Bei Menschen mit geistiger BehinderungFootnote 1 wurden ein (problematischer) Substanzkonsum und Suchtverhalten lange nicht als Gegenstand der Gesundheitswissenschaften und Prävention betrachtet. Mittlerweile gewinnt die Thematik bei Menschen mit Behinderung laut nationalen [1, 6, 21, 25] und internationalen Studien [8, 34, 36] in Forschung, Prävention und Hilfesystemen immer mehr an Bedeutung.

Seit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) und dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) hat sich im Zuge der zunehmenden Inklusion und des Normalisierungsbestrebens die (Wohn-)Situation von Menschen mit (geistiger) Behinderung von den Sondersystemen der Eingliederungshilfe zu mehr eigenverantwortlichem Leben (eigenes Zuhause) verändert [4, 32]. Durch den Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe und den Anspruch auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben entfällt zunehmend der durch Werkstätten oder betreute Wohneinrichtungen gebotene behütete Rahmen [1, 21, 24]. Inklusive Lebenswelten ermöglichen einen selbstbestimmten Umgang mit Genuss- und Suchtmitteln für Menschen mit geistiger Behinderung [25]. Dies erfordert allerdings in den Hilfesystemen (Behinderten- und Suchthilfe) sowohl fachlich-methodisches Wissen für geeignete Präventionsmaßnahmen als auch ausreichende Ressourcen für Hilfeangebote bei problematischem Konsum sowie etablierte und funktionierende Netzwerke [1, 6, 21, 25].

Ziel des Beitrags ist es, 1) einen Überblick über den Forschungsstand zum Substanzkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung und 2) den damit verbundenen Herausforderungen für die Klient*innen sowie für die Hilfesysteme (insbesondere die Behinderten- und Suchthilfe) zu geben. Zudem werden 3) Anforderungen und Aufgaben für die Hilfesysteme abgeleitet und 4) Möglichkeiten zum Erheben des Substanzkonsums (mit bestehenden Screeninginstrumenten) gegeben. Der Beitrag mündet in 5) der Darstellung von Präventionsprogrammen im nationalen und internationalen Raum, die Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung und weitere Adressat*innen in der Sucht- und Behindertenhilfe bereitstellen (z. B. Fachkräfte, Betreuungspersonen).

Substanzkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung

Substanzkonsum beschreibt den Konsum von psychoaktiven Substanzen wie Tabak, Alkohol und Cannabis. SuchtFootnote 2 steht als synonyme Bezeichnung für eine Abhängigkeit von einer Substanz oder einem Verhalten. Das Klassifikationssystem ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der WHO verwendet den Begriff des Abhängigkeitssyndroms. „Es handelt sich um eine Gruppe körperlicher, Verhaltens- und kognitiver Phänomene, bei denen der Konsum einer Substanz oder einer Substanzklasse für die betroffene Person Vorrang hat gegenüber anderen Verhaltensweisen, die von ihr früher höher bewertet wurden“ [12]. Tab. 1 stellt die Merkmale eines Abhängigkeitssyndroms dar. Es müssen mindestens 3 Kriterien über einen Zeitraum von 12 Monaten erfüllt sein, um ein Abhängigkeitssyndrom zu diagnostizieren [12].

Tab. 1 Merkmale eines Abhängigkeitssyndroms nach ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems)

Repräsentative Erhebungen zum Substanzkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung liegen bisher nicht vor. Es gibt jedoch in Deutschland bundesländerspezifische Erhebungen aus den letzten 20 Jahren zu diesem Thema (Anhang: Tabelle Online-Anhang A1) sowie internationale Studienergebnisse [8, 34, 36]. Die Erhebungen verdeutlichen, dass problematischer Konsum von psychoaktiven Substanzen sowie Suchtprobleme auch bei Menschen mit geistiger Behinderung auftreten und für die Zielgruppe von Bedeutung sind (Tab. 2). Dabei spielen der Tabak- und Alkoholkonsum eine bedeutende Rolle im Vergleich zu Cannabis oder anderen illegalen Substanzen [21, 30].

Tab. 2 Studienergebnisse zu Häufigkeiten des Substanzkonsums bei Menschen mit geistiger Behinderung

Laut Studienergebnissen wird deutlich, dass die Prävalenzen von Substanzkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung sehr heterogen ausfallen (Tab. 2). Dabei zeigen sich Unterschiede zwischen Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung und einer schwereren geistigen Behinderung. Studienergebnisse deuten darauf hin, dass es zwar eine geringere Prävalenz des Alkohol- und Drogenkonsums bei Menschen mit geistiger Behinderung gibt, jedoch ein erhöhtes Risiko dafür, eine Abhängigkeit bei der Einnahme dieser psychoaktiven Substanzen zu entwickeln [10, 36]. In Bezug auf den Konsum von Tabak werden kaum Unterschiede zwischen der Allgemeinbevölkerung und Menschen mit geistiger Behinderung festgestellt [8]. Der Konsum von Alkohol fällt etwas geringer aus im Vergleich zu dem der Allgemeinbevölkerung, ist aber die bedeutendste Substanz, die konsumiert wird [36].

Die Ergebnisse bisheriger internationaler Studien zeigen, dass Menschen mit leichten intellektuellen Einschränkungen sowie konsumierende Kinder und Jugendlichen (11 bis 21 Jahren) mit geistiger Behinderung ein höheres Risiko für Substanzgebrauchsstörungen aufweisen als Menschen mit mittlerer bis schwerer geistigen Behinderung bzw. Jugendliche ohne Behinderung [36]. Ungefähr 5 % der Menschen mit geistiger Behinderung weisen eine Substanzgebrauchsstörung auf [8]. Eine Annahme ist, dass Personen mit einer sehr leichten bzw. leichten kognitiven Einschränkung und/oder einem fortgeschrittenen sozioemotionalen Entwicklungsstand eher körperlich und finanziell unabhängig sind und einen leichteren Zugang zu psychoaktiven Substanzen haben. Hingegen scheinen Menschen mit einer stärkeren kognitiven Einschränkung einen erschwerten Zugang zu haben, was u. a. aus der Wohnform in stationären Einrichtungen resultieren könnte [8].

Herausforderungen durch (problematischen) Substanzkonsum für Klient*innen und Hilfesysteme

Für die Entwicklung eines problematischen Konsums von psychoaktiven Substanzen können bei Klient*innen (insbesondere mit einer leichten geistigen Behinderung) verschiedene persönliche und soziale Einflussfaktoren verantwortlich sein. Als Hauptursachen für Frustration, die zum Substanzkonsum führen kann, werden folgende Faktoren angesehen [1, 7, 29]:

  • soziale Ausgrenzung aus der Gesellschaft,

  • fehlende Anerkennung und soziale Kontakte,

  • Unveränderlichkeit des kognitiven Zustands

  • begrenzte Aussichten auf normale Lebensziele wie bei Menschen ohne Behinderung (z. B. eigenes Auto, eigenes Haus, Familie, Karriere).

Durch den Substanzkonsum wird der Versuch unternommen, das Gefühl des „Dazugehörens“ zur „normalen“ Bevölkerung herzustellen [1, 18, 24, 28]. Ein erster Substanzkonsum erfolgt häufig bereits im Jugendalter. Die Präsenz von gleichaltrigen Peers und der Konsum innerhalb des Freundeskreises kann diesen hervorrufen oder verstärken. Damit erfolgt die Anpassung an Gruppennormen und die Orientierung an z. T. negativen Vorbildern. Ein Mangel an Problemlösungsstrategien und die Fähigkeit, diese zu entwickeln, sowie der Wunsch nach Selbstbestimmung und Widerstand gegen Fremdbestimmung durch Hilfe- und Unterstützungssysteme werden als weitere Bedingungsfaktoren des Substanzkonsums gesehen [7, 28, 29]. Als Risikofaktoren werden für den Substanzkonsum zudem ein niedriger sozioökonomischer Status, schlechte Lebensbedingungen, mangelnde Tagesaktivitäten bzw. tagesstrukturierende Maßnahmen, persönliche Schwierigkeiten sowie der Mangel an Wissen über den Substanzkonsum in Verbindung gebracht [36].

Neben persönlichen und sozialen Einflussfaktoren hat die Betreuungsform von Menschen mit geistiger Behinderung einen Einfluss auf den Substanzkonsum. Im ambulant betreuten Wohnen und in Werkstätten zeigen sich die häufigsten Probleme durch Substanzmissbrauch oder Abhängigkeit; in Tagesförderstätten sind diese am geringsten [21]. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass mit abnehmender Betreuungsintensität und der eher leichteren geistigen Behinderung das Risiko für Substanzmissbrauch und -abhängigkeit steigt. Zusätzlich werden weniger Freizeitaktivitäten vorgegeben, sodass vermehrt auf den Konsum von Substanzmittel als Freizeitgestaltung zurückgegriffen wird. Im betreuten Einzelwohnen kommt Isolation und Einsamkeit noch verstärkend hinzu [17, 21, 29].

In Bezug auf die gesundheitliche Lage weisen Menschen mit geistiger Behinderung insgesamt ein erhöhtes Gesundheitsrisiko, häufigere Erkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten sowie psychische Störungen auf und leben häufiger mit komplexen gesundheitlichen Beeinträchtigungen – sog. Ko- und Multimorbiditäten – als Menschen ohne Behinderung. Die Erkrankungsmuster können sich unterschiedlich äußern und mit der Ursache der Behinderung zusammenhängen [27]. Bei gleichzeitiger Einnahme von (verschriebenen) Medikamenten und Substanzkonsum kann sich die Wirkung der Medikamente dahingehend verändern, dass es zu einer (dauerhaften) gesundheitlichen Schädigung kommt [14, 15, 20]. Daher besteht eine besondere Gefährdung durch den Substanzkonsum für Menschen mit geistiger Behinderung, die Medikamente einnehmen müssen, verglichen mit Menschen ohne Behinderung bzw. ohne Medikation.

Als Folgen des Substanzkonsums werden bei Menschen mit geistiger Behinderung

  • körperliche (z. B. Konzentrationsstörungen, Unruhe, übermäßiges Schwitzen, Gleichgewichtsstörungen),

  • psychische (z. B. vermindertes Selbstwertgefühl, Stress),

  • soziale und rechtliche (z. B. soziale Isolation, Aggressivität und Gewalt) sowie

  • finanzielle Probleme (z. B. hohe Ausgaben aufgrund des Konsums) genannt [28, 33].

Neben Herausforderungen für die Klient*innen ergeben sich auch Herausforderungen aufgrund eines problematischen Substanzkonsums und Sucht für die Behinderten- und Suchthilfe. Die Systeme der Behinderten- und Suchthilfe erlebten gleichermaßen grundlegende Veränderungen im Umgang mit von Substanzmissbrauch und Sucht betroffenen Personen. Der Wandel der Perspektiven und des normativen Rahmens beider Hilfesysteme wird als Paradigmenwechsel verstanden. Dabei zeigt sich, dass sich die geltenden Leitprinzipien der Behinderten- sowie der Suchthilfe als weitestgehend kompatibel erweisen (Tab. 3), obwohl die Hilfesysteme selten vernetzt und ihre Tätigkeiten wenig aufeinander bezogen sind [6].

Tab. 3 Leitideen der Behinderten- und Suchthilfe

Allerdings ist nicht außer Acht zu lassen, dass die Prinzipien der modernen Behindertenarbeit, insbesondere mit Fokus auf Normalisierung und Selbstbestimmung, eine paradoxe Wirkung entfalten können. Während die zuvor geltende „Fürsorge“ nicht mehr zeitgemäß ist und einer Überbehütung und Fremdbestimmung gleichgesetzt wird, gehen die geltenden Prinzipien mit mehr (gewollten) Freiheiten und der Entwicklung von Selbstverantwortung bei Menschen mit geistiger Behinderung bzw. einer Befähigung für eigenverantwortliches Handeln durch das Fachpersonal einher [21, 31]. Inklusive Lebenswelten beinhalten einen selbstbestimmten Konsum von Genuss- und Substanzmitteln, die unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Suchtgefährdung erhöhen können [21, 26, 29]. Daraus folgt das Ausbalancieren eines Spannungsverhältnisses von Selbstbestimmung und ihrer Grenzen zum Schutz der Gesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung [14]. Praxisorientierte Handlungskonzepte der Behindertenhilfe vernachlässigen allerdings oftmals die Auseinandersetzung mit den Grenzen von Inklusion, Teilhabe und Selbstbestimmung, sodass Entscheidungen in Verantwortungsfragen individuell gehandhabt werden [26]. Der Umgang mit (problematischem) Substanzkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung bedarf einer personenzentriert und ressourcenorientiert ausgerichteten Begleitung statt einer überholten defizitorientierten Betreuung und Fürsorge [18, 21].

Konsequenzen durch den Substanzkonsum beziehen sich zwar primär auf die Klient*innen selbst (körperlich, psychisch, sozial, beruflich, ökonomisch), jedoch sind Herausforderungen für das Fachpersonal und die Mitmenschen in Wohn- und Werkstätten nicht zu unterschätzen. Für das Fachpersonal zeigt sich bspw. ein erhöhter Betreuungsbedarf mit Mehraufwand und der Gefahr von Vernachlässigung anderer Aufgaben und Klient*innen, inklusive des Spannungsverhältnisses zwischen „Fürsorge“ und Unterstützung zur Selbstbestimmung [21].

Auch ein sog. koabhängiges VerhaltenFootnote 3 des betreuenden Fachpersonals in Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie des sozialen Umfelds stellt eine weitere Herausforderung von problematischem Substanzkonsum für die Hilfesysteme dar. Aufgrund fehlender Konfrontation bzw. Intervention unterstützt und stabilisiert eine koabhängige Person den Substanzkonsum bzw. das Abhängigkeitsverhalten und den Krankheitsverlauf der Klient*innen [23]. Hier bedarf es besonderer Aufmerksamkeit beider Hilfesysteme sowie die Selbstreflektion hinsichtlich der Motivation für eine Verhaltensänderung bei Klient*innen mit problematischem Konsum.

Aufgrund des Paradigmenwechsels, gestützt durch die UN-BRK und das BTHG, müssen die sich ergebenden Herausforderungen, Chancen und Aufgaben beider Hilfesysteme im Umgang mit Klient*innen neu bedacht werden.

Umgang mit Substanzkonsum: Anforderungen und Aufgaben der Hilfesysteme

Ein (problematischer) Substanzkonsum oder eine Sucht von Menschen mit geistiger Behinderung führen aufgrund der besonderen Bedarfe der Klientel, wie z. B. eingeschränkter Selbstreflexion, zu spezifischen Anforderungen an die Hilfesysteme, wie Begleitung und Strukturierung des Alltags der Klient*innen. Folgende Anforderungen zum Umgang mit Substanzkonsum (Tab. 4) lassen sich an die Behinderten- und Suchthilfe adressieren:

Tab. 4 Anforderungen an und Aufgaben für die Behinderten- und Suchthilfe

Anhand der Anforderungen lassen sich explizite Aufgaben für die Hilfesysteme ableiten:

  • das Verhalten und die Folgen des Substanzkonsums den Klient*innen spiegeln, um Veränderungsbereitschaft zu entwickeln statt zu strafen oder zu sanktionieren [3],

  • „nudging“: Anstoßen von Verhaltensänderungen ohne bevormundend und moralisierend zu wirken [1],

  • Stärkung der Schutzfaktoren der Klient*innen und Förderung von Kompetenzen [18],

  • Unterstützung bei der Problembewältigung durch alternative Handlungsmöglichkeiten anstelle des Substanzkonsums geben [18, 29],

  • Aufklärung und Beratung (Wissensvermittlung, Handlungsalternativen aufzeigen, Reflexion des eigenen Verhaltens anregen, Problemlösestrategien aufzeigen, Sinnesschärfung) abhängig vom Grad der Behinderung und des sozioemotionalen Entwicklungsstand der Klient*innen [24],

  • Weiterbildung des Fachpersonals [1, 21, 29].

Insgesamt verdeutlichen die Ausführungen zum Umgang mit Substanzkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung, dass es bedarfsgerechte, niedrigschwellige Unterstützungs- und Hilfsangebote (Schulung, Prävention, Beratung, Therapie) in der Behinderten- und Suchthilfe braucht, die Menschen mit geistiger Behinderung a) beraten, b) aufklären, c) zu Abstinenz oder kontrolliertem Konsum motivieren und bei einem Suchtproblem d) in ambulante oder teilstationäre Therapie begleiten und e) im Rahmen der Nachsorge auch nachbetreuen [16]. Daneben braucht es auch ein umfassendes Schulungs- und Vernetzungsangebot für Fachkräfte der Hilfesysteme.

Erfassung und Screening des Substanzkonsums bei Menschen mit geistiger Behinderung

Da ein (problematischer) Substanzkonsum alle Akteure der Behindertenhilfe und das private Umfeld betreffen kann, erfordert es eine genaue Betrachtung des individuellen Verhaltens bzw. des (problematischen) Substanzkonsums. Um herauszufinden, ob und wie häufig Klient*innen psychoaktive Substanzen konsumieren, liegen mittlerweile unterschiedliche Instrumente zum Screening – insbesondere aus den Niederlanden – vor (Tab. 5). Die vier dargestellten Screeninginstrumente und -methoden haben das Ziel, einen (problematischen) Substanzkonsum zu erkennen und entsprechende Präventionsmaßnahmen einzuleiten.

Tab. 5 Screeninginstrumente zur Erfassung des Substanzkonsums bei Menschen mit geistiger Behinderung

Das Screeninginstrument SumID‑Q („Substance Use & Misuse in Intellectual Disabiliy Questionnaire“) wurde in den Niederlanden als Interviewfragebogen zur Erfassung des Substanzkonsums mit Risikofaktoren und Auswirkungen bei Menschen mit geistiger Behinderung entwickelt und erprobt ([34]; Tab. 6).

Tab. 6 Screeningprozess des Instruments SumID‑Q („Substance Use & Misuse in Intellectual Disabiliy Questionnaire“)

Der zweite Bestandteil des SumID-Q-Screenings ist das Ampelmodell, das auch unabhängig durchgeführt werden kann. Ziel der Methode ist eine Einschätzung durch Bezugs- oder Betreuungspersonen über die Problematik bei Substanzkonsum sowie Ableitung zielgenauer Interventionen [19, 35]. Die 3‑Ebenen-Diagnostik ermöglicht ein Screening des Substanzkonsums unter Einbeziehung der Betreuungs- bzw. Bezugspersonen, die unter Berücksichtigung der drei Ebenen in der Kombination die Folgen und den Betreuungsbedarf beeinflussen und eine adäquate Intervention erfordern [7].

Das Erhebungsverfahren „rapid assessment and response“ (RAR) bietet einen sozialwissenschaftlichen Ansatz zur Erfassung von Informationen aus verschiedenen Perspektiven mittels Methodenmix. Dadurch wird ein verlässliches Bild über die Hintergründe und Wahrnehmung der Problematik des Substanzkonsums generiert, sodass über Interventionen entschieden werden kann [28].

Bei allen Instrumenten sollte eine einfühlsame und nicht konfrontative Atmosphäre geschaffen werden, mit dem Ziel, ein offenes und ehrliches Gespräch zu führen. Befragte sollen sich trotz der ungewohnten Situation möglichst wohlfühlen und keine Angst vor „falschen“ Antworten haben. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Interviewer*innen eine interessierte Haltung – ohne moralische oder wertende Beurteilung oder Bevormundung – zeigen [34].

Übersicht zu Präventionsangeboten und -programmen

Die Förderung eines gesundheitsbewussten und reflektierten Umgangs mit Substanzmitteln ist als eigenständiges Arbeitsfeld der Prävention anzuerkennen [22]. Maßnahmen der Prävention setzen eine Orientierung an den Lebenswelten der Zielgruppe voraus und beeinflussen die Schutz- und Risikofaktoren von Menschen. Hierbei wird mit unterschiedlichen Ansätzen gleichermaßen eine Verhaltensänderung des Individuums als auch eine Verhältnisänderung der Strukturen in der Lebenswelt fokussiert. Der universelle Präventionsansatz richtet sich an die gesamte oder große (Teil-)Populationen, die noch nicht von einem (problematischen) Substanzkonsum betroffen sind. Im Gegensatz dazu interveniert der selektive Präventionsansatz bei Zielgruppen mit erhöhtem Risiko und wird im Falle von sicheren Risikofaktoren oder manifestierten Störungen bei Individuen oder Gruppen um indizierte Präventionsmaßnahmen erweitert (Tab. 7; [13]).

Tab. 7 Ansätze der Suchtprävention bei Menschen mit geistiger Behinderung

Die vorhandenen Präventionsmaßnahmen und Informationsmaterialien für die Allgemeinbevölkerung sind im Kontext von Arbeits- und Freizeit- bzw. Wohnbereich nicht ohne Anpassung an die Bedarfe der Zielgruppe anwendbar. Um für einen gesundheitsbewussten Umgang mit Substanzmitteln zu sensibilisieren, wurden Modellprojekte und Präventionsprograme entwickelt, die an die Bedarfe von Menschen mit geistiger Behinderung angepasst sind (Tab. 8). Dies beinhaltet didaktische und methodische Elemente, bspw. die Verwendung von Leichter Sprache, regelmäßigen Wiederholungen, Piktogrammen und Bildern, lebensnahen Zielen sowie die Darstellung realitätsnaher Lebenssituationen und Beispiele [6, 20, 29]. Zusätzlich wird von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS; [9]) eine Reihe entsprechender Informationsmaterialien zum Substanzkonsum in Leichter Sprache zur Verfügung gestellt.

Tab. 8 Übersicht zu Präventionsprogrammen und -maßnahmen für Menschen mit geistiger Behinderung im internationalen und nationalen Raum

Präventionsmaßnahmen sollten die Zielgruppe mit ihren Bedarfen und Rahmenbedingungen der jeweiligen Lebenswelten fokussieren, indem zielgruppenadäquate Elemente eingesetzt werden und Klient*innen und das Fachpersonal dazu sensibilisiert werden. Zur gezielten Förderung von Schutzfaktoren und alternativen Verhaltensweisen bedarf es der Berücksichtigung der situativen Ausgangslage. Dafür ist es notwendig, dass Menschen mit geistiger Behinderung und Fachkräfte der Sucht- und Behindertenhilfe für die Problematik sensibilisiert und zu einem gesundheitsbewussten Umgang mit Substanzmitteln angemessen befähigt werden [24].

Daneben ist es wichtig, Angebote für Klient*innen (Peer-to-peer-Ansatz) und zur Fort- und Weiterbildung sowie Schulungen von Fach‑/Betreuungspersonal (Multiplikator*innen‑/Lots*innenansatz) fortzuführen und nachhaltig zu implementieren (s. TANDEM). Langfristig bedarf es umfassender Konzepte zur Prävention von (problematischem) Substanzkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung und ihrem Umfeld, der Sensibilisierung und der Schulung von Klient*innen und Fachpersonal. Diese Aufgabe ist gleichzeitig eine Chance für eine stärkere Zusammenarbeit von Sucht- und Behindertenhilfe, um personen- und sozialraumorientierte Angebote in Netzwerken zu etablieren [1, 6, 21, 25].

Ein problematischer Substanzkonsum erfordert zudem eine Suchtberatung und Therapie, die ebenso an die individuellen sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten der Klient*innen mit geistiger Behinderung angepasst werden müssen; mit zielgruppenadäquaten Elementen, die die Vernetzung und Schnittstellenproblematik zwischen Behinderten- und Suchthilfe fokussieren und langfristig Präventionsketten lebensweltübergreifend und lebensphasenübergreifend berücksichtigen.

Fazit für die Praxis

  • Bisherige Studienergebnisse – insbesondere im internationalen Raum – verdeutlichen die Relevanz von weiteren Studien zur Erfassung der Prävalenz bzw. Häufigkeit des Substanzkonsums von Menschen mit (geistiger) Behinderung in Deutschland.

  • Eine Zusammenarbeit und Vernetzung des Fachpersonals in Einrichtungen der Behinderten- und Suchthilfe sollte angestrebt werden, um Menschen mit geistiger Behinderung bestmöglich beim Zugang zu und der Inanspruchnahme von Beratung, Prävention und Therapie zu unterstützen.

  • Zur stärkeren Vernetzung der beiden Hilfesysteme bedarf es u. a. der Entwicklung und Anwendung von Konzepten in beiden Hilfesystemen sowie der Sensibilisierung und Schulung von Fachkräften und Bezugspersonen.

  • Für Menschen mit geistiger Behinderung sind Maßnahmen zur Gesundheitsbildung und Kompetenzstärkung, Peer-to-Peer-Ansätze und Schulung notwendig.

  • Es bedarf verhaltens- und verhältnisorientierter Maßnahmen der Suchtprävention, die u. a. partizipativ, bedürfnis- und bedarfsbezogen, zielgruppengerecht entwickelt werden und die Materialien u. a. in Leichter Sprache, mit Bildern und Piktogrammen, mit vielen Wiederholungen, aktivierende Einheiten und digitalen Angeboten umfassen.

  • Künftig sollte das Thema Substanzkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung insbesondere im ambulant betreuten Wohnen stärker in (kommunalen) Präventionsketten, den Lebenswelten und über die Lebensphasen hinweg berücksichtigt werden.