die Belastungen aufgrund der Erkrankung/Behinderung anhand des FaBel dargestellt und durch t‑Tests mit den Daten von Ravens-Sieberer et al. [23] verglichen. Weiterhin wurde das Effektstärkemaß Cohen’s d berechnet. Im Anschluss wurde das Vorliegen von verschiedenen weiteren soziodemografischen Risikofaktoren in der Studienkohorte „Starke Geschwister“ analysiert. Diese Risikofaktoren wurden zu einem kumulativen Risikoindex aggregiert. Basierend auf der Literaturrecherche wurden folgende Variablen analysiert: Es bestand ein Risiko, wenn:

  • in der Familie ≥ 4 Kinder leben (Familiengröße; [3]),

  • die Mutter bei der Geburt des befragten Kindes 20 Jahre oder jünger war [3, 19, 22],

  • das Bildungsniveau der Eltern unter dem einer Berufsausbildung oder dem Abitur bleibt (Bildungsniveau; [3, 10, 19, 22]),

  • das Kind bei einem alleinerziehenden Elternteil lebt (alleinerziehend; [3, 10, 19, 20, 22]),

  • ein Migrationshintergrund besteht [5],

  • die Geschwister mit kritischen Lebensereignisse konfrontiert wurden bzw. diese aktuell sehr präsent sind [20],

  • die Geschwister keine feste/nahe Bezugsperson haben [19, 20].

Ergebnisse

Die Stichprobe bestand aus 79 Kindern mit einem Altersdurchschnitt von 10,69 (SD = 2,34) Jahren, 67 % der Befragten waren Mädchen. 53 der Geschwister (67,1 %) nahmen an einem GeschwisterCLUB-Angebot [9, 18] teil. Die Fremdbeurteilung, von insgesamt n = 79 Eltern, wurde in 68 Fällen (86,1 %) von der Mutter ausgefüllt. Die erhobenen FaBel-Belastungswerte innerhalb der Studie „Starke Geschwister“ wurden mit der Vergleichsstichprobe von Ravens-Sieberer et al. [23] mit 256 Familien von chronisch kranken und behinderten Kindern verglichen. Hierfür wurde die gerichtete Hypothese getestet, dass v. a. stark belastete Familien Unterstützungsangebote aufsuchen. Die Ergebnisse finden sich in Tab. 1. Es zeigte sich, dass in der vorliegenden Stichprobe über alle FaBel-Skalen hinweg statistisch signifikant höhere Mittelwerte als in der Vergleichsstichprobe, bei kleinen bis mittleren Effekten, vorlagen.

Tab. 1 Familiäre Belastungen im Vergleich zwischen vorliegender Stichprobe und den Vergleichsdaten [23]

Die Ergebnisse der Untersuchung weiterer soziodemografischer Risikofaktoren können in Tab. 2 nachvollzogen werden. Von den 79 befragten Kindern und Jugendlichen lebten 12 (15,2 %) nach Angaben des ausfüllenden Elternteils in einer Familie mit vier oder mehr Kindern. Hinsichtlich des Alters der Mutter bei der Geburt des befragten Kindes konnten nur jene Fälle berücksichtigt werden, bei denen die Mutter die Angaben zur Anamnese gemacht hatte. Daher besteht in diesem Fall eine kleinere Stichprobe von 67 Personen. Das Alter der Mutter bis 20 Jahre bei der Geburt des gesunden Kindes traf auf drei (4,5 %) Familien zu. Bildungsabschlüsse unterhalb von Berufsausbildung oder Abitur betrafen 16 von 79 teilnehmenden Eltern (20,3 %). Von den 79 Kindern lebten 7 (8,9 %) bei einem alleinerziehenden Elternteil. Ebenso wies in sieben Familien (8,9 %) mindestens ein Elternteil einen Migrationshintergrund auf. In dieser Untersuchung wurden folgende Nennung als kritische Lebensereignisse gezählt: Umzug, Krankenhausaufenthalte der Eltern (physische oder psychische Ursachen oder räumliche Trennung durch Behandlung des Geschwisters), Todesfälle, Auszug des erkrankten/behinderten Geschwisters, Trennung der Eltern. Die COVID-19-Pandemie („coronavirus disease 2019“) und ihre Auswirkungen wurden hier nicht explizit mit aufgenommen. Von den 79 befragten Elternteilen gaben 14 (17,7 %) an, dass ihr befragtes Kind eines oder mehrere der oben genannten Ereignisse erlebt hat und diese zum Zeitpunkt der Befragung bei ihrem Kind präsent waren. Nur zwei Elternteile (2,5 %) konnten keine dem Geschwister nahestehende Bezugsperson nennen.

Tab. 2 Häufigkeiten der Risikofaktoren

Neben dem Aspekt, dass Kinder mit einem erkrankten/behinderten Geschwister per se einen Risikofaktor für das Entstehen von Entwicklungsschwierigkeiten aufweisen, wurden weitere soziodemografische Angaben der Familien in die Analyse einbezogen. Abb. 1 zeigt, dass 35 der Befragten (44,3 %) keine weiteren Risikofaktoren, neben dem des erkrankten/behinderten Geschwisterkindes, aufwiesen. In 29 Fällen (36,7 %) bestand ein weiterer Risikofaktor, in 13 Fällen (16,5 %) zwei und bei zwei Personen (2,5 %), laut den soziodemografischen Angaben, drei weitere Risikofaktoren. Insgesamt waren 55,7 % der Geschwister mit mehr als einem Risikofaktor konfrontiert.

Abb. 1
figure 1

Kumulative Risikoanalyse

Diskussion

Das Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, Risikofaktoren bei Familien von Kindern mit chronischen Erkrankungen/Behinderungen innerhalb der Studienkohorte „Starke Geschwister“ zu untersuchen. Es sollte geprüft werden, ob es sich bei Teilnehmenden von Unterstützungsangeboten um Geschwisterkinder handelt, welche ein erhöhtes Risiko für Entwicklungsschwierigkeiten aufweisen.

Es zeigten sich im Elternbericht im Vergleich zur FaBel-Vergleichsstichprobe statistisch signifikant höhere Belastungen bei allen Skalen. Hinsichtlich der Facetten persönliche Belastung/Zukunftssorgen sowie tägliche und soziale Belastung gaben Eltern die höchsten Werte an. Der deutlichste Unterschied mit einem Effekt von Cohen’s d = −0,94 zeigte sich in der Geschwisterskala. Hier beschrieben die Eltern der untersuchten Stichprobe eine signifikant größere Belastung. Die Erkrankung oder Behinderung eines Kindes lässt sich demnach auch in dieser Stichprobe als Risikofaktor für negative Entwicklungsoutcomes für Geschwisterkinder durch beispielsweise die ungleich verteilte Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern zu den Kindern einstufen [1]. Die erhöhten Belastungswerte in der aktuellen Kohorte könnten entgegen vorheriger Erkenntnisse [8] darüber erklärt werden, dass Familien mit niedrigem Belastungserleben keine Unterstützungsangebote aufsuchen. Eine mögliche Erklärung ist ebenfalls ein Unterschied aufgrund von Differenzen bezüglich der untersuchten Erkrankungen bzw. Behinderungen. In der aktuellen Studie sind häufiger Familien von Kindern mit Krebserkrankung vertreten.

Eine wichtige Ergänzung zur aktuellen Forschungslage liefert die Analyse weiterer soziodemografischer Risikofaktoren. In den untersuchten Familien lagen bis zu drei weitere Risikofaktoren neben der Erkrankung/Behinderung vor. Bei 44,3 % lag ausschließlich der primäre Risikofaktor der Erkrankung/Behinderung des Bruders oder der Schwester vor, bei 36,7 % zwei Risikofaktoren, bei 16,5 % drei Risikofaktoren und bei 2,5 % vier Risikofaktoren. Im Vergleich zu Daten des National Center for Children in Poverty [25] bestehen in der vorliegenden Untersuchung insgesamt häufiger Risikofaktoren. Ohne Berücksichtigung der Erkrankung bzw. Behinderung eines Kindes in den Familien ist der Prozentsatz an Geschwisterkindern mit mindestens einem Entwicklungsrisikofaktor vergleichbar mit der Populationsschätzung aus den USA (55,7 % vs. 61 %). Es ist zu vermuten, dass es sich um durchschnittliche Familien handelt, welche eine erhebliche Zusatzbelastung bzw. Risiko durch die Erkrankung oder Behinderung eines Kindes erfahren. Es kann davon ausgegangen werden, dass die betrachteten Unterstützungsangebote tatsächlich die Zielgruppe stark belasteter Familien erreichen. Die bestehenden Angebote sollten daher fortgeführt und ausgebaut werden.

Eine Stärke der vorliegenden Arbeit ist die Analyse von Daten aus ganz Deutschland. Der kumulative Risikoansatz wurde hier erstmals auf Geschwister von Kindern mit Erkrankung oder Behinderung angewendet. Die untersuchten sieben Risikofaktoren bilden typische Indikatoren aus verschiedenen Lebensbereichen ab. Der kumulative Risikoansatz ist durch verschiedene methodische Aspekte limitiert. Die Information über Intensität von Risikofaktoren entfällt durch die Teilung in Risiko vs. kein Risiko anhand eines Grenzwerts. Diese Cut-offs wurden aus bestehenden Publikationen übernommen. Sie sind jedoch arbiträr und können von Untersuchenden festgelegt werden. Dies erschwert Vergleiche bezüglich der Risikofaktorenanzahl in Stichproben. Die Referenzzahlen aus den USA [25] wurden anhand anderer Risikofaktoren ermittelt als in der vorliegenden Studie. Es werden zwar häufig ähnliche Aspekte beleuchtet, jedoch bestehen keine Richtlinien, welche soziodemografischen Variablen einbezogen werden müssen. Aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie kann es sein, dass in vielen der befragten Familien die soziale Isolation deutlicher ausfiel als in anderen Familien ohne schwere Erkrankungen/Behinderungen, was eine höhere Belastung begünstigt. Eingeschränkt ist die Aussagekraft der gewonnenen Erkenntnisse durch den geringen Stichprobenumfang, der eine Generalisierbarkeit nicht möglich macht. Auch wurden nur Familien befragt, die im Rahmen der familiären Versorgung betreut werden, wodurch die Ergebnisse nur eingeschränkt als repräsentativ für Geschwister von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen zu bewerten sind.

Zukünftige Forschung sollte weitere methodische Ansätze zur Betrachtung von zusätzlichen Belastungen bei Geschwistern von Kindern mit Erkrankung/Behinderung einbeziehen. Weiterhin sollten die Zusammenhänge zwischen kumulativem Risiko und tatsächlichen Entwicklungsoutcomes sowie deren zugrunde liegenden Prozesse bei Geschwisterkindern untersucht werden. Allgemein sind größere Stichprobenumfänge im Feld der Geschwisterforschung wünschenswert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Teilnehmende an Präventionsangeboten für Geschwister von Kindern mit Erkrankung/Behinderung aus Familien stammen, welche durch die entsprechende Erkrankung/Behinderung belastet sind. Zudem bestehen bei vielen dieser gesunden Geschwisterkinder weitere soziodemografische Risikofaktoren. Die Präventionsangebote erreichen tatsächlich die Kinder, die großen Bedarf an Unterstützung einer positiven kindlichen Entwicklung haben.

Fazit für die Praxis

  • Der GeschwisterCLUB bietet gezielte Präventionsangebote für Geschwister von Kindern mit einer Erkrankung oder Behinderung.

  • Diese Angebote erreichen Familien, welche höher belastet sind als Familien von Kindern mit chronisch kranken Kindern im Durchschnitt.

  • Bei den meisten teilnehmenden Familien liegt mindestens ein weiterer soziodemografischer Risikofaktor vor.

  • Der kumulative Risikoansatz bietet neue Perspektiven für die Geschwisterforschung.