Durch die fortschreitenden Bestrebungen der Politik, in Deutschland mehr Inklusion zu ermöglichen – nicht zuletzt begründet durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN; kurz: UN-BRK) und das Bundesteilhabegesetz (BTHG) – haben sich die Möglichkeiten der Teilhabe von Menschen mit Behinderung verbessert. Gerade Menschen mit geistiger BehinderungFootnote 1, die in institutionalisierten Kontexten leben und arbeiten, erfahren zunehmend NormalisierungFootnote 2 und Eigenverantwortung. Dies geht mit neuen Chancen und Möglichkeiten einher, konfrontiert sie aber womöglich vermehrt mit gesundheitsabträglichen Verhaltensweisen, wie dem Substanzkonsum.

Hintergrund

Zwar ist das Risiko eine Sucht oder Abhängigkeit zu entwickeln bei dieser Personengruppe nicht höher als bei Menschen ohne Behinderung, allerdings bestehen noch immer Ungleichheiten im Zugang zu Angeboten der Suchthilfe und -prävention. Substanzkonsum bezeichnet die Einnahme von psychotropen Substanzen, wie z. B. Alkohol, Tabak oder Cannabis. Der exzessive Konsum solcher Substanzen kann zu einer Abhängigkeit (Sucht) führen. Die International Classification of Diseases (ICD-10) unterscheidet hauptsächlich zwischen einem schädlichen Gebrauch und einer Abhängigkeit: Ein schädlicher Gebrauch bzw. Missbrauch psychotroper Substanzen geht mit gesundheitlichen Schäden einher, welche sich sowohl körperlich als auch psychisch bemerkbar machen können. Auch bei der Abhängigkeit kommt es durch wiederholten Substanzgebrauch zu verschiedenen körperlichen, kognitiven oder verhaltensbezogenen Störungen. Typische Merkmale eines Abhängigkeitssyndroms sind jedoch der starke Wunsch zu konsumieren, Schwierigkeiten bei der Kontrolle des Konsums sowie die Fortsetzung des Konsums trotz schädlicher Folgen. Hinzu kommen die Vernachlässigung anderer Aktivitäten bzw. Verpflichtungen, die Entwicklung einer Toleranzerhöhung und ggf. körperliche Entzugserscheinungen [3]. Für die Diagnosestellung einer Abhängigkeit müssen nach ICD-10 mindestens drei dieser Merkmale zutreffen [18].

Zum Substanzmittelkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung gibt es bislang kaum repräsentativen Studien. Entsprechende Daten existieren überwiegend für einzelne Regionen Deutschlands [24, 31, 38, 43] oder im internationalen Raum [19, 37, 39]. Angaben zur Prävalenz für Substanzkonsum und Sucht (insbesondere stoffgebundene Süchte) bei Menschen mit geistiger Behinderung liegen kaum vor. Schätzungsweise ist der Substanzmittelgebrauch bzw. das Risiko einer Abhängigkeit jedoch dem Niveau von Menschen ohne Behinderung ähnlich (v. a. in Bezug auf Alkohol und Tabak) [36]. Studienergebnisse zeigen, dass Alkohol und Tabak bei Menschen mit geistiger Behinderung zu den häufigsten konsumierten Substanzen gehören [16, 24, 31, 36]. Auffällig ist, dass erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung, die in einer ambulanten Wohnform oder im familiären Umfeld leben, häufiger Substanzen konsumieren als Menschen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben [1, 24]. Studienergebnisse aus Nordrhein-Westfalen legen nahe, dass ein Zusammenhang zwischen der Betreuungsintensität bzw. dem Maß einer selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit geistiger Behinderung und dem Risiko für die Entstehung einer Sucht besteht [24]. Motive für den Substanzkonsum dieses Personenkreises sind v. a. soziale Zusammenkünfte und Freizeitaktivitäten (u. a. Feste, Sportveranstaltungen), die einen häufigeren Alkoholkonsums begünstigen [39]. Außerdem tendieren Personen, die Substanzen konsumieren, um eine positive Stimmung zu erzeugen (positive Verstärkung) oder negative Gefühle oder Probleme zu regulieren (Coping), eher zu einem problematischen Substanzkonsum [39]. Auch der Wunsch „normal“ und ein Teil der Gesellschaft zu sein, die erfahrene soziale Ausgrenzung sowie eine geringe Problemlösefähigkeit zählen zu den Motiven des Substanzmittelkonsums von Menschen mit geistiger Behinderung [1, 41].

Aufgabe der Suchthilfe ist es, alle Menschen mit problematischem Substanzkonsum oder einer Abhängigkeit durch differenzierte Hilfeangebote der Beratung, Betreuung und Behandlung zu erreichen und zu versorgen [6]. Suchtprävention hingegen stellt primär eine aufsuchende Tätigkeit zur Vorbeugung von Suchterkrankungen dar und wendet sich somit auch an gesunde Menschen [4]. Angebote der Suchthilfe und -prävention sind bislang nicht auf die Bedürfnisse und Bedarfe von Menschen mit geistiger Behinderung angepasst [36, 44]. Menschen mit geistiger Behinderung stoßen noch immer auf eine Reihe von Strukturmerkmalen, wie z. B. eine ausgeprägte Komm-Struktur (d. h. Hilfesuchende müssen Kontakt- und Hilfestellen selbst aufsuchen), hohe kommunikative Hürden, hohe kognitive Ansprüche sowie bauliche Barrieren, die ihnen eine uneingeschränkte Teilhabe oft verwehren [1, 36, 41, 44]. Um den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit geistiger Behinderung gerecht zu werden (z. B. mithilfe von bildhafter und Leichter Sprache, Wiederholungen des Gesagten sowie wohnortnahen Angeboten; [36, 44]), wurden in den letzten Jahren sowohl im internationalen als auch im nationalen Raum vermehrt zielgruppenspezifische Beratungs- und Präventionsangebote im Bereich Substanzmittelkonsum und Sucht entwickelt, die sich entweder an die Zielgruppe selbst oder die Fachkräfte in der Sucht- oder Behindertenhilfe richten (Tab. 1).

Tab. 1 Übersicht über internationale und nationale Angebote der Suchthilfe und -prävention für Menschen mit geistiger Behinderung

Daneben wurden auch Informationsmaterialien (u. a. in Leichter Sprache) veröffentlicht, die sich vorrangig an die Zielgruppe der Menschen mit geistiger Behinderung richten (Tab. 2).

Tab. 2 Übersicht über suchtspezifische Informationsmaterialien in Leichter Sprache

Unklar ist, ob und in welchem Ausmaß diese Angebote Fachkräften des Suchthilfesystems überhaupt bekannt sind oder von Menschen mit geistiger Behinderung in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus wird in der nationalen Studienlandschaft die Wichtigkeit der Vernetzung zwischen Sucht- und Behindertenhilfe betont, welche elementar ist, um entsprechende Angebote zu konzeptionieren und zugänglich zu machen [1, 24, 31, 36, 44].

Vor diesem Hintergrund verfolgt der Beitrag folgende Ziele:

  1. 1.

    Es soll der Kenntnisstand sowie das Angebot zu zielgruppenspezifischen Programmen und Maßnahmen der Suchthilfe und -prävention in Deutschland erhoben werden.

  2. 2.

    Es wird das Ausmaß der Vernetzung zwischen Sucht- und Behindertenhilfe in Deutschland erfasst.

  3. 3.

    Es wird der Zusammenhang zwischen vorhandenen Kooperationen der Sucht- und Behindertenhilfe und dem Angebot zielgruppenspezifischer Programme und Maßnahmen der Suchthilfe und -prävention analysiert.

  4. 4.

    Es wird der Unterstützungsbedarf aus Sicht der Fachkräfte des Suchthilfesystems ermittelt, damit die Strukturen und Angebote der Suchthilfe und -prävention für Menschen mit geistiger Behinderung zukünftig verbessert werden können.

Methodik

Datenbasis und Feldzugang

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine quantitative Primärerhebung zu einem Zeitpunkt (Querschnittstudie) mittels Online-Fragebogen. Der Feldzugang wurde über Einrichtungen des Suchthilfesystems in Deutschland gewählt. Bei der Rekrutierung der Teilnehmenden, wurde zunächst eine Vollerhebung aller Fachkräfte des Suchthilfesystems in Deutschland (als Grundgesamtheit) im Zeitraum von 08.11.2021 bis 17.12.2021 angestrebt. Da es sich um eine reine Online-Befragung handelte, erfolgte die Kontaktaufnahme per E‑Mail. Als Verteiler diente das Suchthilfeverzeichnis der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS; [15]) sowie Adresskarteien der Landesstellen für Suchtfragen. Es wurden insgesamt n = 1719 E-Mails mit dem Link zur Befragung versendet. 42 E-Mails konnten nicht zugestellt werden, so dass sich die Anzahl der kontaktierten Einrichtungen auf n = 1677 reduzierte. Unklar ist, wie viele Fachkräfte innerhalb einer Einrichtung teilgenommen haben. Auf Grundlage der „total design method“ nach Dillmann wurden drei Erinnerungen im Abstand von je 2 Wochen versendet. An der Befragung beteiligten sich schließlich n = 533 Fachkräfte des Suchthilfesystems.

Erhebungsinstrument und Variablenbeschreibung

Zur Beantwortung der Fragestellungen wurde in Anlehnung an bisherige Erhebungen in Deutschland [24, 31, 43] ein Fragebogen erstellt. Die Entwicklung des Erhebungsinstruments erfolgte in enger Zusammenarbeit mit Fachkräften des Suchthilfesystems.

Der erste Themenbereich des Fragebogens umfasste personen- und einrichtungsbezogene Angaben zu den Befragten. Hierzu zählt neben dem Alter, Geschlecht und Bundesland ebenfalls der Tätigkeitsbereich (1 = Suchtberatung; 2 = Suchttherapie; 3 = Suchtselbsthilfe; 4 = Suchtprävention; Tab. 4). Aus dem Bereich der Suchtselbsthilfe nahmen nur 14 Personen teil (2,7 %), was vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass in der Selbsthilfe vorrangig Ehrenamtliche bzw. Betroffene tätig sind. Aufgrund der fehlenden Repräsentativität wurden diese gemeinsam mit den Befragten aus der Suchtberatung und Suchttherapie unter der Kategorie „Suchthilfe“ zusammengefasst. Im Nachgang erfolgte eine Dichotomisierung in die beiden Gruppen 1 = Suchthilfe und 2 = Suchtprävention, was sich vor dem Hintergrund der verschiedenen Arbeitsweisen gut begründen lässt. Während die Suchthilfe mit Klient*innen zusammenarbeitet, die i. d. R. bereits eine Suchtproblematik aufweisen, stellt die Suchtprävention primär eine aufsuchende Tätigkeit dar, die sich auch an gesunde Menschen im Sinne der Primärprävention richtet [4].

Die Kenntnis sowie das Angebot suchtspezifischer Programme und Maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung wurden zunächst mit je einer Frage erhoben. Hier wurden die Teilnehmenden gefragt, ob entsprechende Angebote bekannt (0 = nein; 1 = ja) und vorhanden sind (0 = nein; 1 = ja; s. Tab. 3). Unter der Annahme, dass diejenigen Befragten, die kein Angebot für die Zielgruppe kennen, in ihrer Einrichtung auch keines bereitstellen, wurden diejenigen ohne Kenntnis eines solchen Angebots (n = 298) hinsichtlich der Filterfrage nach dem Angebot in der Einrichtung zur Ausprägung „nein“ gezählt. Anschließend folgte jeweils eine Filterfrage zu den konkreten Angeboten (wie u. a. Bundesmodellprojekt „aktionberatung“, „DIDAK“ oder Informationsmaterial in Leichter Sprache), die den Fachkräften bekannt sind und bereitgestellt werden. Die vorgegebenen Antwortkategorien orientieren sich hierbei an dem aktuellen Forschungsstand zu nationalen Angeboten für Menschen mit geistiger Behinderung (Tab. 1). Als Antwortmöglichkeiten dienten bereits verfügbare und einrichtungsunspezifische Angebote (Tab. 3). Weitere Angebote konnten entweder über die Kategorie „Eigenes zielgruppenspezifisches Beratungs‑/Behandlungskonzept“ oder über das Textfeld „Sonstiges, und zwar“ angegeben werden.

Tab. 3 Fragen und Antwortmöglichkeiten zu speziellen Angeboten der Suchthilfe/-prävention für Menschen mit geistiger Behinderung

Hinsichtlich der Vernetzung zwischen Sucht- und Behindertenhilfe wurde erfragt, ob Kooperationen mit Einrichtungen der Behindertenhilfe bestehen (0 = nein; 1 = ja). Anschließend folgte eine Filterfrage zur Einrichtungsart (für jene Befragte, die mit 1 = ja antworteten), mit der die Kooperation besteht. Diese Einrichtungsarten wurden anhand von fünf vorgegeben Antwortkategorien (1 = WfbM; 2 = ambulante Wohnformen für Menschen mit Behinderung; 3 = stationäre Wohnformen für Menschen mit Behinderung; 4 = Tagesstätten für Menschen mit Behinderung; 5 = Förderschulen) sowie einem Freitextfeld erhoben. Schließlich sollte die angegebene Zusammenarbeit mit der Behindertenhilfe auf einer sechsstufigen Skala (1 = sehr gut; 2 = gut; 3 = eher gut; 4 = eher schlecht; 5 = schlecht; 6 = sehr schlecht) bewertet werden. Für die Auswertung wurden diese Antwortmöglichkeiten in „eher gut bis sehr gut“ und „eher schlecht bis sehr schlecht“ dichotomisiert.

Der Fragebogen endete mit einer geschlossenen Frage zum Unterstützungsbedarf von Einrichtungen bzw. Fachkräften des Suchthilfesystems zur Verbesserung der Teilhabechancen von Menschen mit geistiger Behinderung. Dieser wurde anhand einer Matrixfrage erhoben. Auf einer Skala von 1–6 (1 = sehr großer Bedarf; 2 = großer Bedarf; 3 = etwas Bedarf; 4 = wenig Bedarf; 5 = sehr wenig Bedarf; 6 = kein Bedarf) sollten die Befragten verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten bzw. Rahmenbedingungen bewerten. Um den Fragebogen vorab mit dem Adressat*innenkreis zu testen, wurden kognitive Pretests nach der „Concurrent Think Aloud“-Methode [34] durchgeführt, ergänzt durch einen Standardpretest [25].

Studienteilnehmende

Die Anzahl der Studienteilnehmenden variiert zwischen n = 520 und n = 527 Fachkräften des Suchthilfesystems in Deutschland (Tab. 4). Die gültigen Angaben unterscheiden sich in Abhängigkeit vom Antwortverhalten der Befragten, da ungültige und fehlende Angaben nicht in den Analysen berücksichtigt wurden.

Tab. 4 Beschreibung der Studienteilnehmenden nach Alter, Geschlecht, Arbeitsfeld, Tätigkeitsbereich und Bundesland des Arbeitsplatzes (n=520–527, absolute und relative Häufigkeiten n und %)

Der überwiegende Teil der Befragten war weiblich (66,0 %). 42,9 % war 50 Jahre und älter, die wenigsten Studienteilnehmenden waren unter 30 Jahre alt (12,0 %). Nahezu die Hälfte berichtete, in einer ambulanten Beratungsstelle zu arbeiten (49,2 %). Weitere 13,8 % waren in einer anderen ambulanten Einrichtung tätig. Demgegenüber arbeiteten 12,3 % der Teilnehmenden in einer stationären bzw. teilstationären Einrichtung (u. a. stationäre Einrichtung für Entgiftung/Entzug oder Entwöhnung, Tagesklinik für Menschen mit einer Suchtproblematik), 15,4 % in einer Fachstelle für Suchtprävention und 0,4 % in Suchtselbsthilfegruppen bzw. -verbänden. Am häufigsten gaben die befragten Fachkräfte an, beratende Tätigkeiten auszuüben (57,8 %). Unter den Bundesländern, in denen die Befragten ihrer Tätigkeit nachgehen, waren Nordrhein-Westfalen (22,7 %), Bayern (13,7 %) und Hessen (12,7 %) am häufigsten vertreten.

Statistische Auswertungen

Zur Darstellung der Häufigkeiten der einzelnen Variablen wurden zunächst univariate Häufigkeitsauswertungen vorgenommen, um eine Übersicht über den Ist-Stand der Suchthilfe und -prävention in Deutschland geben zu können (Kenntnis und Angebot suchtspezifischer Programme und Maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung, Vernetzung zwischen Sucht- und Behindertenhilfe, Unterstützungsbedarf zur Verbesserung der Teilhabechancen von Menschen mit geistiger Behinderung). Zur Differenzierung der Ergebnisse zwischen Fachkräften der Suchthilfe und -prävention wurden bivariate Auswertungsverfahren wie der χ2-Test und der Mann-Whitney-Test herangezogen. Für die Analyse des Zusammenhangs zwischen Vernetzung und zielgruppenspezifischen Angeboten der Suchthilfe und -prävention diente schließlich der χ2-Test nach Pearson. Alle statistischen Analysen wurden mit Hilfe der Statistiksoftware IBM SPSS® Statistics (Version 25, IBM Deutschland GmbH, Ehningen, Deutschland) durchgeführt.

Ergebnisse

Kenntnis und Angebot suchtspezifischer Programme und Maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung im Suchthilfesystem, Differenzierung zwischen Suchthilfe und Suchtprävention

Hinsichtlich des ersten Forschungsziels, wurde zunächst mittels univariater Häufigkeitsauswertungen der Kenntnisstand sowie das Angebot suchtspezifischer Programme und Maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung erfasst (Tab. 5). Knapp zwei Drittel (62,2 %, n = 298) der befragten Fachkräfte des Suchthilfesystems kennen keine Suchtprogramme bzw. -maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung. Knapp 87 % (86,8 %, n = 414) geben an, kein entsprechendes Angebot spezifisch für diese Zielgruppe bereitzustellen.

Tab. 5 Verteilung der Antworthäufigkeiten zu Kenntnis und Angebot suchtspezifischer Programme und Maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung (n = 477–479, absolute und relative Häufigkeiten n und %)

Anschließend wurde mittels bivariater Auswertung die Angaben zu den Häufigkeiten zwischen Fachkräften der Suchthilfe und -prävention differenziert. Auf die Frage zur „Kenntnis von suchtspezifischen Angeboten“ haben n = 378 Fachkräfte der Suchthilfe und n = 101 Fachkräfte der Suchtprävention mit „ja“ geantwortet (Filterfrage). Die Ergebnisse zeigen folgendes Bild: 34,9 % (n = 132) der Fachkräfte aus der Suchthilfe und 48,5 % (n = 49) der Suchtpräventionsfachkräfte kennen ein suchtspezifisches Angebot für Menschen mit geistiger Behinderung (p = 0,012). Betrachtet man das Angebot, welches in Einrichtungen der Suchthilfe und -prävention für Menschen mit geistiger Behinderung bereitgehalten wird (Filterfrage: „ja, Angebot vorhanden“), so zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Antworthäufigkeiten von Fachkräften der Suchthilfe (n = 130) und der Suchtprävention (n = 49): 9,3 % (n = 35) der Befragten aus der Suchthilfe stellen in ihrer Einrichtung ein solches Angebot bereit. Unter den Fachkräften der Suchtprävention fällt dieser Anteil mit 27,7 % (n = 28) deutlich höher aus (p < 0,001).

Kenntnis und Angebot der spezifischen Suchtprogramme und -maßnahmen im Suchthilfesystem, Differenzierung zwischen Suchthilfe und Suchtprävention

Ergänzend zum ersten Forschungsziel wurde die Kenntnis und das Angebot von spezifischen Suchtprogrammen und -maßnahmen (z. B. Bundesmodellprojekt „aktionberatung“, DIDAK oder Informationsmaterial in Leichter Sprache) mittels univariater Häufigkeitsauswertungen ermittelt (Tab. 6). Es zeigt sich, dass Informationsmaterialien in Leichter Sprache (75,4 %, n = 135) unter den Fachkräften des Suchthilfesystems am bekanntesten sind. Etwas weniger als die Hälfte der Befragten kannte das Bundesmodellprojekt „TANDEM“ (44,1 %, n = 79), knapp ein Drittel das Suchtpräventionsprogramm an Förderschulen für geistige Entwicklung „SAG NEIN!“ (28,5 %, n = 51). Die wenigsten Befragten gaben dagegen an „Suchthilfe für Alle“ (7,3 %, n = 13) oder „Prävention Inklusiv“ (3,4 %, n = 6) zu kennen. In der Kategorie „Sonstiges“ wurden mehrfach die Fachklinik Oldenburger Land (4,5 %, n = 8) und die heilpädagogische Ambulanz Berlin (2,2 %, n = 4) genannt sowie weitere, nicht näher spezifizierte stationäre Therapieeinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung (6,2 %, n = 11).

Tab. 6 Verteilung der Antworthäufigkeiten zu den Kenntnissen und Angeboten spezifischer Suchtprogramme und -maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung (relative und absolute Häufigkeiten % und n)

Betrachtet man das Angebot, das Suchthilfestellen und Stellen der Suchtprävention für Menschen mit geistiger Behinderung bereithalten, wird deutlich, dass gut die Hälfte (50,8 %, n = 32) der Befragten, in deren Einrichtungen es entsprechende Angebote gab, Informationsmaterialien in Leichter Sprache bereitstellten oder über ein eigenes zielgruppenspezifisches Beratungs- oder Behandlungskonzept (50,8 %, n = 32) verfügten. Die Programme und Materialien von „Prävention inklusiv“ (3,2 %, n = 2) und „Suchthilfe für Alle“ (1,6 %, n = 1) werden von den Befragten am seltensten als Bestandteil des Angebots genannt. Darüber hinaus wurden auch „sonstige Angebote“ erfasst. Hier haben die Befragten u. a. folgende Antworten gegeben: Beratungsstelle für hörgeschädigte Menschen, die auch eine geistige Behinderung haben können und beraten/begleitet werden sollten; Konzeptberatung für die Zielgruppe; Manual für die Suchtberatung bei Menschen mit Behinderung (es bleibt allerdings unklar, ob sich das Manual auf Menschen mit geistiger Behinderung bezieht); eigene therapeutisch geleitete Gruppe speziell für diese Zielgruppe sowie Angebot eines Gruppentreffens (einmal in der Woche bspw. in der Tagesförderstätte) zum Thema Sucht. Zusammengefasst und quantifiziert, umfassen diese Nennungen sowohl Beratungs- (4,8 %, n = 3) und Behandlungsangebote (3,2 %, n = 2) für Menschen mit geistiger Behinderung.

Schließlich wurde im Rahmen einer bivariaten Auswertung hinsichtlich der einzelnen Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung zwischen Fachkräften der Suchthilfe und der Suchtprävention differenziert. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Suchtpräventionsfachkräfte im Vergleich zu Fachkräften der Suchthilfe häufiger Präventionsprogramme kennen, darunter v. a. die Programme „PeP“ (59,2 %, n = 29 vs. 8,5 %, n = 11) und „SAG NEIN!“ (55,1 %, n = 27 vs. 18,5 %, n = 24). Informationsmaterialien in Leichter Sprache sind Fachkräften der Suchthilfe (75,4 %, n = 98) und Suchtprävention (75,5 %, n = 37) etwa gleich häufig bekannt.

Auch die Bereitstellung von Suchtpräventionsangeboten findet erwartungsgemäß unter Fachkräften der Suchtprävention häufiger statt (im Vergleich zu Befragten der Suchthilfe), darunter insbesondere „PeP“ (32,1 %, n = 9 vs. 5,7 %, n = 2) und „SAG NEIN!“ (32,1 %, n = 9 vs. 11,4 %, n = 4). Informationsmaterialien in Leichter Sprache werden von der Suchthilfe (48,6 %, n = 17) und -prävention (53,6 %, n = 15) nahezu gleich häufig herangezogen. Eigene zielgruppenspezifische Beratungs- oder Behandlungskonzepte werden von der Suchthilfe tendenziell häufiger bereitgestellt (54,3 %, n = 19) als von der Suchtprävention (46,4 %, n = 13).

Vernetzung zwischen Sucht- und Behindertenhilfe aus Sicht des Suchthilfesystems

Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse zum Ausmaß der Vernetzung zwischen Sucht- und Behindertenhilfe in Deutschland (Forschungsziel 2) wurden mittels univariater Häufigkeitsauswertungen ermittelt. Über die Hälfte der befragten Fachkräfte (51,7 %; n = 238) gab an, dass eine Kooperation mit mindestens einer Einrichtung der Behindertenhilfe besteht. Am häufigsten bestehen solche Kooperationen mit WfbM (69,2 %, n = 164) sowie ambulanten Wohnformen für Menschen mit Behinderung (59,1 %, n = 140) (Tab. 7). Etwas über die Hälfte der Befragten (51,5 %, n = 122) berichtete mit einer stationären Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderung und ca. ein Drittel mit Tagesstätten für Menschen mit Behinderung (33,3 %, n = 79) oder Förderschulen (33,3 %, n = 79) zu kooperieren. Sonstige Kooperationseinrichtungen, die über das Freitextfeld genannt wurden, sind z. B. Dienste der offenen Behindertenarbeit („Familienunterstützender Dienst für Menschen mit Behinderung“, „Dienstleister des persönlichen Budgets“; 1,3 %, n = 3) oder Inklusionsbetriebe (0,8 %, n = 2). Die Zusammenarbeit bestehender Kooperationen wurde von der Mehrheit der Befragten (91,5 %, n = 216) als „eher gut bis sehr gut“ bewertet.

Tab. 7 Häufigkeiten der Kooperation mit Einrichtungsarten der Behindertenhilfe aus Sicht der Fachkräfte des Suchthilfesystems (n = 237, absolute und relative Häufigkeiten n und %)

Zusammenhang zwischen Vernetzung und suchtspezifischen Angeboten für Menschen mit geistiger Behinderung

Hinsichtlich des dritten Forschungsziels zum Zusammenhang zwischen der Vernetzung bzw. Kooperation zwischen der Sucht- und Behindertenhilfe sowie der Bereitstellung suchtspezifischer Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung wurde eine bivariate Auswertung mittels χ2-Test nach Pearson durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass diejenigen, die mit mindestens einer Einrichtung der Behindertenhilfe zusammenzuarbeiten, signifikant häufiger ein Angebot für Menschen mit geistiger Behinderung bereitstellen (21,8 %, n = 52) als diejenigen, die keine bestehende Kooperation angeben (4,5 %, n = 10, p < 0,001). Der φ‑Koeffizient zeigt allerdings nur einen geringen statistischen Zusammenhang (φ = 0,254).

Unterstützungsbedarf der Suchthilfe und -prävention

Das vierte Ziel war es, den Unterstützungsbedarf von Fachkräften des Suchthilfesystems zu erfassen, der aus Sicht der befragten Fachkräfte benötigt wird, um die Teilhabechancen für Menschen mit geistiger Behinderung im Bereich der Suchthilfe und -prävention zu verbessern (Tab. 8). Dieser wurde mittels univariater Häufigkeitsauswertungen ermittelt. Am häufigsten wird ein „großer“ und „sehr großer Bedarf“ für Weiterbildungsangebote zum Thema zielgruppenspezifische Prävention (53,2 %, n = 230; Median [Md] = 2), zum Thema zielgruppenspezifische Beratung/Therapie (55,4 %, n = 239; Md = 2) sowie für Handlungsempfehlungen, Leitfäden oder Arbeitshilfen (59,1 %, n = 254; Md = 2) angegeben. „Sehr wenig“ bis „kein Bedarf“ besteht dagegen für Supervisionen zum Abbau von Vorurteilen gegen Menschen mit Behinderung (39,3 %, n = 166, Md = 4). Auch in Bezug auf die Verbesserung der Zugänglichkeit bzw. Barrierefreiheit wurde häufig „sehr wenig“ oder „kein Bedarf“ angegeben (19,3 %; n = 80, Md = 3). Darüber hinaus wurden über das Freitextfeld „Sonstiges“ weitere Bedarfe zur Unterstützung genannt. Fachkräfte des Suchthilfesystems geben hier an, dass sie sich u. a. zeitliche und personelle Unterstützung (n = 12), finanzielle Unterstützung (n = 4) sowie Hilfen in einfacher Sprache (n = 2) wünschen.

Tab. 8 Häufigkeiten des Unterstützungsbedarfs von Fachkräften des Suchthilfesystems (n = 415–433, relative und absolute Häufigkeiten % und n)

Unterschiede in der Äußerung von Unterstützungsbedarfen zur Verbesserung der Teilhabechancen zwischen Fachkräften der Suchthilfe und -prävention

Das vierte Forschungsziel umfasste außerdem die Differenzierung der einzelnen Unterstützungsbedarfe zwischen Fachkräften der Suchthilfe und Suchtprävention, welche mittels bivariater Auswertung (Mann-Whitney-Test) vorgenommen wurde. In drei von sechs der in Tab. 8 aufgeführten Unterstützungsbedarfen zur Verbesserung der Teilhabechancen von Menschen mit geistiger Behinderung, zeigt sich ein signifikanter Unterschied zwischen Fachkräften der Suchthilfe und jenen der Suchtprävention (Tab. 8). Letztere geben einen signifikant höheren Bedarf in Bezug auf Weiterbildungsangebote zum Thema zielgruppenspezifische Prävention (p = 0,001, r = 0,163) sowie Handlungsempfehlungen, Leitfäden oder Arbeitshilfen (p = 0,021, r = 0,111) an im Vergleich zu Fachkräften der Suchthilfe. Bezüglich der Weiterbildungsangebote zum Thema zielgruppenspezifische Beratung/Therapie hingegen konnte ein höherer Bedarf unter Fachkräften der Suchthilfe im Kontrast zu jenen der Suchtprävention aufgezeigt werden (p = 0,020, r = 0,112).

Diskussion

Die Studie verfolgte insgesamt vier Ziele 1) zur Kenntnis sowie dem Angebot von Sucht(präventions)programmen und -maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung, 2) Angaben zur Vernetzung zwischen Sucht- und Behindertenhilfe, 3) Angaben zum Zusammenhang zwischen der Vernetzung mit der Behindertenhilfe und den Angeboten der Suchthilfe und -prävention sowie 4) zum Unterstützungsbedarf der befragten Fachkräfte für bessere Teilhabechancen von Menschen mit geistiger Behinderung.

Die Ergebnisse der bundesweiten Online-Erhebung zum Kenntnisstand und Angebot zielgruppenspezifischer Programme und Maßnahmen der Suchthilfe und -prävention verdeutlichen, dass die Mehrheit der befragten Fachkräfte keine solchen Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung kennt und ergo auch nicht in ihrer Einrichtung anbietet. Die geringe Bereitstellung von Angeboten für Menschen mit geistiger Behinderung im Suchthilfesystem könnte, wie auch Neugebauer et al. [31] vermuten, auf eine fehlende Notwendigkeit solcher zielgruppenspezifischen Programme und Maßnahmen aus Perspektive der Fachkräfte zurückzuführen sein. Insbesondere Fachkräfte der Suchthilfe haben in ihrer alltäglichen Arbeit oft nur wenige Berührungspunkte zu Menschen mit geistiger Behinderung, da diese bislang kaum im Hilfesystem (z. B. Suchtberatungsstellen) ankommen [1]. Gegenüber den Ergebnissen nach Kretschmann-Weelink aus dem Jahr 2013 [24] ist allerdings immerhin ein Anstieg des Kenntnisstands zielgruppenspezifischer Suchthilfe- und Präventionsangebote in der vorliegenden Studie festzustellen. Die Entwicklung neuer Angebote (Tab. 1) und Informationsmaterialien in Leichter Sprache (Tab. 2) in den letzten Jahren könnte dazu beigetragen haben, dass Suchthilfe und -prävention für Menschen mit geistiger Behinderung zunehmend präsent wird und sich Fachkräfte vermehrt mit entsprechenden Angeboten auseinandersetzen. Der Vergleich zwischen Suchthilfe und -prävention zeigt darüber hinaus, dass Fachkräfte der Suchtprävention häufiger Kenntnis über entsprechende Maßnahmen und Materialien haben und diese auch häufiger anbieten. Grund hierfür könnte sowohl der höhere Anteil bestehender Präventionsangebote sein, als auch die aufsuchende Arbeitsweise der Suchtprävention. Gemäß § 20 SGB V zählt die Verringerung sozialer Ungleichheit von Gesundheitschancen zu den Aufgaben der Prävention, wodurch Suchtpräventionsfachkräfte dazu angehalten sind, auch vulnerable Zielgruppen wie Menschen mit geistiger Behinderung zu adressieren und sich entsprechende Zugänge zu dieser Zielgruppe zu verschaffen. Schließlich zeigen die Ergebnisse zu den einzelnen Angeboten eine z. T. hohe Diskrepanz zwischen Kenntnisstand und Angebot in den Einrichtungen (z. B. kennen 44,1 % der Befragten „TANDEM“, aber nur 6,3 % bieten es in ihrer Einrichtung an). Dies könnte einerseits auf das Ausmaß der Öffentlichkeitsarbeit und andererseits auf den Kostenaspekt zurückzuführen sein. Es fällt auf, dass v. a. Angebote mit einer umfangreichen Internetpräsenz häufiger bei den Befragten bekannt sind (z. B. TANDEM) sowie jene, die kostenfrei zur Verfügung stehen (z. B. Infomaterialien in Leichter Sprache). Letztere werden den Studienergebnissen zufolge am häufigsten angeboten.

Das zweite Ziel des Beitrags war es, das Ausmaß der Vernetzung zwischen Sucht- und Behindertenhilfe zu erfassen. Hier verdeutlichen die Ergebnisse, dass ein Großteil der Befragten nicht mit Einrichtungen der Behindertenhilfe zusammenarbeitet. Vorhandene Kooperationen bestehen am häufigsten mit WfbM und ambulanten Wohnformen für Menschen mit Behinderung. Im Vergleich zu stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, treten in diesen Einrichtungen mit verminderter Betreuungsintensität häufiger problematische Konsummuster auf [1], sodass davon auszugehen ist, dass Kooperationen hauptsächlich mit Einrichtungen bestehen, in denen bei den dortigen Bewohner*innen oder Beschäftigten mit geistiger Behinderung bereits ein besonderer Unterstützungsbedarf zum Thema Substanzmittelkonsum besteht. Dies unterstreicht die Annahme des Zusammenhangs zwischen der fortschreitenden Ambulantisierung oder verminderten Betreuungsintensität und dem vermehrten Konsum von Substanzmitteln [16, 24, 36].

Drittes Ziel des Beitrags war es, den Zusammenhang zwischen der Vernetzung von Sucht- und Behindertenhilfe sowie zielgruppenspezifischen Angeboten der Suchthilfe und -prävention zu analysieren. Die Ergebnisse des vorliegenden Beitrags verdeutlichen dazu, dass vernetzte Einrichtungen häufiger zielgruppenspezifische Angebote der Suchthilfe oder -prävention anbieten. Die Literatur bestätigt, dass die Zusammenarbeit der Sucht- und Behindertenhilfe eine wichtige Voraussetzung darstellt, um zielgruppenspezifische Angebote zu konzeptionieren und zugänglich zu machen [1, 24, 36]. Obwohl die Art der Kooperation nicht näher bei vorangegangenen Studien erfasst wurde, ist davon auszugehen, dass selbst das bloße „in Kontakt treten“ beider Hilfesysteme schon für eine Sensibilisierung für das Thema Suchthilfe und -prävention für Menschen mit geistiger Behinderung sorgt und somit unter Fachkräften des Suchthilfesystems offenbar für eine Auseinandersetzung mit entsprechenden Angeboten für die Zielgruppe beitragen kann.

Das vierte Ziel war die Ermittlung des Unterstützungsbedarfes von Fachkräften des Suchthilfesystems, um die Teilhabechancen von Menschen mit geistiger Behinderung an den Angeboten der Suchthilfe und -prävention zukünftig zu verbessern. Die vorliegenden Ergebnisse ähneln denen aus bisherigen Befragungen in Deutschland [24, 31]: Unterstützungsbedarf besteht v. a. in Form von Weiterbildungsangeboten sowie Informationen (z. B. Handlungsempfehlungen, Leitfäden oder Arbeitshilfen für die Fachkräfte). Am wenigsten Bedarf besteht hingegen in Bezug auf Supervisionen zum Abbau von Vorurteilen gegen Menschen mit Behinderung. Daraus ließe sich zwar schlussfolgern, dass es keine Veränderung der Haltung gegenüber Personen mit geistiger Behinderung bedarf, es muss jedoch berücksichtigt werden, dass diese Frage womöglich im Sinne der sozialen Erwünschtheit beantwortet wurde oder sich die Befragten ihrer Vorurteile nicht bewusst sind. Laut Abel [1] fühlen sich viele Menschen mit Behinderung im Hilfesystem bevormundet, nicht ernstgenommen und nicht verstanden, sodass es entgegen der Ergebnisse sinnvoll sein kann, Vorurteile und Haltungen seitens der Fachkräfte des Suchthilfesystems zu hinterfragen. In Übereinstimmung mit den hier vorliegenden Ergebnissen verdeutlichen auch andere Arbeiten und Ergebnisse, dass insbesondere die Voraussetzung der Freiwilligkeit und Selbstverantwortlichkeit des Suchthilfesystems sowie die hohen Anforderungen an die Kommunikation und kognitiven Fähigkeiten eine uneingeschränkte Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung an Angeboten der Suchthilfe und -prävention häufig erschweren [1, 41]. Es bedarf eine Angebotsstruktur des Suchthilfesystems, welche den Bedarfen und Bedürfnissen von Menschen mit geistiger Behinderung gerecht wird und gleichzeitig die Heterogenität dieser Gruppe hinsichtlich ihrer intellektuellen und sozio-emotionalen Fähigkeiten berücksichtigt. Hierzu braucht es verschiedene Formen der Ansprache und Prävention, auf welche individuell zurückgegriffen werden kann. Schließlich mangelt es jedoch auch bei Fachkräften in der Behindertenhilfe schlicht an der Kenntnis, dass solche Angebote der Suchthilfe und -prävention bestehen. Hier können die aufgeführten Programme und Projekte einen großen Beitrag leisten, damit diese Angebote bekannter und genutzt werden.

Stärken und Schwächen

Als Primärdatenerhebung wurden im Rahmen dieser Studie erstmals bundesweite Angaben von Fachkräften des Suchthilfesystems zum Kenntnisstand und Angebot von Suchtprogrammen und -maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung, zur Vernetzung zwischen Sucht- und Behindertenhilfe sowie zum Unterstützungsbedarf der befragten Fachkräfte für bessere Teilhabechancen von Menschen mit geistiger Behinderung, mittels Online-Befragung erfasst. Mithilfe des online verfügbaren Suchthilfeverzeichnisses der DHS [15] konnten insgesamt n = 533 Fachkräfte zur Beteiligung an der Online-Befragung motiviert werden. Die Ergebnisse bilden somit einen umfänglichen Überblick zu Kenntnisstand und Angebot, zur Vernetzung sowie zum Unterstützungsbedarf der Suchthilfe und -prävention für Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland und dienen als wichtige Grundlage für die (Weiter‑)Entwicklung von Maßnahmen zur Verbesserung der Teilhabechancen an Suchthilfe und -prävention von Menschen mit geistiger Behinderung.

Kritisch anzumerken ist die Ungleichverteilung zwischen Fachkräften der Suchthilfe (ca. 80 %, n = 419) und Suchtprävention (ca. 20 %, n = 102) in der Stichprobe, welche die Verallgemeinerbarkeit – insbesondere für die Suchtprävention in Deutschland – z. T. beschränkt. Auch ist unklar, wie viele Fachkräfte pro Einrichtung an der Befragung teilgenommen haben. Teilweise wurden die Einladungsmails an mehrere Mitarbeitende einer Einrichtung geschickt und ggf. innerhalb der kontaktierten Einrichtungen weitergeleitet. Dadurch kann eine Verzerrung der Ergebnisse hinsichtlich des Angebotes in den Einrichtungen oder der Vernetzung mit der Behindertenhilfe nicht ausgeschlossen werden.

Anhand mehrerer Rückmeldungen der eingeladenen Fachkräfte, dass eine Teilnahme aufgrund fehlender Berührungspunkte zur Zielgruppe nicht sinnvoll sei, bleibt darüber hinaus zu vermuten, dass ein Großteil der befragten Fachkräfte bereits über Erfahrungen mit der Zielgruppe verfügt bzw. aus Interesse an der Thematik an der Befragung teilgenommen hat. Diese Annahme könnte ebenfalls zu Verzerrungseffekten geführt haben.

Zudem ist nicht auszuschließen, dass die Fragen im Sinne der sozialen Erwünschtheit beantwortet wurden. Letztlich ist ebenfalls die Erhebung in Form einer Online-Befragung zu nennen, welche eine gewisse digitale Kompetenz voraussetzt und somit möglicherweise weniger technikaffine Fachkräfte von der Befragung ausgeschlossen wurden.

Fazit für die Praxis

  • Bundesweit wurden Fachkräfte des Suchthilfesystems zum Kenntnisstand sowie zum Angebot von Suchtprogrammen und -maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung, zur Vernetzung mit der Behindertenhilfe sowie zum Unterstützungsbedarf zur Verbesserung der Teilhabechancen von Menschen mit geistiger Behinderung befragt.

  • Die Ergebnisse zeigen, dass die Mehrheit der befragten Fachkräfte keine zielgruppenspezifischen Angebote der Suchthilfe und -prävention für Menschen mit geistiger Behinderung kennt oder in ihrer Einrichtung anbietet.

  • Die Ergebnisse verdeutlichen, dass der Zugang zu Angeboten der Suchthilfe und -prävention für Menschen mit geistiger Behinderung durch die Bekanntmachung und (Weiter-)Entwicklung zielgruppenspezifischer Angebote wesentlich angehoben werden muss.

  • Bei der Entwicklung von suchtspezifischen Programmen und Maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung, muss die Heterogenität dieser Gruppe hinsichtlich ihrer intellektuellen und sozio-emotionalen Fähigkeiten berücksichtigt werden.

  • Zur Entwicklung und Umsetzung bedarfsgerechter Angebote der Suchthilfe und -prävention ist die regionale Vernetzung zwischen Einrichtungen der Sucht- und Behindertenhilfe unerlässlich.

  • Es bedarf vermehrt Informationsmaterialien und Qualifizierungsangebote für Fachkräfte des Suchthilfesystems, um deren Fertigkeiten und Fähigkeiten zum Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung und deren (problematischem) Substanzmittelkonsum zu stärken.

  • Auch braucht es weiterhin eine wirksame Öffentlichkeitsarbeit, um für das Thema zu sensibilisieren und langfristig die Teilhabe und Inanspruchnahme an Suchthilfe und Suchtprävention von Menschen mit geistiger Behinderung zu fördern.