Einleitung

Entwicklungsauffälligkeiten bei Kindern sollten möglichst früh erkannt werden. Die bundesweit meist verpflichtend durchgeführte Schuleingangsuntersuchung (SEU; [8]) deckt solche Entwicklungsdefizite auf. Dabei zeigt sich beispielsweise anhand von Untersuchungsdaten in Nordrhein-Westfalen, dass ca. ein Drittel der Einschüler/innen keine altersgerechte Sprachkompetenz hat, jedes 10. Kind Auffälligkeiten in der motorischen Entwicklung aufweist und jedes 10. Kind übergewichtig oder adipös ist [26]. Jedoch wird der individuelle Nutzen der SEU für die Früherkennung als suboptimal eingestuft, da der Untersuchungszeitpunkt im Alter von ca. 6 Jahren relativ spät ist [48] und es sich nur um eine Momentaufnahme handelt [37]. Um den Entwicklungsstand der Kinder früher und besser einschätzen zu können, gewinnen Entwicklungsuntersuchungen in Kindertageseinrichtungen oder Kindergartenuntersuchungen (KU) an Bedeutung. Bei einer bundesweiten Betreuungsquote von > 90 % der 3‑ bis 6‑Jährigen [44] ist die Kindertageseinrichtung (Kita) ein zentrales Setting zur Durchführung solcher Entwicklungsuntersuchungen. Durch ein im Vergleich zur SEU deutlich früheres Gegensteuern könnten eine Verfestigung von Defiziten und ein Übergreifen auf andere Bereiche der Entwicklung verhindert werden [22]. Das Kind kann schon in seiner vorschulischen Entwicklung begleitet werden, und entsprechende Förderungen können früher greifen [35].

Im Gegensatz zur SEU werden KU in Deutschland jedoch nicht flächendeckend durchgeführt. Es gibt Einzellösungen und keinen Überblick über die verschiedenen Verfahrensweisen solcher Entwicklungsuntersuchungen in Kitas. Daher widmet sich die vorliegende Arbeit der Frage, wie KU in Deutschland umgesetzt werden. Dabei ist insbesondere von Interesse, welche Instrumente dabei benutzt werden und wie die Ergebnisse und Daten im weiteren Verlauf genutzt werden.

Methode

Die Beantwortung der Forschungsfrage erfolgte in mehreren Schritten und zwar mittels (1) einer Überblicksrecherche, (2) einer systematischen Literaturrecherche und (3) problemzentrierten Interviews.

Überblicksrecherche

Zunächst wurde eine explorierende Internetrecherche durchgeführt. Eingeschlossen wurden alle Screenings, Tests, Untersuchungen und Beobachtungen, die sich auf die kindliche Entwicklung beziehen und spätestens 1,5 bis 2 Jahre vor der Einschulung vorgenommen werden. Des Weiteren war von Bedeutung, dass die Untersuchung in den Kindertageseinrichtungen vorgenommen wird. Ausgeschlossen wurden reine Kita-Aufnahmeuntersuchungen, bei denen z. B. der Impfstatus überprüft wird sowie ambulante Untersuchungen wie z. B. U‑Untersuchungen.

Systematische Literaturrecherche

In Ergänzung zur Überblicksrecherche wurde dann zwischen Dezember 2021 und Februar 2022 eine systematische Literaturrecherche in den Datenbanken PubMed, Web of Science und Livivo durchgeführt. Dabei beschränkten wir uns auf deutschsprachige Literatur. Es wurden folgende Suchbegriffe definiert und kombiniert: ([Kindergartenuntersuchung* OR Sprachscreening* OR Massenscreening* OR Entwicklungsscreening* OR Entwicklungsdiagnostik* OR Beobachtungsinstrument*] AND [Kindergarten* OR Vorschul* OR Kindertages* OR Tages* OR Kita OR Kitas]). Einschluss- und Ausschlusskriterien waren die weiter oben unter Überblicksrecherche genannten, ferner wurden hier nur wissenschaftliche Beiträge (Originalarbeiten und Berichte) zu in Deutschland durchgeführten Entwicklungsuntersuchungen zwischen 2000 und 2021 einbezogen. Ausgeschlossen wurden Arbeiten, die sich lediglich auf die Testinstrumente als solche beziehen (z. B. Evaluationsstudien) und keinen Bezug zum Setting Kita haben sowie Arbeiten, die anhand einer Kita-Population durchgeführt wurden, wie etwa zur Prävalenzschätzung von Entwicklungsproblemen. Insgesamt ergaben sich 154 Treffer, nach Ausschluss der Dubletten ergaben sich 140 Treffer. Diese wurden von einer Person nach Titel und Abstracts gescreent. Nach dem Screening blieben 40 Treffer übrig. Durch Handsuche wurden weitere 12 relevante Studien recherchiert. Die resultierenden 52 Volltexte wurden von zwei unabhängigen Personen ausgewertet. Anschließend wurden die Ergebnisse abgeglichen und ggf. diskutiert. Der Prozess ist in Abb. 1 dargestellt.

Abb. 1
figure 1

Flow Chart der systematischen Literaturrecherche

Problemzentrierte Interviews

Für eine tiefergehende Bearbeitung wurden in einem dritten Schritt problemzentrierte Interviews durchgeführt. Dazu wurden alle von uns in der Überblicksrecherche gefundenen Kommunen eingeschlossen und Interviewpartner/innen identifiziert. In einem mehrstufigen Verfahren wurden diese zunächst schriftlich per E‑Mail und dann telefonisch rekrutiert. Insgesamt wurden im Frühjahr 2021 8 Interviews mit relevanten Akteurinnen und Akteuren aus den Gesundheitsämtern, vom Kinder- und Jugendärztlichen Gesundheitsdienst (KJGD) und der Jugendhilfe realisiert. Die Interviews wurden mit teilstandardisierten Interviewleitfäden strukturiert [25], welche nach dem SPSS-Prinzip (Sammeln, Prüfen, Sortieren, Subsummieren; [18]) erstellt worden waren und dazu anregten, über Grundlagen der KU, beteiligte Akteurinnen und Akteure sowie Fachbereiche, den konkreten Ablauf und die weitere Nutzung der Ergebnisse zu berichten. Der Interviewleitfaden befindet sich im elektronischen Supplement 1. Die Interviews wurden als Videotelefonate durchgeführt und extern wortgetreu transkribiert. Zwei unabhängige Gutachter/innen werteten die Transkripte mithilfe von MaxQDA (Version 20, VERBI GmbH, Berlin, Deutschland) in Anlehnung an die inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz [24] aus. Es wurde ein deduktiv-induktives Vorgehen gewählt, bei dem der Leitfaden als Grundlage der deduktiven Oberkategorien diente. Im weiteren Analyseprozess wurden diese angepasst und induktive (Unter)kategorien aus dem Datenmaterial entwickelt. Zu jeder Oberkategorie wurde ein thematisches Summary verfasst. So konnte das umfassende Material unter Berücksichtigung der Häufigkeiten von Kodierungen komprimiert und verdichtet werden [24, 25].

Ergebnisse

Überblicksrecherche

Bei der Verbreitung der KU in Deutschland zeigt sich ein heterogenes Bild. Es gibt weder eine einheitliche Namensgebung noch homogene Testverfahren. Neben dem von uns genutzten allgemeinen Begriff der Kindergartenuntersuchung kursieren zahlreiche Bezeichnungen: Kindergartenreihenuntersuchung, Kita-Eingangsuntersuchung, Screening im Kita-Alter etc. Eine Übersicht aller identifizierten Kommunen, in denen eine Form der KU durchgeführt wird, findet sich im elektronischen Supplement 2. Für jeden Kreis bzw. kreisfreie Stadt sind Bezeichnung und Schwerpunkte der Untersuchung abgebildet. Verschiedene kommunale Ansätze finden sich in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Für die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen scheint sich ein landesweites Vorgehen abzuzeichnen. Keine Ergebnisse finden sich für Bremen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen.

Systematische Literaturrecherche

Die wissenschaftliche Recherche ergab insgesamt 22 wissenschaftliche Beiträge, die sich auf 7 verschiedene KU beziehen. Da unter den Treffern auch Konferenzbeiträge waren und zur Vermeidung von Redundanzen wurde für die Ergebnisdarstellung der Literaturrecherche jeweils die fachlich informativste Publikation pro KU ausgewählt, zusammenfassend beschrieben und referenziert (Tab. 1). Insgesamt zeigt sich: Die KU werden landes- oder stadtweit durchgeführt und sind unterschiedlich konzipiert. Meist werden die allgemeine Entwicklung und der Impf- und Vorsorgestatus überprüft, in Hessen beschränkt sich das Screening auf die Sprachentwicklung. Die Untersuchungen werden entweder von den Erziehenden oder vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst vorgenommen. Die Teilnahme ist meist freiwillig, mitunter jedoch auch Pflicht. Das Angebot ist entweder flächendeckend oder nur für belastete Familien zugänglich.

Tab. 1 Kindergartenuntersuchungen – Ergebnis der systematischen Literaturrecherche

Problemzentrierte Interviews

Die Ergebnisse der Interviews werden nachfolgend in Form von thematischen Zusammenfassungen zu den Oberkategorien des entwickelten Kategoriensystems dargestellt.

Grundlagen

Die KU wird nach Auskunft einiger befragter Personen ohne gesetzliche Grundlage durchgeführt, teilweise werden allgemeine, gesetzliche Verpflichtungen zur Entwicklungsbeobachtung genannt (z. B. Kinderbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen [28] oder Kindertagesförderungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern [27]). In Baden-Württemberg ist eine Untersuchung im Kindergartenalter als erster Schritt der Einschulungsuntersuchung obligatorisch [30]. Eine bessere gesetzliche Verankerung wäre aus Sicht der Befragten hilfreich, um mehr Familien zu erreichen und es gäbe es eine Rechtfertigungsgrundlage bei den politischen Entscheidungsträger/innen. Als konzeptionelle Grundlagen für die KU werden häufig die Schuleingangsuntersuchungen in der eigenen Kommune genannt oder vergleichbare Untersuchungen aus anderen Bundesländern oder Landkreisen.

Eine zusätzliche Untersuchung im Kita-Alltag ist allerdings zeitaufwändig und aufgrund der knappen Ressourcen nur durch die hohe Einsatzbereitschaft der Fachkräfte umsetzbar. Die entstehenden Kosten sind nach Auskunft der befragten Personen größtenteils Personalkosten. Fortbildungs- und Sachkosten entstehen in geringem Umfang in Form von Testkoffern, Spielzeug, Untersuchungsbögen etc. Diese werden teilweise im Rahmen von Modellprojekten durch eingeworbene Projektmittel oder aus dem allgemeinen Budget des Gesundheitsamtes bzw. der Kommune getragen. In Baden-Württemberg werden die Kosten durch das Land getragen, weil die KU in die obligatorische SEU integriert ist [4]. Die Bereitschaft der politischen Entscheidungsträger, Ressourcen für die KU aufzuwenden, ist stark abhängig vom gesehenen Nutzen. Hier konnte teilweise durch kontinuierliche Überzeugungsarbeit und wissenschaftliche Evaluationen viel erreicht werden.

Beteiligte Akteurinnen und Akteure sowie Fachbereiche

Die vorgestellten Konzepte zu KU werden maßgeblich von Gesundheitsämtern, teilweise in Kooperation mit Jugendämtern, organisiert. Die Jugendämter werden auch bei auffälligen Befunden unterstützend hinzugezogen. Außerdem besteht ein enger Austausch mit den Kinderärztinnen und -ärzten, die insbesondere bei auffälligen Befunden einbezogen werden und weitere Maßnahmen wie Logopädie, Physiotherapie und Ergotherapie etc. verordnen. Als weitere wichtige Kooperationen werden genannt: Kitas, kommunale Gremien, Frühe Hilfen als koordinierte Hilfsangebote an Familien und ihre Kinder bis in die ersten Lebensjahre, Familienhebammen, Büros für Sozialplanung, Kinderpsychologinnen und -psychologen, Stadtteilkonferenzen, Krankenkassen, Lehrer/innen, Forschungsinstitute und (Hoch‑)Schulen. Es wird wiederholt beschrieben, wie wichtig funktionierende Netzwerke in der Kommune, insbesondere mit den Kitas, für den Erfolg der Untersuchungen sind. Da die Funktionalität stark von dem Engagement Einzelner abhängig ist, sind langfristige Stellenbesetzungen und stabile Teams wichtig.

Der Untersuchungsablauf

Die KU wird in der Mehrheit der dargestellten Kommunen im Rahmen eines Modellprojekts, in Stadtteilen mit besonderem Bedarf oder auch gezielt in sozialräumlich belasteten Kindergärten angeboten. In drei von den Befragten genannten Kommunen ist die KU ein flächendeckendes Angebot. In den meisten Fällen wird in den Einrichtungen mit Informationsmaterialien und Aushängen für die Untersuchung geworben, teilweise durch die direkte Ansprache der Fachkräfte oder über Elternabende. In Baden-Württemberg wird der Kontakt über das Melderegister hergestellt. In den anderen Bundesländern ist die Teilnahme an der KU freiwillig und wird von den Befragten mit einer Quote von 90–100 % als sehr hoch eingeschätzt.

Die KU wird in den meisten Fällen von einem Untersuchungsteam durchgeführt, bestehend aus Assistenzpersonal (medizinische Fachangestellte oder Kinderkrankenpfleger/innen) und einer Ärztin oder einem Arzt. Einige Befragte berichten, dass die Untersuchung zunächst von Assistenzpersonal durchgeführt und nur bei auffälligen Befunden ärztliches Personal hinzugezogen wird. Es wird berichtet, dass Befunde bei Eltern mehr Gewicht haben, wenn externe Untersuchende, wie die Angehörigen des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes, die KU in den Kitas durchführen. Es werden durchweg positive Erfahrungen berichtet, wenn KU und SEU von denselben Untersuchenden durchgeführt werden. Dies schafft Vertrauen bei den Familien und ermöglicht ggf. eine Verlaufsbeobachtung.

Häufig werden Impf- und Vorsorgehefte kontrolliert, Hör- und Sehtests durchgeführt und das Kind wird gewogen und gemessen. Anschließend werden eine körperliche Untersuchung und eine (standardisierte) Entwicklungsdiagnostik durchgeführt. Die Anwesenheit einer Fachkraft bei der Untersuchung ist gewünscht, jedoch nicht immer möglich. Teilweise werden auch standardisierte Screenings oder Alltagsbeobachtungen des Kita-Personals einbezogen. Als eingesetzte Screeninginstrumente werden genannt: Heidelberger auditives Screening in der Einschulungsuntersuchung (HASE; [42]), Sprachentwicklungstest für 3‑ bis 5‑jährige Kinder (SETK; [16]), Entwicklungstest für Kinder (ET 6–6; [32]), Basisdiagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen im Vorschulalter (BUEVA; [10]), Dortmunder Entwicklungsscreening für den Kindergarten (DESK 3–6; [11]), sozialpädiatrisches Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen (SOPESS; [5]), sozialpädiatrisches Programm Hannover jugendärztliche Aufgaben (SOPHIA; [20]), Wiener Entwicklungstest [23], Münchener funktionelle Entwicklungsdiagnostik (S-ENS; [9]) und Columbia Mental Maturity Scale (CMMS; [6]). Vor allem werden jedoch selbst entwickelte Instrumente eingesetzt, die sich meist an den oben Genannten orientieren und angepasst bzw. gekürzt werden. Auch Beobachtungen der Eltern werden teilweise einbezogen und ihre Anwesenheit ist erwünscht.

Nutzung der Untersuchungsergebnisse

Die Mehrheit der Befragten berichtet, dass nach der KU ein Elterngespräch stattfindet. Bei Bedarf werden Empfehlungen ausgesprochen, Informationsmaterialien oder Adressen gereicht und ggf. wird eine Zusammenarbeit bzw. Weiterleitung zur Kinderarztpraxis angestrebt. Dadurch wird den Familien der Weg in das Fördersystem erleichtert, wobei zwischen häuslicher Förderung, Förderung im pädagogischen System oder im medizinischen System unterschieden wird. Zentral ist die Frage, wovon das Kind am meisten profitiert. Bei Bedarf werden Folgeuntersuchungen durchgeführt und eine Nachbetreuung angeboten. Hier kann die KU als Lotse in das gesundheitliche und pädagogische Fördersystem fungieren. Die Mehrheit der befragten Personen berichtet, dass die KU kein Einzelangebot, sondern Teil eines Gesamtkonzepts ist. Die Untersuchung bettet sich in ein kommunales Netzwerk ein und bietet eine kontinuierliche Nachbetreuung und Begleitung bei auffälligen Kindern.

Der weitere Umgang mit den gewonnenen Daten der Kindergartenuntersuchung fällt sehr unterschiedlich aus. Die Daten aus den nordrhein-westfälischen Kommunen werden beispielsweise beim Landeszentrum Gesundheit (LZG) gesammelt und ausgewertet. Die Verknüpfung der Daten von KU und SEU wird als wünschenswert angesehen, in einzelnen Kommunen wird dies versuchsweise durchgeführt. Datenschutzrechtliche Belange und personelle Engpässe stehen dem jedoch entgegen. In einigen Fällen findet eine Aufbereitung und Auswertung für die Gesundheitsberichterstattung statt, manchmal werden die Daten nicht genutzt. In manchen Kommunen findet bzgl. der Datenauswertung eine Kooperation mit einer Universität statt. Viele Befragte würden sich standardisierte Auswertungsstrategien wünschen, diese sind aus Mangel an Personal oder Qualifikation jedoch häufig nicht möglich. Mehrere Befragte berichten, dass die Untersuchungsergebnisse von den Kommunen für Bedarfsanalysen in den Sozialräumen und Kitas genutzt werden. Die Ergebnisse können eine Argumentationsgrundlage für mehr Angebote und Projekte in der Kommune oder in einzelnen Stadtteilen liefern. Darüber hinaus werden die Daten und Ergebnisse auf Anfrage an verschiedene politische Entscheidungsträger/innen herausgegeben oder im Rahmen von kommunalen Netzwerken referiert.

Diskussion

Ziel der Studie war zu untersuchen, wie KU in Deutschland umgesetzt werden. Die verschiedenen Recherchen machten zunächst deutlich, dass eine Vielzahl von Begriffen und mehr oder weniger standardisierten und validierten Instrumenten für Entwicklungsuntersuchungen im Kindergarten existiert. Dies untermauerten auch die Interviews. Zusätzlich wurden verschiedene gesetzliche Grundlagen, kommunale Kooperationsformen und Verfahrensweisen mit den Untersuchungsergebnissen genannt. Gemeinsam war allen Schilderungen, dass die Kindergartenuntersuchung in ein Gesamtkonzept eingebettet ist und dass die Eltern auf Basis der Untersuchungsergebnisse in das kommunale Fördersystem vermittelt werden. Auf diese Punkte wird im Folgenden näher eingegangen.

Instrumente

Die allgemeine Verwendung validierter Instrumente durch die von uns befragten Personen ist als günstig zu bewerten, wenngleich sie im Widerspruch zu anderen Studien steht, nach denen ein nicht geringer Anteil von Einrichtungen selbst entwickelte Verfahren zur Beurteilung der kindlichen Entwicklung einsetzt [21]. Validierte Instrumente sind subjektiven Elterneinschätzungen überlegen, die nicht ausreichen, um Entwicklungsdefizite möglichst frühzeitig zu erkennen – so das Ergebnis eines Vergleichs elterlicher Urteile mit Testleistungen [13]. Screenings können dabei als ökonomisches Verfahren mit Filterfunktion genutzt werden [11], was allerdings mit einer gewissen Unsicherheit behaftet ist. So zeigen Längsschnittdaten zu Verhaltensauffälligkeiten, dass mit einem Entwicklungsscreening im Kindergarten fast alle Kinder, die in der Grundschule auffällig waren, zuvor entdeckt werden konnten; andererseits verhielt sich die Hälfte der im Kindergarten identifizierten „Risikokinder“ später altersangemessen [46]. Das Potenzial der frühen Identifikation mit Inkaufnahme falsch-positiver Befunde ist nach Ansicht von Tröster [46] jedoch akzeptabler als vulnerable Kinder zu übersehen und nicht zu fördern. Nach Wolf et al. [49] würden durch informelle Urteile und Beobachtungen mehr falsche Diagnosen gefällt als durch Screenings. Demgegenüber wird in der Literatur jedoch auch kritisch angemerkt, dass es sich bei den Entwicklungsbereichen Verhalten, Motorik oder Sprache um komplexe Phänomene handelt. Am Beispiel der Sprachentwicklung diskutieren Assoudi und Petermann [2], dass sich das Kind im Spannungsfeld zwischen institutionellen Anforderungen und individuellen Entfaltungsmöglichkeiten befindet und dass durch standardisierte Erhebungen eine bereits im vorschulischen Alter beginnende Leistungsorientierung begünstigt wird. Im Hinblick auf die Individualität des Kindes wird ein weiterer, besonders im Zusammenhang mit der Sprache evidenter Punkt diskutiert: Die für Kinder mit deutscher Muttersprache entwickelten Instrumente sind für Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache mitunter ungeeignet. Bilingual aufwachsende Kinder haben andere Lautentwicklungsphasen, so dass alternative Testinstrumente nötig und auch entwickelt worden sind [34].

Gesetzliche Grundlagen

Die von den Befragten genannten gesetzlichen Grundlagen für Untersuchungen in Kitas kommen von zwei Seiten und zwar von den landesspezifischen Kita-Gesetzen und von den Landesgesetzen für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Der Verbindlichkeitsgrad in diesen Gesetzen ist allerdings recht unterschiedlich. In einigen Ländern finden sich in den Kita-Gesetzen Muss-Vorschriften, in anderen Ländern Soll- oder Kann-Vorschriften. In Bayern [3], Berlin [1], Hamburg [20], Hessen [19], Niedersachsen [36], Rheinland-Pfalz [29], Schleswig-Holstein [41] finden sich nach unserem Kenntnisstand gar keine gesetzlichen Hinweise in den Kita-Gesetzen. In Baden-Württemberg ist das Schulgesetz [30] die gesetzliche Grundlage, da die Schuleingangsuntersuchung („Schritt 1“; [4]) in der Kita vorgezogen wird. Diese heterogene Gesetzeslage spiegelt die unterschiedlichen Berichte der in den Interviews befragten Personen wider.

Kommunale Kooperationsformen

Die kommunalen Kooperationsformen als Grundlage der KU betreffen ein Kernproblem gesundheitsbezogener Versorgung. Die Fragmentierung oder Versäulung der Versorgungsbereiche wird den komplexen Problemen (neue Morbiditäten, vgl. [38]) sowohl von Kindern als auch Erwachsenen nicht gerecht. Um eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung sicherzustellen, werden interdisziplinäre und multiprofessionelle Kooperationen der beteiligten (Gesundheits)berufe gefordert [14, 40]. Ein kommunales Instrument zur Förderung der kindlichen Entwicklung und Gesundheit sind die sog. Präventionsketten [39]. Welche Rolle die KU in diesem Gefüge spielt, konnte anhand der Individualdaten von Düsseldorfer Schulneulingen in einer Untersuchung von Götz et al. [15] gezeigt werden. Dabei nutzten diejenigen Kinder, die zuvor eine in sozialräumlich belasteten Stadtteilen durchgeführte KU durchlaufen hatten, häufiger Präventionsangebote als Kinder aus einer ähnlichen sozialen Lage, die nicht von der KU erreicht wurden. Im Düsseldorfer Modell vermittelten Präventionsmanager/innen nach der amtsärztlichen Untersuchung in entsprechende Präventionsangebote [45]. Die Untersuchung von Götz et al. [15] legt nahe, dass die KU eine Lotsenfunktion in Präventionsketten einnehmen kann. Die geringen Ressourcen des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes in den Kommunen stehen dem Potenzial der KU jedoch entgegen. Dies moniert auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte [7]: Demnach ist die aufsuchende Arbeit insbesondere für Kinder aus benachteiligten Milieus ein wichtiger Teil des gemeinwohlorientierten medizinischen Versorgungssystems, sie kann aber nicht gewährleistet werden, wenn der Öffentliche Gesundheitsdienst „ausblutet“.

Bei den kommunalen Kooperationsformen scheint auch eine Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Akteurinnen und Akteuren besonders zielführend. So zeigt sich in dem von der Universitätsmedizin Greifswald und vom Landesministerium für Soziales und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern durchgeführten Modellprojekt, dass die Einführung des validierten Screenings DESK in kommunalen Kitas dazu geeignet ist, Entwicklungsgefährdungen frühzeitig zu erkennen und dass dieses Verfahren unter den Erziehenden Akzeptanz erfährt [11, 12]. Infolge dieser Evidenz erfolgt die KU im Rahmen einer Verordnung, die verbindlich vorschreibt, dass in Kitas in sozialräumlich schwieriger Lage DESK als Früherkennungsverfahren eingesetzt werden sollFootnote 1.

Limitationen

Dies ist unseres Wissens die erste Studie, die verschiedene Herangehensweisen der KU untersucht hat. Dabei ergibt die Kombination von orientierender Überblicksrecherche und systematischer wissenschaftlicher Recherche einerseits und Einschätzungen relevanter Akteurinnen und Akteure andererseits ein breites Bild. Eine zentrale Einschränkung in Bezug auf die Aussagekraft der Ergebnisse ist die kleine Stichprobe bei den qualitativen Interviews, die der pandemischen Lage der Gesundheits- und Jugendämter geschuldet war.

Fazit für die Praxis

  • Es existiert eine Reihe vielversprechender Ansätze und Instrumente der Kindergartenuntersuchung (KU), um die kindliche Entwicklung frühzeitig zu beurteilen und Kinder zeitnah zu fördern.

  • Gesetzliche Grundlagen sollten, wo vorhanden, besser als Legitimation genutzt werden oder dort, wo nicht vorhanden, geschaffen werden. Denn eine KU als verpflichtende Maßnahme hilft den Kommunen bei der Durchführung und sichert die notwendigen Ressourcen. Jedoch sind auch ohne eine solche Grundlage in einigen Bundesländern überzeugende Konzepte der Kindergartenuntersuchung etabliert.

  • Erfolgreiche Ansätze sollten künftig stärker wissenschaftlich evaluiert und dargestellt werden.

  • Es ist davon auszugehen, dass die in der oben genannten Überblicksrecherche ausgemachten Leerstellen nicht zwangsläufig bedeuten, dass Länder oder Kommunen keine KU vorhalten – sie könnten auch durch eine geringe Präsenz im Internet oder in wissenschaftlichen Publikationen begründet sein.

  • Wissenschaftliche Sichtbarkeit ist wiederum eine Legitimation für die Politik, entsprechende Grundlagen zu schaffen.

  • Auch scheint es sinnvoll, fachlich überregionalen Austausch voranzutreiben, damit bereits durchdachte Konzepte als Vorbild für andere Kommunen dienen können. In dem Zusammenhang könnten die Landesjugendämter eine zentrale Stellung einnehmen.