Real-world-Daten (RWD), also Daten, welche routinemäßig über den Gesundheitszustand von Patient:innen oder die Erbringung von Gesundheitsleistungen erhoben werden und nicht aus traditionellen klinischen Studien stammen, werden für Entscheidungen in der Arzneimittelregulation immer wichtiger. Die aus diesen Daten generierte Evidenz (Real-world-Evidenz, RWE) kann sowohl für die Einschätzung der Wirksamkeit eines Arzneimittels als auch für Phasen vor und nach der Zulassung relevant sein. Der aktuelle Einsatz sowie Potenziale und Herausforderungen von RWE in der Arzneimittelregulation werden beschrieben.

Aktueller Stand von RWD in der Zulassung

Bedeutung von RWD für die Zulassung

Randomisierte kontrollierte klinische Studien („randomized controlled trials“, RCTs) sind bekannt als Goldstandard für die Evidenzgenerierung für regulatorische Entscheidungen im Produktlebenszyklus von Arzneimitteln. RCTs sind durch ihre stark kontrollierten Bedingungen der klinischen Versorgung und ihre hochselektive Studienpopulation charakterisiert. Dies wirkt sich positiv auf die interne Validität der Ergebnisse aus, führt allerdings auch für die Beurteilung der sich daraus ergebenden Daten zu Limitationen. Insbesondere ist die Generalisierbarkeit der Ergebnisse für die Zielpatient:innenpopulation sowie die statistische Aussagekraft zur Entdeckung seltener (unerwünschter) Ereignisse begrenzt. Außerdem stoßen RCTs aus ethischen und/oder pragmatischen Gründen häufig in ihrer Umsetzung an ihre Grenzen. Diese Limitation zeigt sich besonders im Hinblick auf sehr seltene und sehr schwerwiegende Erkrankungen sowie Erkrankungen, die besonders vulnerable Patient:innengruppen darstellen – beispielsweise minderjährige oder schwangere Personen. Das charakteristische Design der RCTs bietet wertvolle Ergebnisse mit hoher interner Validität zur Wirkung des untersuchten Arzneimittels, jedoch wird dadurch die externe Validität aufgrund zu erwartender Unterschiede in der Population sowie der Dauer der Behandlung und der Adhärenz beeinträchtigt. Daher können der Nutzen und die Sicherheit des Arzneimittels in der Routineversorgung abweichend vom Ergebnis der zugrundeliegenden RCTs sein. Analysen zur Wirksamkeit liefern wichtige Informationen zur Bewertung von Behandlungsstrategien und zur Unterstützung von Entscheidungen über Preisgestaltung und Kostenerstattung [3, 31].

Um diese Herausforderungen zu adressieren, werden zunehmend weitere Datenquellen, welche die reale Praxis im Gesundheitswesen widerspiegeln, für Entscheidungen im gesamten Produktlebenszyklus berücksichtigt. Diese Datenquellen sind RWD, definiert von der europäischen Arzneimittelbehörde („European Medicines Agency“, EMA) als sämtliche „routinemäßig erfasste Daten zum Gesundheitszustand oder der Nutzung von Gesundheitsleistungen, die nicht aus RCTs stammen“. Als RWD geltende Primärdatenquellen gelten pragmatische klinischen Studien und (populationsbasierte) Beobachtungsstudien. Darüber hinaus gilt eine Vielzahl an Sekundärdatenquellen als RWD, z. B. Daten aus den Bereichen der Spontanmeldesysteme für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW), Krankenversicherungsdaten, Registerdaten, Daten aus der elektronischen Patient:innenakte, Daten von Biobanken, Daten aus Pflege- und Gesundheitsapplikationen sowie Daten aus sozialen Medien [19, 25]. Klassischerweise finden RWD-Analysen seit geraumer Zeit Anwendung in der „post-marketing-surveillance“, der Überwachung und Einschätzung der Sicherheit und Wirksamkeit zugelassener Arzneimittel in der Routineversorgung. Das weltweit größte UAW-Spontanmeldesystem ist VigiBase, betrieben von der Weltgesundheitsorganisation (WHO; [39]). EudraVigilance, das europäische UAW-Spontanmeldesystem, wird von der EMA betrieben und im Rahmen der Pharmakovigilanz von den zuständigen nationalen Behörden, wie z. B. dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zur Signaldetektion und -evaluation analysiert [18]. Real-world-Evidenz (RWE) aus weiteren RWD-Quellen, beispielsweise pharmakoepidemiologischer Studien basierend auf den Abrechnungsdaten der Krankenkassen, wird insbesondere zur Identifikation von Risikoprofilen bei der Anwendung in Patient:innensubpopulationen berücksichtigt und liefert einen informativen Mehrwert zur Abgrenzung zwischen der Wirkung und der Wirksamkeit des Arzneimittels unter kontrollierten Bedingungen einer klinischen Studie („efficacy“) und der Fähigkeit diese gewünschte Wirksamkeit in der Routineversorgung zu erreichen („effectiveness“; [21]). Dennoch ist die Berücksichtigung von RWE in regulatorischen Entscheidungsprozessen durch Herausforderungen im Zugang zu sowie der Analyse von RWD aktuell limitiert. Die Verwendung von RWD für frühere Schritte im Produktlebenszyklus wird bisher deutlich seltener berücksichtigt. Wissenschaftliche Auswertungen der letzten Jahre deuten jedoch darauf hin, dass von RWD abgeleitete RWE zusätzliche Erkenntnisse ermöglicht die auch in den Produktlebenszyklusschritten vor der Zulassung von Arzneimitteln genutzt werden kann, indem sie die Limitationen der ihnen zugrunde liegenden RCTs – insbesondere die begrenzte Generalisierbarkeit der Ergebnisse aufgrund kleiner und hochselektiver Studienpopulationen – adressiert [2, 13].

Aktueller Einsatz von RWD zur regulatorischen Entscheidungsfindung und Ausblick

In den vergangenen Jahren wurden bereits einzelne Leitfäden zur Stärkung der Nutzung von RWD/RWE für regulatorische Entscheidungen publiziert [8]. Kürzlich veröffentlichte systematische Auswertungen der Einbeziehung von RWD in die regulatorische Entscheidungsfindung in den USA und der Europäischen Union (EU) geben einen aktuellen Überblick über die Art und Häufigkeit der RWE-Nutzung entlang des Produktlebenszyklus [14, 23, 35].

In einem systematischen Review aller öffentlichen Bewertungsberichte von Arzneimittelneuzulassungen („new drug approvals“, NDA) der US-Arzneimittelbehörde („Food and Drug Administration“, FDA) im Zeitraum von Januar 2019 bis Juni 2021 zeigte sich, dass insgesamt 85 % der eingeschlossenen NDA (116 von 136) eine Form von RWE beinhalteten. Die zunehmende Relevanz von RWE in der Regulation spiegelte sich zudem in dem zeitlichen Trend des Anteils an Neuzulassungen mit RWE über den Untersuchungszeitraum wider. Hinsichtlich der Art der RWD-Nutzung lieferten 83 NDA RWE für den therapeutischen Kontext des Arzneimittels während 88 NDA RWE für die Beurteilung der Sicherheit und Wirksamkeit der Arzneimittel berücksichtigten. 43 der 88 NDA enthielten ausschließlich RWE für Analysen zur Arzneimittelsicherheit. In 74 % (65 von 88 NDA) wurden die enthaltenen RWD-Studien in die Entscheidung der FDA einbezogen. Die berücksichtigte RWE wurde größtenteils als unterstützende Evidenz (65 %) und ein geringer Anteil als substanzielle Evidenz (9 %) eingeschätzt. Darüber fanden die Ergebnisse der RWD-Studien in 38 NDA Berücksichtigung in den Fachinformationen/Produktkennzeichnungen [35].

Eine ähnliche systematische Untersuchung europäischer Bewertungsberichte („European Public Assessment Reports“, EPAR) neu zugelassener Arzneimittel zwischen Januar 2018 und Dezember 2019 bei der EMA kam zu vergleichbaren Ergebnissen. Alle der insgesamt 111 eingeschlossenen NDA enthielten RWE im Sinne des Produktlebenszyklusmanagements (z. B. zu Sicherheitsprofilen) – in 81 % der EPAR wurden direkt RWD eingeschlossen. Nahezu alle NDA (98 %) enthielten RWE in der Entwicklungsphase des jeweiligen Arzneimittels, der Anteil direkt analysierter RWD betrug hierbei 33 %. In 49 % aller NDA wurde RWE zur vollständigen Produktentwicklung einbezogen, wohingegen sich der Anteil der RWE-Nutzung in der frühen Produktentwicklung auf 35 % beschränkt. Die regulatorischen Entscheidungen der EMA wurden in 47 % der NDA durch den Einbezug von RWE unterstützt [14]. So wurden beispielsweise in einer der NDA RWD zur Identifizierung der Studienpopulation berücksichtigt: Xospata (Gilteritinib) wird angewendet bei einem Rückfall oder nicht anschlagender Therapie der akuten myeloischen Leukämie und findet ausschließlich Anwendung in Patient:innen mit einer FLT3(„fms-like tyrosine kinase 3“)-Mutation. In einer weiteren NDA wurde der therapeutische Mehrwert mit RWD bestehender Therapieoptionen verglichen: Vantobra, ein Antibiotikum zur Behandlung von Lungeninfektionen bei Patient:innen mit Mukoviszidose, kann schneller als andere Tobramycin-Vernebler inhaliert werden, erleichtert damit die Anwendung und könnte somit die Therapietreue erhöhen. Wie oben beschrieben, umfassten alle NDA RWD für die aktive Überwachung nach Zulassung der Arzneimittel, beispielsweise konkret über die dokumentierende Betreuung behandelnder Ärzt:innen oder die routinemäßige Evaluation der UAW-Meldungen [13].

Bei einer weiteren systematischen Auswertung aller Anträge für Neuzulassungen („market authorisation applications“, MAA) und Zulassungserweiterungen („extensions of indication“, EOI) zwischen Januar 2018 und Dezember 2019 bei der EMA wurde RWE in 63 von insgesamt 158 MAA (40 %) sowie in 28 von 153 EOI (18 %) identifiziert [23].

In 43 der 63 MAA bezog sich die RWE auf die Produktlebenszyklusschritte nach Zulassung, während 9 MAA ausschließlich RWE aus Phasen vor Zulassung enthielten. In 11 MAA waren RWE aus beiden Produktlebenszyklusphasen vorhanden. Bei den Zulassungserweiterungen enthielten 13 der 28 EOI RWE für Phasen vor Zulassung und 12 EOI RWE für Phasen nach Zulassung. Die restlichen 3 EOI berücksichtigten RWE aus beiden Produktlebenszyklusphasen. Der Inhalt der berücksichtigten RWE bezog sich überwiegend auf die Sicherheit der Arzneimittel [23]. Abb. 1 gibt einen Überblick zu den absoluten Häufigkeiten der RWE-Verwendungszwecke in MAA und EOI der Jahre 2018–2019 bei der EMA.

Abb. 1
figure 1

Absolute Häufigkeiten RWE-Verwendungszwecke in Neuzulassungen („market authorisation applications“, MAA) und Zulassungserweiterungen („extensions of indication“, EOI) 2018–2019 bei der EMA (European Medicines Agency). (Eigene Darstellung basierend auf Daten aus Flynn et al. [23])

Die verwendeten RWD entstammten größtenteils aus Registern; insbesondere Erkrankungsregister wurden als Ressource herangezogen [23]. Abb. 2 zeigt die absoluten Häufigkeiten beschriebener verwendeter RWD-Quellen in MAA und EOI der Jahre 2018–2019 bei der EMA.

Abb. 2
figure 2

Absolute Häufigkeiten verwendeter RWD-Quellen in Neuzulassungen („market authorisation applications“, MAA) und Zulassungserweiterungen („extensions of indication“, EOI) 2018–2019 bei der EMA (European Medicines Agency). Asterisk Elektronische Gesundheitsdaten („electronic health records“, EHR). (Eigene Darstellung basierend auf Daten aus Flynn et al. [23])

Die mit Abstand häufigsten Indikationsgebiete der RWE-gestützten Zulassungen waren in den USA und Europa in absteigender Reihenfolge die Onkologie, Infektiologie und Neurologie [14, 23, 35].

Die Autor:innen der systematischen Auswertung von Zulassungsanträgen bei der EMA [8] planen weitere Untersuchungen zur Bedeutung von RWE in Anträgen zur wissenschaftlichen Beratung für zukünftige zulassungsrelevante Studien durch pharmazeutische Unternehmen bei der EMA und eine Darstellung zu Ergebnissen dieser Beratungsverfahren. Diese mehr qualitativ auszuwertenden Daten können wichtige Hinweise auf die Bedeutung von RWE in zukünftigen Zulassungsverfahren geben. Eine vorläufige Beobachtung des BfArM, das an diesen Beratungsverfahren beteiligt ist, ist ein Mangel an geeigneten Datenquellen für RWE aus dem europäischen Raum, die für eine regulatorische Entscheidungsfindung relevant wären. Diese Beobachtung unterstreicht die Bedeutung des unten dargestellten Aufbaus einer RWD-Infrastruktur in Europa.

Entwicklungspotenzial von RWD in der regulatorischen Entscheidungsfindung

Vorteile von RWD und Anwendungsbeispiele

Die aktuelle regulatorische Relevanz ganzheitlicher Ansätze zur Evidenzgenerierung für Entscheidungsprozesse innerhalb des gesamten Produktlebenszyklus eines Arzneimittels sowie der damit einhergehenden Bedeutung von RWD/RWE liegt unter anderem in dem Potenzial von Sekundärdaten (z. B. elektronische Patient:innenakte, Versicherungsdaten, Registerdaten, Gesundheitsapplikationen, soziale Medien) hinsichtlich beschleunigter Arzneimittelentwicklungsprozesse, einer verringerten Belastung der Studienteilnehmenden und optimierter (extern valider) Studienpopulationen, was in den traditionellen Prozessen der Arzneimittelentwicklung bislang – teils ethisch oder pragmatisch begründet – nicht durchgehend umsetzbar war [10].

Repräsentativität der Patient:innencharakteristiken

Konkret bedeutet dies z. B. für die Entwicklung neuer Arzneimittel eine umfängliche Beschreibung der natürlichen Krankheitsentstehung, deren Verlauf und Prognose wie sie unter den Bedingungen der Routineversorgungsstrukturen eines bestimmten Gesundheitssystems zu erwarten sind. Dies ermöglicht die adäquate Auswahl an Aufgreifkriterien für RCTs, ebenso wie die Einschätzung der Erreichbarkeit der Zielpopulation. Register können, neben der Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstandes, beispielsweise zur Rekrutierung und Randomisierung genutzt werden. Registerbasierte Studien eignen sich daher besonders, wenn die Zielpopulation seltene Erkrankungen umfasst [20, 30]. Im nächsten Schritt können RWD die traditionellen klinischen Studien stärken. Insbesondere bei einem den statistischen Möglichkeiten entsprechenden Einsatz können z. B. externe oder historische Kontrollgruppen in kleineren klinischen Studien verwendet werden, um die Studiengröße zu erhöhen und ethische sowie pragmatische Bedenken in der Umsetzung eines RCT ausräumen zu können. Typischerweise findet dies bereits Anwendung in der Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel zur Behandlung von Minderjährigen, Erkrankungen ohne bislang existierende Therapieoptionen sowie seltener und/oder schnell tödlicher Erkrankungen. Zusätzlich ermöglichen externe Kontrollen Einblicke in die vergleichende Wirksamkeit zwischen neuem Arzneimittel und aktueller Standardversorgung [7, 38].

Ein Beispiel, in dem RWD als externe Kontrolle herangezogen wurden, ist die beschleunigte Zulassung von Blincyto® (Blinatumomab) 2015 bei der EMA. Der Studienarm wurde mit einer historischen Kontrolle der Standardtherapie bei rezidivierter/refraktärer akuter lymphoblastischer Leukämie bei Erwachsenen hinsichtlich der Wirksamkeit („effectiveness“) verglichen. Die vollständige Zulassung erfolgte 2018 nach Bestätigung durch Phase-III-Studiendaten [2, 26].

Effizienz der Studiendesigns

Ein weiterer vielversprechender Ansatz zur Supplementierung von traditionellen RCTs sind RWD-gestützte Studiendesigns, wie beispielsweise der Ansatz klinische Studien in Kohortenstudien einzubetten („trials within cohorts“, TwiCs) – erstmalig publiziert wurde der Ansatz 2010 als sog. „cohort multiple RCT“ (cmRCT) Design [36]. Indem die Proband:innenrekrutierung für neue RCTs über bestehende Studienpopulationen großer longitudinaler Kohortenstudien erfolgt, stehen zu Beginn der klinischen Studie bereits eine Menge an relevanten Informationen zum Gesundheitsstatus in der Vergangenheit bereit. Darüber hinaus ermöglicht die Rekrutierung in bevölkerungsbasierten Kohorten einen Zugewinn in der Repräsentativität der abzubildenden Ergebnisse der klinischen Studien für die Zielgruppe. Der patient:innenorientierte Ansatz der informierten Zustimmung ähnelt dem Informationsfluss in der Routineversorgung, wo Informationen gestaffelt werden, um die Relevanz für die Patient:innen zu erhöhen [36, 37]. Ein weiteres Merkmal ist die fortlaufende reguläre Erfassung von Outcomes und Erhebung von Studienvariablen in der Kohortenstudie. Dementsprechend werden durch die langen Beobachtungszeiträume der prospektiven Kohorten auch während und nach Ende des RCT weiterhin wertvolle Informationen zum Individuum gesammelt, die nachträglich in der Evaluation der Studienergebnisse berücksichtigt werden können und damit einen wichtigen Beitrag zur Einschätzung von Langzeitwirkungen leisten können. Dies ist beispielsweise für Erkrankungsentitäten mit Chronifizierung, langen Latenzzeiten oder häufigem Wiedererkrankungspotenzial, wie beispielsweise Krebserkrankungen, dienlich. Insbesondere für Studien, die zur Standardversorgung vergleichen möchten oder in früheren Studien Probleme bei der Rekrutierung der Teilnehmenden hatten, eignet sich dieses RWD-gestützte RCT-Design [36]. Ein Anwendungsbeispiel für eine kohortenstudienbasierte Forschungsinfrastruktur ist die seit 2013 mit dem niederländischen Krebsregister verbundene Kohorte „prospective dutch colorectal cancer“ (PLCRC). Erfasst werden zusätzlich patientenberichtete Ergebnisse („patient reported outcomes“, PRO) und verschiedene Bioproben der Teilnehmer:innen von Primärdiagnose prospektiv bis zum Tod. Damit bietet diese RWD-Quelle Variableninformationen zur Kontextualisierung neuer Studien, die Ergänzung nicht erfasster Variablen in beispielsweise RCTs und dient als Rekrutierungsmöglichkeit für TwiCs [12]. Ein Beispiel für ein umgesetztes TwiCs-Projekt ist UMBRELLA („Utrecht cohort for multiple breast cancer intervention studies and long-term evaluation“) Fit RCT, basierend auf der UMBRELLA-Kohorte. Ziel des TwiCs-Designs war es, die bestehenden Probleme bei einem klassischen RCT zu lösen: An RCTs teilnehmende Patient:innen sind insgesamt motivierter, sich zu bewegen. Da eine Verblindung der Intervention „Bewegung“ nicht möglich ist, könnten der Kontrollgruppe zugewiesene Patient:innen enttäuscht sein. Dies könnte die in bisherigen RCTs kleinen Effekte von Bewegung erklären. Um die Wirkung von Bewegung auf die Lebensqualität und Müdigkeit bei inaktiven Brustkrebsüberlebenden unter realen Anwendungsbedingungen analysieren zu können, wurde das TwiCs-Design gewählt. Die UMBRELLA-Kohorte lädt seit 2013 alle Patientinnen mit Brustkrebs, die zur Strahlenbehandlung an das Universitätsmedizinische Zentrum in Utrecht überwiesen wurden, ein. Über die breite Zustimmung zur Randomisierung für zukünftige Interventionsstudien, war es möglich das pragmatische, zweiarmige UMBRELLA-Fit-RCT umzusetzen und das beschriebene Verblindungsproblem zu lösen [24].

Die aktuellen internationalen Publikationen zur RWD-/RWE-Nutzung in der Regulation [14, 23, 35] konnten aufzeigen, dass RWD bislang überwiegend für Sicherheitsbeurteilungen der Arzneimittel nach deren Zulassung in regulatorischen Entscheidungsprozessen eingebunden werden. Ein aktuelles, regulatorisch relevantes Beispiel für RWE-basierte Sicherheitsanalysen sich auf dem Markt befindlicher Arzneimittel ist die pharmakoepidemiologische Sekundärdatenanalyse von Krankenkassen-Routineabrechnungsdaten zur Untersuchung des Krebsrisikos durch N‑Nitrosodimethylamin (NDMA)-verunreinigtes Valsartan. Die Studie untersuchte eingelöste Valsartan-Verordnungen und beobachtete inzident auftretende Krebsdiagnosen der Versicherten. Die pharmakoepidemiologische Analyse der rund 780.000 Patient:innen mit Valsartan-Verordnungen, aufgegriffen aus rund 25 Mio. Versicherten, zeigte ein leicht erhöhtes Risiko für Leberkrebs infolge einer NDMA-kontaminierten Valsartan-Verordnung [27]. Die Studie ist ein wertvolles Beispiel dafür, wie relevant RWD/RWE im Produktlebenszyklus sein können, um aktuelle Aussagen über die Patient:innen- und Arzneimitteltherapiesicherheit treffen zu können.

Neben dem Informationsgehalt zur Sicherheit eines Arzneimittels unter realen Anwendungsbedingungen bietet RWE jedoch auch wertvolles Potenzial zur Einschätzung der Wirksamkeit des Arzneimittels in der Routineversorgung der Zielpopulation. Dabei kommt nicht nur die Evaluation des Indikationsnutzens in Betracht, sondern zusätzlich die Exploration potenzieller neuer Indikationsfelder, wie dies beispielsweise aktuell für die SGLT2(„sodium-glucose cotransporter 2“)-Inhibitoren (Antidiabetika) und ihren positiven Effekt auf die Wahrscheinlichkeit kardiovaskulärer Erkrankungen, insbesondere der Herzinsuffizienz, dargestellt wird [9, 33]. Die methodische Weiterentwicklung des sog. Target-trial-Ansatzes, dem Aufbau einer RWD-Analyse anhand der Orientierung eines existenten oder theoretischen Ziel‑/Vorbild-RCT verspricht zur Generierung von RWE aus RWD eine weitere Minimierung der Biasgefahr und folglich eine Erhöhung der Aussagekraft für kausale Rückschlüsse aus RWE, indem der Wunsch-RCT emuliert wird. Dieser Ansatz bietet besonders in Situationen eine große Chance, wenn RCTs nicht möglich sind [28, 29, 32].

Aufbau einer RWD-Infrastruktur und Initiativen zur RWD-Nutzung

Nationale Gesundheitsdateninfrastruktur und Weiterentwicklungsprojekte

Um mit Blick in die Zukunft das große Potenzial von RWD für die Forschung und Entwicklung im Gesundheitsbereich bestmöglich zu nutzen, werden eine Vielzahl an Initiativen und Projekten vorangetrieben. In der Forschungsgruppe Pharmakoepidemiologie [6] der Forschungsabteilung des BfArM besteht langjährige Expertise und Erfahrung in der Analyse verschiedener RWD-Quellen wie z. B. Sekundärdaten von Krankenkassen oder Primärdaten aus Kohortenstudien. Dabei werden in nationalen und internationalen Projekten sowohl klassische als auch neue Künstliche Intelligenz (KI)-basierte Methoden der pharmakoepidemiologischen Auswertung eingesetzt. Somit können RWD direkt für die regulatorische Forschung genutzt werden. Für die Verbesserung des Zugangs zu RWD für die Forschung, spielt auf nationaler Ebene das derzeit im Aufbau befindliche Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ) am BfArM eine große Rolle. Es geht aus der Datenaufbereitungsstelle des ehemaligen Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) hervor und soll durch eine Reihe von Weiterentwicklungen neue Optionen bieten, einen iterativen Forschungsprozess zu ermöglichen und gleichzeitig den hohen Anforderungen an den Schutz der sensiblen Gesundheitsdaten gerecht zu werden. Hier werden Krankenkassenabrechnungsdaten aller über 70 Mio. gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland vorgehalten und auf Antrag Nutzungsberechtigten mit dem Ziel der Verbesserung der Gesundheitsversorgung bereitgestellt. Im Verlauf werden auch die Daten der elektronischen Patient:innenakten, die die Versicherten freiwillig für die Forschung freigeben können, den Datenbestand erweitern. Die Infrastruktur, die die Nutzung von anonymisierten Testdaten in gesicherten virtuellen Analyseräumen vorsieht, wird derzeit aufgebaut. So sollen völlig neue Möglichkeiten für die Sekundärdatenforschung in Deutschland geschaffen werden [5]. Das FDZ ist bereits in der Aufbauphase in vielen nationalen und internationalen Projekten aktiv. Um Forschenden zukunftsweisende Analysemethoden im Bereich der KI zu ermöglichen, führt es derzeit das Projekt KI-FDZ durch. Hier soll die Datensynthetisierung, also die Generierung neuer, künstlicher Daten mit gleichen statistischen Eigenschaften wie die Ursprungsdaten, mithilfe von KI-Methoden mit „klassischen“ Anonymisierungsmethoden in Bezug auf die anschließende Datenqualität und die Anonymisierungsgüte verglichen werden. Zudem soll die Nutzbarkeit der Abrechnungsdaten für KI-Analysen evaluiert und KI-Auswertungsmöglichkeiten vorbereitet werden. Die Ergebnisse sollen dann zur Verbesserung des Identitätsschutzes und der KI-Fähigkeiten im FDZ beitragen [4].

RWD im europäischen regulatorischen Netzwerk

Auch auf europäischer Ebene wird das bisher noch relativ wenig genutzte Potenzial von Sekundärdaten für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung erheblich erweitert werden. Im Bereich der Arzneimittelregulation arbeitet das europäische regulatorische Netzwerk derzeit daran, wie die operationalen, technischen und methodischen Herausforderungen in der Nutzung von RWD bewältigt werden können [10]. Hierfür hat es die Big Data Steering Group ins Leben gerufen, deren Arbeitsplan auch das Projekt „Data Analytics and Real World Interrogation Network“ (DARWIN EU®) enthält [1]. Hier soll mithilfe eines Koordinierungszentrums ein Netzwerk aus Gesundheitsdatenquellen entstehen, über das wissenschaftliche Analysen zu regulatorischen Fragestellungen auf gesichertem, datenschutzkonformen Weg durchgeführt werden können [17]. Das BfArM ist sowohl in der Big Data Steering Group als auch dem Advisory Board von DARWIN EU® vertreten.

European Health Data Space

Bei den Netzwerkaktivitäten im Bereich RWD spielt auch die Vernetzung mit dem von der Europäischen Kommission geplanten „European Health Data Space“ (EHDS; [15]) eine wichtige Rolle. Der Antrag für die entsprechende Verordnung wurde im Mai 2022 von der EU-Kommission veröffentlicht [16]. Es sieht unter anderem den Aufbau einer EU-weiten Gesundheitsdateninfrastruktur vor, die durch Zusammenarbeit der jeweiligen nationalen Datenzentren eine grenzübergreifende sekundäre Nutzung der Daten ermöglichen soll. Bei der Entwicklung der hierfür notwendigen Konzepte wird die EU-Kommission von der Joint Action Towards the European Health Data Space (TEHDAS) unterstützt [22].

Weitere Initiativen und Ausblick

Weiterhin ist das BfArM in der Arbeitsgruppe XIII „Real-World Data and Real-World Evidence in Regulatory Decision Making“ des Rates für internationale Organisationen der medizinischen Wissenschaft („Council for International Organizations of Medical Sciences“, CIOMS) aktiv. Diese Arbeitsgruppe erarbeitet Empfehlungen bezüglich der RWD-Nutzung für die Regulation von biopharmazeutischen Produkten [11]. Auf nationaler Ebene unterstützt das BfArM die NFDI (Nationale Forschungsdateninfrastruktur) 4Health-Initiative, die das Ziel hat, eine Forschungsinfrastruktur für Gesundheitsdaten aufzubauen [34].

In Zukunft soll also die bisher stark fragmentierte Forschungsdatenlandschaft national und international deutlich stärker vernetzt und damit eine sichere und gut zugängliche Infrastruktur geschaffen werden. Die Coronapandemie hat hochaktuell gezeigt, wie wichtig es wäre, auf eine etablierte, funktionierende Datenstruktur zugreifen zu können. Gerade im Bereich der Arzneimittelregulation und in der regulatorischen Forschung kann so zukünftig das Potenzial von RWD in Ergänzung zu den bestehenden Standards deutlich besser ausgeschöpft werden.

Fazit für die Praxis

  • Die Bedeutung und der Einsatz von Real-world-Evidenz (RWE) aus Real-world-Daten (RWD) entlang des Produktlebenszyklus von Arzneimitteln nehmen ständig zu: Prospektive Kohortenstudien, Versicherungsdaten, Registerdaten, elektronische Patient:innenakte, digitale Gesundheitsanwendungen und soziale Medien ermöglichen die Untersuchung von Zielpopulationen und Fragestellungen, die für ein klassisches RCT („randomised controlled trials“) schwierig oder nicht umsetzbar sind.

  • Das europäische regulatorische Netzwerk fördert gezielt Initiativen zur RWD-Nutzung zur Bewältigung der operationalen und methodischen Herausforderungen zum Zugang und zur Analyse von regulatorisch relevanten Datenquellen für RWE.

  • Eine zentrale Rolle spielt der Aufbau einer EU-weiten Gesundheitsdateninfrastruktur im Rahmen des EHDS (European Health Data Space): Zusammenarbeit der jeweiligen nationalen Datenzentren zur Nutzung von RWD und zur Entwicklung neuer Methoden für RWD-Analysen.

  • Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) beteiligt sich mit pharmakoepidemiologisch-methodischer Expertise und der Etablierung des Forschungsdatenzentrums Gesundheit an der europäischen Vernetzung zu RWE.

  • Die entstehende europäische RWD-Infrastruktur trägt dazu bei, dass das Potenzial von RWD in der Arzneimittelregulation und in der regulatorischen Forschung in Zukunft besser genutzt werden kann.