Einleitung

Bewegungsmangel gehört nach Bluthochdruck, erhöhtem Blutzucker und Rauchen zu dem vierthäufigsten Risikofaktor für weltweite, vorzeitige Todesfälle und ist mitverantwortlich für die Entstehung nichtübertragbarer Erkrankungen [15, 23]. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben weltweit etwa 3,2 Millionen Menschen pro Jahr an den Folgen physischer Inaktivität [21]. Erwachsene zwischen 18 und 65 Jahren sollten laut den Bewegungsempfehlungen des Bundesgesundheitsministeriums mindestens 150 Minuten pro Woche eine ausdauernde Bewegung bei mittlerer Intensität oder mindestens 75 Minuten pro Woche bei höherer Intensität ausüben [7, 8]. Ergebnisse der DEGS-Studie aus dem Jahr 2016 zeigen allerdings, dass 74,6 % der Männer und 84,5 % der Frauen weniger als 2,5 Stunden pro Woche körperlich aktiv sind [25]. Eine Vielzahl an Studien belegt den Nutzen körperlicher Aktivität für die Gesundheit. So wurden beispielsweise Zusammenhänge zwischen körperlicher Aktivität und Herz-Kreislauf-Erkrankungen [10, 14], Diabetes Typ 2, einigen Krebserkrankungen [8, 10, 14] und psychischen Krankheiten [7, 8, 10, 25, 26] nachgewiesen.

Die physische Aktivität in der Bevölkerung zu steigern, ist deshalb eine wichtige Aufgabe der Gesundheitsförderung und Public Health. Dabei fördert bereits die Integration kleiner Bewegungseinheiten in den Alltag die Gesundheit. Durch sog. „Lifestyle-Aktivitäten“, zu denen beispielsweise Fahrradfahren, Haus- oder Gartenarbeit oder Treppensteigen gehören, lassen sich die durch den Bewegungsmangel assoziierten Erkrankungen vorbeugen und das relative Risiko der frühzeitigen Sterblichkeit reduzieren [23]. Gerade Treppensteigen bietet eine ideale Gelegenheit, sich ohne großen Aufwand und finanzielle Kosten zu bewegen [32]. Die wissenschaftliche Datenlage bestätigt den gesundheitlichen Nutzen des Treppensteigens, u. a. im Hinblick auf kardiovaskuläre Risikofaktoren [7, 23, 29], den Blutdruck [7, 10, 23], das Gewicht, den Taillenumfang [4, 30] sowie die allgemeine Fitness [2, 4, 29]. Adams et al. (2006) fanden jedoch heraus, dass gerade einmal knapp 10 % der Menschen die Treppe wählen, sobald alternativ ein Aufzug verfügbar ist [1].

Nudging

Der Begriff „Nudge“ kommt ursprünglich aus der Verhaltensökonomie und wurde im Jahr 2006 durch den Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler und den Rechtswissenschaftler Cass Sunstein geprägt. Ein Nudge zielt darauf ab, durch die gezielte Gestaltung der Umgebungsbedingungen das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise zu verändern. Zu diesen Umgebungsbedingungen, die von Thaler und Sunstein auch als „Entscheidungsarchitektur“ definiert werden, gehören alle physischen, psychologischen oder sozialen Faktoren, die einen unmittelbaren Einfluss auf die Entscheidungsfindung von Individuen haben. Dem Nudging-Ansatz liegt der libertäre Paternalismus zugrunde, der besagt, dass eine Entscheidungsbeeinflussung dann legitimiert ist, sobald sie das Wohlergehen von Menschen oder Bevölkerungsgruppen fördert und diese nicht in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt werden [31]. Vor allem in Großbritannien hat Nudging durch das dafür gegründete „Behavioural Insights Team“ (BIT) im Jahr 2010 an Aufmerksamkeit gewonnen [5]. Auch das in den USA 2014 gegründete „Social and Behavioral Science Team“ (SBST) beriet unter der Obama-Administration die amerikanische Regierung und nutzte Erkenntnisse aus den Sozial- und Verhaltenswissenschaften, um Verbesserungen auf Politik- und Bevölkerungsebene zu initiieren [28]. 2015 entstand in Deutschland eine Arbeitsgruppe unter dem Namen „Wirksam regieren“. Die Zielsetzung liegt v. a. darin, die Bürger*innen zu „empowern“ und alternative Lösungsansätze zu suchen, um die „Wirksamkeit politischer Maßnahmen zu erhöhen“ [6]. Die Erkenntnisse aus der Verhaltenspsychologie können einen Anreiz für Maßnahmen auf verhaltens- und verhältnispräventiver Ebene darstellen und für alle Bevölkerungsgruppen umgesetzt werden. Nudging im Bereich Gesundheit soll v. a. darauf abzielen, gesundes Verhalten attraktiver und einfacher zu gestalten [22]. Diese Gestaltung kann durch unterschiedliche Methoden evoziert werden. Laut Thaler und Sunstein werden Entscheidungen allerdings selten rational getroffen, sondern sind von Einflussfaktoren bestimmt [31]. Diese Theorie greift auch der Kognitionspsychologe Daniel Kahnemann auf und kategorisiert menschliches Denken in 2 Systeme: System 1 ist evolutionär angeboren und verhält sich wie ein „Autopilot“. Es wird als unbewusst, intuitiv und schnell bezeichnet und trifft die meisten Alltagsentscheidungen [19]. Das schnelle Denken orientiert sich häufig an Umgebungsfaktoren und Informationen, die am Ort einer Entscheidung auftreten. Schnelle Entscheidungen sind jedoch häufig verzerrt, da sie nur kurzfristig attraktiv erscheinen, langfristig jedoch negative Folgen haben könnten [9]. Diesem Denken gegenüber steht System 2: das reflektierende, bewusste und langsame Denken. Es kommt zum Vorschein, sobald Menschen wichtige, ungewohnte und komplexe Entscheidungen treffen müssen [19]. Diese Verhaltensmuster können im Sinne von Nudging-Interventionen gezielt genutzt werden, um ein spezielles Verhalten zu beeinflussen [9]. Die Mehrheit der Nudging-Interventionen setzt an System 1 an, indem sie die automatischen und schnellen Entscheidungen beeinflussen und so u. a. bei Alltagsentscheidungen, wie der Wahl zwischen der Treppe und dem Aufzug helfen können [24]. Einige Nudging-Interventionen stimulieren aber auch System 2, in dem sie durch Informationen und Aufklärung zur aktiven Kompetenzsteigerung von Individuen beitragen [17].

Nudging zeigt sich als besonders niedrigschwellige Möglichkeit, Menschen zu mehr Bewegung und somit zu mehr Treppensteigen zu motivieren. Es stellt eine kostengünstige Maßnahme dar, die mit bestehenden Interventionen zur Bewegungsförderung kombiniert werden kann [22, 29]. In der Forschung gibt es bereits einige Studien, die einen Nutzen von Interventionen zur Steigerung der Treppennutzung berichten. Zahlreiche positive Effekte von motivationalen Entscheidungshilfen („point of decision prompts“) werden im Zusammenhang mit dem Treppensteigen berichtet. So fand eine systematische Übersichtsarbeit heraus, dass sich Hinweistafeln zur Benutzung der Treppe anstelle des Aufzugs als wirksam für die Steigerung der Treppennutzung erwiesen [24]. Im öffentlichen Raum konnte die Treppennutzung im Vergleich zum betrieblichen Raum durch Nudging-Interventionen durchschnittlich um 5,9 % gesteigert werden. Über einen positiven Effekt berichten v. a. Studien, in denen eine Kombination aus motivationalen Plakaten und richtungsweisenden Zeichen verwendet wurde [23]. In Bezug auf soziodemografische Variablen ist die Studienlage zu differentiellen Effekten heterogen. Während eine Evaluation von Plakaten zur Treppennutzung eine höhere Wirksamkeit für Effizienzbotschaften („stay healthy, save time, use the sairs“) bei Männern erbrachte [20], ließen sich in einer komplexeren Nudging-Intervention (Plakate, Wettbewerbe, Incentives) im Hochschulsetting keine Unterschiede in der Wirksamkeit nach Geschlecht feststellen [16]. Hingegen liefern Evaluationsbefunde aus acht Treppen-Nudge-Interventionen Hinweise für eine höhere Wirksamkeit bei Frauen [12]. Alterseffekte ließen sich u. a. in einer 5‑wöchigen Intervention absichern. Unabhängig von der Plakatbotschaft (abschreckende vs. gesundheitsförderliche Botschaft) nutzten jüngere Personen (< 40 Jahre) die Treppe häufiger als ältere Personen [27].

Ziel dieses Beitrags ist es, die Wirkung eines plakatbezogenen Nudges im kommunalen Raum zu untersuchen. Entsprechend der z. T. heterogenen Befundlage sollen Unterschiede in der Treppennutzung nach Geschlecht sowie Beobachtungsort und Tageszeit ermittelt werden.

Methodik

Das Projekt „Marburg. Geht doch!“

Die „Gesunde Stadt“ Marburg ist als Fachdienst in der Stadtverwaltung Marburg angesiedelt und hat sich zum Ziel gesetzt, die Gesundheit und Lebensqualität der Menschen in Marburg zu stärken. Im Fokus stehen dabei Netzwerkarbeit sowie die Bedarfs- und Bedürfnisermittlung, um gezielt Maßnahmen für die Gesundheitsförderung und Prävention in der Kommune zu entwickeln. Marburg wurde als eine von sechs Kommunen in das Modellprojekt „KOMBINE“ (kommunale Bewegungsförderung zur Implementierung der nationalen Empfehlungen) aufgenommen. Schwerpunkt liegt hier besonders auf der niedrigschwelligen Gesundheitsaufklärung und Bewegungsförderung.

Mit einem bereits bestehenden Antrag zu „Treppensteigen schöner machen“ seitens der Mitglieder der Marburger Stadtverordnetenverwaltung sollten die Treppen rund um den in der Innenstadt liegenden Oberstadtaufzug ansprechender gestaltet und die Menschen in Marburg zu mehr Treppensteigen motiviert werden. Die Gesunde Stadt Marburg sowie Studierende der Philipps-Universität entwickelten in Kooperation mit den Stadtwerken Marburg eine Nudge-Intervention, bestehend aus 20 unterschiedlichen Plakaten und richtungsweisenden Fußabdrücken. Die Nudges wurden als Pilotprojekt am Parkhaus „Pilgrimstein“ in Marburg platziert. Es gehört zum Verwaltungsbereich der Stadtwerke Marburg, liegt zentral in der Marburger Innenstadt und dient als Parkhaus und Beförderungsmittel für Passant*innen in die Oberstadt. Es enthält drei Aufzüge mit jeweils danebenliegenden Treppen(häusern) und Etagen. Insgesamt können im Parkhaus knapp 200 Treppenstufen gezählt werden. Abb. 1 zeigt die Lokalisation der Treppen und Aufzüge samt den angebrachten Nudging-Plakaten. In jeder Ebene des Parkhauses sowie an den einzelnen Parketagen wurde der Nudge in Augenhöhe an den jeweiligen Entscheidungsorten platziert.

Abb. 1
figure 1

Lokalisation der Treppen und Aufzüge am Parkhaus „Pilgrimstein“, Marburg. (Eigene Darstellung)

Die Nudging-Plakate wurden in einfachem Design mit wiederkehrenden Elementen und Farben in zwei Optionen entworfen und an direkten Entscheidungsorten angebracht. Design 1 enthielt ein Piktogramm mit einer treppensteigenden Person und einer Botschaft, während Design 2 einen prägnanten Slogan ohne Piktogramm aufwies (Abb. 2). Die Slogans wurden je nach örtlicher Beschaffenheit in DIN A2 oder DIN A3 auf Alu-Dibond oder Posterpapier gedruckt. Verschiedene Botschaften („frames“) wurden verwendet, die sich in die Kategorien Gesundheit, Motivation, Humor und Zeit- und Energieersparnis einteilen lassen. Diese sollten an System 2 des menschlichen Denkens ansetzen, indem sie das Wissen um die positiven Auswirkungen des Treppensteigens und die aktive Entscheidungsfindung beeinflussen. Zusätzlich wurden richtungsweisende, grüne Fußabdrücke auf den Boden jeder Parketage gesprüht, um die Aufmerksamkeit auf das Treppenhaus zu lenken. Ziel des Projektes war es, Passant*innen auf die gesundheitlichen Vorteile des Treppensteigens aufmerksam zu machen und gleichzeitig durch die Plakate zur Treppennutzung und damit zu mehr Bewegung im Alltag zu motivieren.

Abb. 2
figure 2

Exemplarisches Design der Nudge-Plakate (a Piktogramm, b Text). (Eigene Darstellung)

Studiendesign

Um zu prüfen, ob die Intervention in Form eines Treppen-Nudges mit einer steigenden Treppennutzung verbunden ist, wurde das Projekt mit Hilfe einer Pilotstudie begleitet. Der Kern der Studie bestand aus einer nicht-teilnehmenden Beobachtung unmittelbar vor der Nudge-Intervention sowie zwei bis drei Wochen nach deren Initiierung. Hierfür wurden im Zeitraum Mai bis Juni 2021 am Interventionsort (Parkhaus „Pilgrimstein“) 12 Beobachtungen an unterschiedlichen Positionen und zu unterschiedlichen Tageszeiten (morgens und nachmittags) realisiert (sechs vor und sechs Beobachtungen zwei bis drei Wochen nach Initiierung). Zielgruppe der Studie waren alle Passant*innen. Ausschlusskriterien waren Personen mit Behinderungen (z. B. Rollstuhl, Gehhilfen), Fahrrädern, Kinderwägen oder getragenen Kindern und sperrigem Gepäck. Da es sich um einen öffentlichen Platz handelt, sind die jeweils beobachteten Stichproben unverbunden (d. h. es wurden jeweils unterschiedliche Personen beobachtet). Die Beobachtung erfolgte durch insgesamt sechs Beobachter*innen, die im Vorfeld eine Schulung durchlaufen haben. Dabei wurden drei zentrale Treppengänge im Erdgeschoss und in der mittleren Etage (innen und außen) berücksichtigt, wobei die Beobachtungen teilweise parallel erfolgten. Um Doppelzählungen auszuschließen, standen die Beobachter*innen miteinander in Kontakt. Um darüber hinaus Hinweise zur Wahrnehmung und Bewertung der Plakate zu erhalten, wurden am letzten Beobachtungstag kurze Feedbackgespräche mit zufällig ausgewählten Passant*innen unabhängig der Frage, ob diese die Treppe genutzt haben, durchgeführt.

Instrument

Die nicht-teilnehmende Beobachtung erfolgte unter Einsatz eines standardisierten Beobachtungsprotokolls. Dieses erfasste neben einer Einschätzung soziodemografischer Merkmale wie das Geschlecht (männlich, weiblich), das Alter (sieben Gruppen, die zu den vier Kategorien „≤ 19 Jahre“, „20 bis 39 Jahre“, „40 bis 59 Jahre“ und „≥ 60 Jahre“ verdichtet wurden) ebenfalls Wetterbedingungen, Wochentag und Uhrzeit sowie die Anzahl der Personen (Einzeln vs. Gruppe). Die abhängige Variable stellte die Treppennutzung dar, die im Bobachtungsprotokoll dichotom (Treppe vs. Aufzug) erfasst wurden. Dabei bezog sich die Nutzung der Treppe auf einen konkreten Beobachtungsort (d. h. Erdgeschoss oder mittlere Etage), nicht auf das Aktivitätsverhalten im gesamten Parkhaus. Das Feedback am letzten Beobachtungstag wurde ebenfalls in strukturierter Form erfasst und umfasste drei Fragen zur (1) Wahrnehmung der Plakate im Parkhaus (wahrgenommen; nicht wahrgenommen), (2) Bewertung der Plakate entlang einer Schulnote sowie (3) das Potenzial der Plakate zur Treppennutzung (mögliche positive Wirkung; keine Wirkung).

Studienpopulation

Über beide Befragungszeitpunkte wurde für 4267 Personen das Treppennutzungsverhalten dokumentiert. Davon entfallen 2118 Personen auf den Beobachtungszeitpunkt vor und 2149 Personen auf den Beobachtungszeitpunkt nach Initiierung des Nudges (Tab. 1). Differenziert nach Geschlecht sind Frauen zu beiden Beobachtungszeitpunkten (BZP) überrepräsentiert. Etwas weniger als 80 % der Beobachtungen beziehen sich auf Einzelpersonen, während in etwa jeweils 21 % Gruppen erfasst wurden. Im Hinblick auf das Geschlecht überwiegen Personen mit subjektiv eingeschätztem Alter zwischen 20 und 39 Jahre und etwa zwei Drittel aller Beobachtungen erfolgten am Nachmittag (16.00 bis 18.30 Uhr). Im Vergleich beider BZP ergeben sich nur geringfügige Abweichungen der erfassten Stichprobenmerkmale. Diese fallen für zwei Altersgruppen am höchsten aus, wobei beim zweiten BZP deutlich mehr ältere Personen (≥ 60 Jahre) und weniger junge Personen (≤ 19 Jahre) dokumentiert wurden.

Tab. 1 Stichprobenbeschreibung

Für das mündliche Feedback konnten am letzten Beobachtungstag insgesamt 62 Menschen befragt werden. Dabei verteilt sich das Geschlecht gleichmäßig auf Frauen (50,0 %) und Männer (50,0 %). Am häufigsten wurden dabei Personen im Alter zwischen 20 bis 29 (25,0 %) und 40 bis 49 Jahren (23,2 %) interviewt.

Datenanalyse

Um zu prüfen, ob die Initiierung eines plakatbasierten Treppen-Nudges mit einer verstärkten Treppennutzung verbunden ist, wurden die Daten des Beobachtungsprotokolls bivariat mittels Kreuztabelle und angeschlossenem χ2-Test ausgewertet. Während die Treppennutzung als abhängige Variable dient, wird der Beobachtungszeitpunkt als unabhängige, d. h. erklärende Variable herangezogen. Darüber hinaus wurden zur Ermittlung differentieller Unterschiede die bivariaten Analysen nach Alter, Geschlecht, Beobachtungsort und Tageszeit stratifiziert. Da sich hinsichtlich der Wetterbedingungen zum ersten Beobachtungszeitpunkt keine Varianz ergab, wurde diese Variable in den bivariaten Analysen nicht berücksichtigt. Für die χ2-Unabhängigkeitstests wurde ein Signifikanzniveau von p < 0,050 festgelegt. Die Auswertung des strukturierten Feedbacks erfolgte univariat mithilfe von prozentualen Häufigkeiten. Alle statistischen Auswertungen wurden mit der Statistiksoftware IBM SPSS Statistics 25 (IBM Corporate, Armonk, NY, USA) vorgenommen.

Ergebnisse

Treppennutzungsverhalten

Die Ergebnisse aus BZP 1 zeigen, dass 23,3 % der Personen die Treppe und 76,6 % den Aufzug nahmen. Mit Blick auf den BZP 2 lag die Häufigkeit der Treppennutzung bei 24,3 %, was einem nicht-signifikanten Unterschied entspricht (Tab. 2). Differenziert nach Geschlecht zeigt sich bei beiden BZP eine höhere Treppennutzung bei Männern (BZP 1: 31,0 %, BZP 2: 26,7 %). Jedoch lässt sich für Frauen im BZP 2 eine signifikant höhere Treppennutzung von 4,3 % beobachten (BZP 1: 19,9 %, BZP 2: 24,2 %; χ2 [df = 1] = 5,361, p < 0,05). Für die unterschiedlichen Altersgruppen ergeben sich nicht-signifikante Unterschiede, die auf eine tendenzielle Steigerung der Treppennutzung für Personen ≤ 19 Jahren (BZP 1: 16,9 %, BZP 2: 22,7 %) und eine Abnahme der Treppennutzung für Personen ≥ 60 Jahren (BZP 1: 27,2 %, BZP 2: 18,7 %) hindeuten. Während sich hinsichtlich der Tageszeit (morgens vs. abends) keine Unterschiede in der Treppennutzung über die Beobachtungszeitpunkte absichern ließen, finden sich differenziert nach Standort der Plakate Unterschiede. So lässt sich eine Erhöhung der Treppennutzung im innenliegenden Erdgeschoss um 12,4 % beobachten (BZP 1: 45,8 %, BZP 2: 58,2 %; χ2 [df = 1] = 11,92, p < 0,001), während die Beobachtungen der ebenfalls innenliegenden mittleren Etage auf eine Reduktion der Treppennutzung hinweisen (BZP 1: 12,8 %, BZP 2: 9,4 %; χ2 [df = 1] = 5,10, p < 0,05).

Tab. 2 Treppennutzung vor und während des Plakat-Nudges differenziert nach Geschlecht, Beobachtungsort und Tageszeit

Anhand der abschließenden kurzen Befragung gaben 68,9 % der befragten Personen an, dass sie die Plakate am Parkhaus wahrgenommen hatten. Dabei wird eine übereinstimmend hohe Akzeptanz gegenüber der Nudge-Intervention zum Ausdruck gebracht. 19,4 % der Befragten geben die Schulnote „sehr gut“ und 61,3 % das Prädikat „gut“. Insgesamt 77,1 % der befragten Personen stimmen der Aussage zu, dass die Plakate eine motivationale Wirkung haben (ja = 49,2 %; eher ja = 27,9 %).

Diskussion

Ziel des Beitrags war es, plakatbezogenen Nudges unter Berücksichtigung soziodemografischer und örtlicher Einflussfaktoren in einem kommunalen Setting zu pilotieren. Die Ergebnisse weisen auf eine nicht-signifikante Erhöhung der Treppennutzung durch die Nudging-Intervention hin. Gründe hierfür könnten gestalterische und/oder thematische Aspekte der Nudging-Plakate oder örtliche Besonderheiten darstellen. Studienbefunde zeigen, dass die Größe der Nudges eine relevante Einflussgröße der Wirksamkeit (d. h. das Treppennutzungsverhalten) ist. Hier waren A1- und A2-Poster mit einer deutlichen Zunahme der Treppennutzung verbunden, während sich für A3-Poster kein Effekt nachweisen ließ [20].

Im Geschlechtervergleich konnte vorliegend nur bei Frauen nach der Nudging-Intervention eine höhere Treppennutzung beobachtet werden. Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie weisen darauf hin, dass Frauen v. a. durch emotionale Auslöser tendenziell leichter zu beeinflussen sind, wohingegen sich Männer eher durch finanzielle Anreize und Wettbewerbsfaktoren beeinflussen lassen [11, 18]. Auch Andersen et al. (2012) nehmen an, dass Frauen und Männer unterschiedlich auf verschiedene Botschaftsstrategien reagieren. Sie vermuten, dass Frauen gegenüber Männern ein größeres Bewusstsein für ihr Körpergewicht haben und deshalb ansprechender auf Botschaften zu Kalorienverbrauch und Gesundheit reagieren [2]. Kerr et al. (2001) empfehlen allerdings, Nudge-basierte Maßnahmen nicht allein nach Geschlecht zu differenzieren, sondern Umgebungsbedingungen und Motivationskontexte der Zielgruppe stärker mit einzubeziehen [20].

Bezüglich des Alters konnten tendenzielle, jedoch nicht-signifikante Unterschiede der Treppennutzung zugunsten der über 19-jährigen festgestellt werden. Bestätigung hierfür findet sich in der Untersuchung von Russel und Hutchinson (2000), wobei die Autoren annehmen, dass jüngere Menschen eine höhere Selbstwirksamkeit bezüglich der körperlichen Aktivität aufweisen [27]. Jedoch sind weitere Studien nötig, um potenzielle Alterseffekte von Nudge-basierten Maßnahmen zu untersuchen.

Hinsichtlich des Standorts der Nudging-Plakate konnte eine Erhöhung der Treppennutzung im Erdgeschoss um 12,4 % beobachtet werden. Der thematische Inhalt der Plakate wurde so ausgewählt, dass dieser zu den lokalen Gegebenheiten passte (d. h. in der Nähe eines Aufzugs wurden Slogans zu Energie- und Zeitersparnis ausgewählt, im Treppenhaus fanden sich hauptsächlich motivierende Slogans). Im Erdgeschoss wurden überwiegend Slogans zu Gesundheit und Motivation verwendet. Krisam et al. (2020) fanden heraus, dass die Erfolgsraten bei Interventionen zum Treppensteigen v. a. durch Zeitersparnis und Fitness (< 80 % Erfolgsrate), Gesundheitsbotschaften (78 % Erfolgsrate), Gewicht (72 % Erfolgsrate) und Energieverbrauch (69 % Erfolgsrate) ausgelöst wurden [23]. Weitere Studien hierzu sind allerdings notwendig, um kausale Aussagen zu verschiedenen Botschaftsstrategien in Bezug auf Interventionen zur Förderung der Treppennutzung zu treffen. Schließlich könnten auch Unterschiede in den Wetterbedingungen einen Einfluss auf das Treppennutzungsverhalten gehabt haben. Während zum ersten BZP ausschließlich sonniges Wetter dokumentiert wurde, ließ sich zum zweiten BZP eine deutlich höhere Varianz des Wetters feststellen (regnerisch: 36,5 %). Der Einfluss unterschiedlicher Wetterbedingungen auf das Treppennutzungsverhalten (auch innerhalb von Gebäuden) wurde bislang kaum untersucht und sollte in künftigen Interventionsstudien systematisch einbezogen werden.

Zusammenfassend stellt das in dieser Arbeit vorgestellte Projekt Erkenntnisse einer ersten Pilotierung in Marburg dar. Obgleich eine Verbesserung der Treppennutzung für die in dieser Studie beobachtete Gesamtpopulation nicht beobachtet werden kann, liefern die Ergebnisse dennoch Hinweise für das Potenzial von Nudging-Interventionen zur Förderung eines insgesamt aktiveren Lebensstils. Ungeachtet ihres Potenzials werden Nudging-Interventionen in der Forschung weiterhin kritisch betrachtet. Eine nachhaltige Wirkung wird durch Studien nicht belegt, weshalb weiterer Forschungsbedarf besteht [7, 13]. Zudem gilt der Erfolg von Nudging als „stand-alone-intervention“ als gering. Ein höheres Potenzial wird hingegen in der Verknüpfung von Nudging mit anderen Maßnahmen der Gesundheitsförderung vermutet.

Im Sinne der Nachhaltigkeit des Projekts „Marburg. Geht doch!“ werden bereits lokale Folgeprojekte initiiert. Denkbar wäre ebenfalls eine Ausweitung des Projekts in anderen Settings in Marburg. Durch den Fokus auf die Gestaltung der Umgebungsbedingungen, beispielsweise durch Renovierung und Verschönerung von Park- und Treppenhäusern kann dazu beigetragen werden, dass sich Menschen häufiger für die Treppe anstelle von Aufzug und Rolltreppe entscheiden.

Limitationen

Bei der Interpretation der Ergebnisse sind verschiedene Limitationen zu berücksichtigen. Zum einen handelt es sich bei dieser Pilotierung nicht um eine klassische Wirksamkeitsevaluation. Aufgrund der Umsetzung unter Realbedingungen sind die jeweils beobachteten Stichproben unverbunden, womit sich der zeitliche Vergleich auf unterschiedliche Populationen bezieht. Hier stellt sich die Frage nach den geeigneten Methoden zur Erfassung der Wirksamkeit von Treppen-Nudges. Denkbar wäre u. a. die Berücksichtigung eines zweiten Standorts mit vergleichbaren Bedingungen, der als Kontrollgruppe ohne Nudge-basierte Intervention dient. Zum anderen ist der Interventionszeitraum mit zwei Wochen vergleichsweise kurz, was möglicherweise die fehlenden Unterschiede zwischen den BZP erklären kann. Eine alternative Erklärung für nicht beobachtete Unterschiede könnte sein, dass die in dieser Intervention eingesetzten Nudges (Plakate und Fußabdrücke) an Neuartigkeit verloren haben, sich also schnell abgenutzt haben. Für entsprechende Erkenntnisse wären weitere BZP nötig (z. B. unmittelbar nach der Nudge-Intervention), die vorliegend aufgrund begrenzter Ressourcen nicht umgesetzt werden konnten. Auch wenn die Beobachter*innen unterschiedlicher Etagen miteinander im Austausch standen, kann schließlich nicht ausgeschlossen werden, dass Personen doppelt erfasst wurden. Für künftige Studien stellt sich die Frage, wie das Aktivitätsverhalten einer Person in Gebäuden mit mehreren Treppen zusammenhängend erfasst werden kann.

Fazit für die Praxis

  • Aufgrund des Mangels an Evidenz zur Wirksamkeit von Nudging-Interventionen wird eine enge Zusammenarbeit von Praxis und Wissenschaft empfohlen.

  • Nudging-Interventionen sollten in andere (lokale) Gesundheitsförderungsstrategien und damit in einen ganzheitlichen Interventionsansatz integriert werden.

  • Aufgrund der Komplexität und Sensibilität von Nudges sollte stärkere Sorgfalt auf gestalterische und thematische Inhalte der Designs gelegt werden.

  • Entgegen eines „One-size-fits-all“-Ansatzes sollte die Interventionsplanung stärker bedarfs- und kontextorientiert erfolgen (d h. stärker differenziert nach u. a. Geschlecht, Alter, Setting)