Hintergrund und Fragestellung

Mentalisieren und das Mentalisierungskonzept

Das Mentalisierungskonzept ist ein junges Konzept, das seit den 1990er-Jahren von der Londoner Arbeitsgruppe um Peter Fonagy entwickelt wurde und sich in klinischen Zusammenhängen zunehmender Popularität erfreut [18, 21]. Zentraler Aspekt des Konzepts ist die Mentalisierungsfähigkeit, die die imaginative Fähigkeit beschreibt, Verhaltensweisen unter Berücksichtigung intentionaler mentaler Zustände wie Bedürfnisse, Gefühle oder Gedanken in angemessener Weise wahrnehmen und verstehen zu können, was in der Folge die Bildung zutreffender und akkurater psychischer Erklärungsmodelle für Verhaltensweisen erlaubt [12, 13]. Abzugrenzen ist die Mentalisierungsfähigkeit vom Interesse einer Person, mentale Zustände als Auslöser von eigenen und fremden Verhaltensweisen zuzuschreiben – das Mentalisierungsinteresse ist demnach zwar mit der Mentalisierungsfähigkeit assoziiert, beschreibt allerdings die grundlegende Bereitschaft zur mentalisierenden Zuschreibung, nicht jedoch die Fähigkeit als solche [13, 29]. Die Fähigkeit zur Zuschreibung mentaler Zustände stellt eine Entwicklungserrungenschaft dar, die in Bindungsbeziehungen in den ersten Lebensjahren erworben wird und die in Abhängigkeit von der Qualität dieser frühkindlichen Erfahrungen unterschiedlich ausgeprägt ist [13]. Insbesondere in jüngerer Vergangenheit wurde das zunächst stark dyadisch geprägte Entwicklungsmodell um die Bedeutung des erweiterten sozialen Umfeldes ergänzt, dem ebenfalls eine gewichtige Komponente in der Entwicklung der kindlichen Mentalisierungsfähigkeit zugeschrieben wird [14].

Untersuchungen an klinischen Stichproben zeigen, dass sowohl Einschränkungen der Mentalisierungsfähigkeit als auch ein überhöhtes Interesse an mentalen Zuständen zentrale Merkmale psychischer Erkrankungen wie der Antisozialen Persönlichkeitsstörung [28], der Borderline-Persönlichkeitsstörung [27] oder depressiven Störungen [10] darzustellen scheinen. Sogenanntes Hypermentalisieren – eine exzessive Form mentalisierender Zuschreibungen, gekennzeichnet durch stark verzerrte, mitunter feindselige Zuschreibungen und ein unverhältnismäßig starkes Interesse an mentalen Zuständen, das diese aber kaum produktiv nutzt [13], konnte als Charakteristikum bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen beschrieben werden [29]: Betroffene reagieren bereits auf kleine externe Stimuli wie Mimik oder Gestik mit verstärkter Sensibilität, was wiederum in stark verzerrten und unverhältnismäßigen Zuschreibungen (z. B. Feindseligkeit) mündet und in der Folge die Entstehung von zwischenmenschlichen Problemen und psychopathologischen Symptomen begünstigt [18]. In randomisiert-kontrollierten Längsschnittstudien zeigt sich, dass die Förderung beeinträchtigter Mentalisierungsfähigkeiten grundsätzlich möglich ist [8, 9, 20] und mit einer Abnahme der erfassten Symptombelastung korrespondiert [5]. Dabei erwies sich die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT; [3]) in randomisiert-kontrollierten Längsschnittstudien bei der Behandlung von Patienten mit Borderline Persönlichkeitsstörungen als grundsätzlich wirksam [17, 31]. Weitere Daten deuten an, dass anhand der Ausprägung der Mentalisierungsfähigkeit des Patienten bzw. der Patientin die Qualität des therapeutischen Arbeitsbündnisses vorhergesagt werden kann [7]. Überdies scheint der Mentalisierungsfähigkeit eine moderierende Funktion im psychotherapeutischen Kontext zuzukommen: Patienten und Patientinnen mit mittlerer Mentalisierungsfähigkeit konnten eher von psychotherapeutischen Interventionen profitieren als Patienten oder Patientinnen mit schwacher Mentalisierungsfähigkeit [15]. Eine Untersuchung von Müller et al. [25] schließlich zeigt, dass die zu Beginn einer Psychotherapie erfasste Mentalisierungsfähigkeit eine Verbesserung des Gesundheitszustands vorhersagen konnte. Folglich stellt das Mentalisierungskonzept einen profunden Erklärungsansatz in der Entstehung, Manifestierung und Behandlung von psychischen Erkrankungen dar. Hierbei wird die Mentalisierungsfähigkeit als allgemeiner Wirkfaktor psychotherapeutischer Interventionen konzeptualisiert, der unabhängig von spezifischen Behandlungstechniken einen grundlegenden Veränderungs- und Entwicklungsmechanismus darstellen könnte [12, 14].

Die Entwicklung einer effektiven Mentalisierungsfähigkeit wird als Prozess beschrieben, der weitestgehend unabhängig von allgemeiner Intelligenz ist [13]. Ebenso wird die Entwicklung der Fähigkeit als weitestgehend geschlechterunabhängig konzeptualisiert, obwohl Untersuchungen auf temporär divergente Entwicklungsverläufe in der Adoleszenz zwischen den Geschlechtern und eine Angleichung im Erwachsenenalter hinweisen [19]. Eine der Hauptdeterminanten der gelingenden Entwicklung ist gemäß des Entwicklungsmodells stattdessen die sensitive Reaktivität der Bezugsperson, mit der diese auf Äußerungen des Kindes reagiert [13, 22] sowie das erweiterte soziale Umfeld, innerhalb dessen ein Kind aufwächst [14, 21]. Hier gelingt es dem Kind auf Basis der intersubjektiven Kommunikationsprozesse, Aufschluss über eigene mentale Zustände zu erhalten, sowie spielerisch das mentale Erleben des Gegenübers zu erkunden. Insbesondere Misshandlungserfahrungen in der Kindheit hingegen beeinträchtigen die Entwicklung einer robusten Mentalisierungsfähigkeit [2,3,4] und deuten zusammenfassend an, dass die Art und Weise der intersubjektiven Interaktionserfahrungen mit anderen Personen entscheidend die Entwicklung der kindlichen Mentalisierungsfähigkeit prägt. Folglich sollte es allen Individuen möglich sein, auf hohem Niveau zu mentalisieren, sofern die Entwicklungsvoraussetzungen erfüllt sind. Individuelle Persönlichkeitszüge hingegen dürften keinen nennenswerten Einfluss auf die Ausprägung der Mentalisierungsfähigkeit verüben.

Persönlichkeit und Persönlichkeitsdimensionen

Als Persönlichkeit wird das für ein Individuum charakteristische Muster von Denken, Fühlen und Handeln bezeichnet [26]. Deren Beschreibung durch sog. Persönlichkeitsdimensionen („traits“) hat in der Persönlichkeitspsychologie eine lange Tradition [1]. Persönlichkeitsdimensionen sind definiert als zu einem Menschen gehörende Verhaltens- und Veranlagungsmuster, die sich in der Art des Fühlens und Handelns manifestieren [26]. Ein zunächst von Eyseneck und Eyseneck [8] vorgeschlagenes zweidimensionales Modell („instabil – stabil“ und „introvertiert – extrovertiert“) wird in aktuellen Modellen auf insgesamt fünf Dimensionen erweitert [24]. Die unter dem Namen „Big Five“ bekannten Persönlichkeitsdimensionen (1.) Gewissenhaftigkeit, (2.) Verträglichkeit, (3.) Neurotizismus, (4.) Offenheit und (5.) Extraversion gelten heute als eine der besten Annäherung zur grundlegenden Beschreibung von menschlicher Persönlichkeit [16, 23]: (1.) Gewissenhaftigkeit umfasst dabei das Kontinuum zwischen Nachlässigkeit und Disziplin, (2.) Verträglichkeit bildet sich zwischen den Polen Rücksichtslosigkeit und Hilfsbereitschaft ab. (3.) Neurotizismus beschreibt die emotionale Stabilität bzw. Instabilität des Individuums, die Persönlichkeitsdimension (4.) Offenheit gestattet die Einordnung des Individuums im Hinblick auf die Bereitschaft für neue Erfahrungen. (5.) Extraversion als fünfte Persönlichkeitsdimension konstituiert sich über die Polaritäten Zurückhaltung und Geselligkeit.

Alle Persönlichkeitsdimensionen gelten bei Erwachsenen als robust [30, 35] und unterliegen zu erheblichen Anteilen genetischen Faktoren [36]. Sie repräsentieren analog zu Intelligenz und Geschlecht stabile individuelle Merkmale, die in ihrer Anordnung zur Beschreibung von menschlicher Individualität dienlich sind.

Die vorliegende Studie

Inwieweit die Mentalisierungsfähigkeit und das Interesse an mentalen Zuständen mit einzelnen Persönlichkeitsdimensionen assoziiert sind, wurde bis heute nur unzureichend untersucht. Einigkeit besteht zunächst darin, dass robuste, auffallend maladaptive Formen von Persönlichkeit – zum Ausdruck gebracht über verschiedene Formen der Persönlichkeitsstörung – mit erheblichen Einschränkungen der Mentalisierungsfähigkeit und einem stark überhöhten Interesse an mentalen Zuständen assoziiert sind [27, 28]. Darauf aufbauend deuten Analysen von Taubner et al. [34] an, dass auch in einem klinisch unauffälligen Sample zumindest geringfügig positive Zusammenhänge zwischen den Persönlichkeitsdimensionen Offenheit, Verträglichkeit und dem erfassten Mentalisierungsinteresse bestehen. Einschränkend ist jedoch anzumerken, dass im Rahmen der Studie nicht die Mentalisierungsfähigkeit als solche erfasst wurde, sodass die Ergebnisse lediglich als Hinweise zu interpretieren sind.

Hypothese 1.

Angesichts des beziehungsbasierten Entwicklungsmodells der Mentalisierungsfähigkeit wird erwartet, dass keine Zusammenhänge zwischen den als robust geltenden Persönlichkeitsdimensionen und der Mentalisierungsfähigkeit bestehen.

Hypothese 2.

Das Mentalisierungsinteresse hingegen dürfte mit einzelnen Persönlichkeitsdimensionen assoziiert sein, da eine Haltung samt den zugehörigen Überzeugungen, nicht aber die Fähigkeit als solche fokussiert wird.

Hypothese 3.

Aufbauend auf den bivariaten Zusammenhängen wird erwartet, dass einzelne Persönlichkeitsmerkmale zwar die Ausprägung des Mentalisierungsinteresses vorhersagen, nicht aber die Mentalisierungsfähigkeit.

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Studiendesign und Stichprobe

Die Studie wurde an einer Hochschule in Baden-Württemberg durchgeführt und erfolgte in Gruppen, die aus 10–30 Studierenden bestanden. Die Teilnahme an der Untersuchung war freiwillig. Die Erhebungen nahmen 90 min in Anspruch. Die Probanden wurden im Anschluss an die Datenerhebung über die Studie aufgeklärt. Die nichtklinische Stichprobe bestand aus 336 Studierenden (81 % weiblich) in den Studiengängen „Lehramt Sonderpädagogik“ (63,1 %), „Lehramt Grundschule“ (28,6 %) und „Lehramt Sekundarstufe“ (7,4 %). Die Stichprobe war im Mittel 24,16 (SD = 5,43) Jahre alt, wobei Studierende aus dem Studiengang „Lehramt Sonderpädagogik“ mit durchschnittlich 25,08 (SD = 5,84) Jahren signifikant älter waren als Studierende im Studiengang „Lehramt Grundschule“ (M = 22; SD = 3,48; p ≤ 0,01). Zwischen Studierenden aus dem Studiengang „Lehramt Sonderpädagogik“ und „Lehramt Sekundarstufe“ (M = 23,76; SD = 3,84) bestand kein Altersunterschied, ebenso wie zwischen Studierenden aus den Studiengängen „Lehramt Grundschule“ und „Lehramt Sekundarstufe“.

Genutzte Testverfahren

Mentalisieren.

Die Mentalisierungsfähigkeit wurde mithilfe des Movie for the Assessment of Social Cognition (MASC; [6]) erfasst. MASC gilt als reliable und valide Leistungstestung, die die Genauigkeit im mentalisierenden Zuschreibungsprozess misst [6, 29]. Die Probanden sind aufgefordert, auf Grundlage von Filmsequenzen den Protagonisten in einem sozialen Alltagskontext mentale Zustände wie Gefühle, Gedanken und Überzeugungen zuzuschreiben. 45 Unterbrechungen des Films fordern die Testteilnehmer zur Zuschreibung mentaler Zustände auf. Die Probanden wählen dann eine der vier im Multiple-choice-Format vorgeschlagenen Antworten, von deren Angemessenheit sie am ehesten überzeugt sind. Je eine der vier Antwortkategorien wird als „korrekt“ gewertet und fließt in den Summenscore ein. Hohe Werte verweisen auf eine gut entwickelte Mentalisierungsfähigkeit. Die interne Konsistenz der Skala betrug α = 0,62. Die Messwerte waren nicht normalverteilt (Kolmogorov-Smirnov-Test: p = 0,019). Die Subskalen wurden aufgrund geringer interner Konsistenz nicht berücksichtigt.

Mentalisierungsinteresse.

Zur Operationalisierung des Mentalisierungsinteresses wurde die Attributional Complexity Scale (ACS; [11]) genutzt. Auf Grundlage von 28 Aussagen erhebt der ACS (beispielhafte Itemformulierung: „Ich verwende lieber komplexe als einfache Erklärungen für das Verhalten anderer Leute“) über siebenstufige Likert-Skalen (1 = stimmt überhaupt nicht bis 7 = stimmt genau) das Mentalisierungsinteresse der Probanden. Hohe Werte repräsentieren ein ausgeprägtes Mentalisierungsinteresse. Die interne Konsistenz der Skala war sehr gut (α = 0,93). Die Messwerte waren normal verteilt (Kolmogorov-Smirnov-Test: p = 0,30).

Persönlichkeitsdimensionen.

Zur Erfassung einzelner Persönlichkeitsdimensionen wurde der Big-Five-Persönlichkeitstest (B5T) genutzt [32]. Der B5T erfasst auf Grundlage von Selbsteinschätzungen die Ausprägungen der fünf oben aufgeführten Persönlichkeitsdimensionen. Die Probanden sind aufgefordert, 72 Aussagen auf einer vierstufigen Likert-Skala (1 = trifft gar nicht zu bis 4 = trifft genau zu) zuzustimmen. Beispielhafte Itemformulierungen lauten: (1.) Neurotizismus: „Ich verspüre oft eine große innere Unruhe“; (2.) Extraversion: „Ich bin ein gesprächiger und kommunikativer Mensch“; (3.) Gewissenhaftigkeit: „Meine Aufgaben erledige ich immer sehr genau“; (4.) Offenheit: „Ich lerne immer wieder gerne neue Dinge“; (5.) Verträglichkeit: „Es fällt mir sehr leicht, meine Bedürfnisse für andere zurückzustellen“. Der B5T ist ein reliables und valides Testverfahren, das sich aufgrund der ökonomischen Einsetzbarkeit gut zur Erfassung von Persönlichkeitsdimensionen in großen Stichproben eignet. Hohe Werte repräsentieren eine hohe Ausprägung der einzelnen Dimensionen. Die interne Konsistenz der fünf Persönlichkeitszüge war gut bis zufriedenstellend (α = 0,86 bis α = 0,76). Lediglich die interne Konsistenz der Skala Verträglichkeit fiel mit α = 0,68 geringer aus. Die Skalen Neurotizismus, Gewissenhaftigkeit und Offenheit waren normalverteilt (Kolmogorov-Smirnov-Test: p > 0,05). Die Skalen Extraversion und Verträglichkeit wichen von der Normalverteilung ab (Kolmogorov-Smirnov-Test: p < 0,05).

Statistisches Vorgehen

Die Anzahl fehlender Werte war trivial (< 1 %). Ausfallende Werte waren zufällig verteilt (Little-Test) und wurden mithilfe des Expectation-maximication-Algorithmus rekonstruiert [33]. Der Datensatz enthielt keine multivariaten Ausreißer (Mahalanobis-Distanz). Zur Überprüfung von Zusammenhängen zwischen Mentalisierungsfähigkeit, Mentalisierungsinteresse und einzelnen Persönlichkeitsdimensionen wurden Korrelationsanalysen (Pearson) durchgeführt. Zwei multiple lineare Regressionsanalysen mit den Prädiktoren Alter, Geschlecht, Neurotizismus, Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Offenheit und Verträglichkeit sagten das Mentalisierungsinteresse (Modell 1) bzw. die Mentalisierungsfähigkeit (Modell 2) vorher. Zur Überprüfung der statistischen Voraussetzungen beider Regressionsmodelle wurden vorab grafische Residualanalysen durchgeführt. Multikollinearität wurde auf Grundlage von Varianzinflationsfaktoren (VIF < 10) beurteilt. Die Unabhängigkeit der Residuen wurde mittels der Durbin-Watson-Statistik geprüft [33].

Ergebnisse

Die deskriptiven Statistiken aller genutzten Skalen sowie die korrelativen Zusammenhänge sind in Tab. 1 dargestellt. Es zeigt sich ein signifikant positiver Zusammenhang zwischen Messwerten des ACS und MASC (r = 0,12; p ≤ 0,05). Zwischen dem Alter der Probanden und den erfassten MASC- bzw. ACS-Messwerten liegen übereinstimmend mit dem dargestellten Forschungsstand keine statistischen Zusammenhänge (r = −0,06; p > 0,05 bzw. r > 0,06; p = 0,05) vor. Zwischen den Geschlechtern und der erfassten Mentalisierungsfähigkeit (MASC) besteht ein signifikanter Unterscheid mit geringer Effektstärke zugunsten der weiblichen Studienteilnehmer (d = 0,40; p ≤ 0,001). Für das erfasste Mentalisierungsinteresse zeigen sich keine geschlechterspezifischen Effekte. Die Korrelationskoeffizienten deuten an, dass das zunehmende Interesse der Probanden, Verhaltensweisen auf Grundlage mentaler Zustände zu bedenken, deutlich mit der berichteten Offenheit der Probanden für neue Erfahrungen korreliert (r = 0,48; p ≤ 0,001). Ebenfalls liegen statistisch signifikante, allerdings weniger ausgeprägte Assoziationen zwischen dem Mentalisierungsinteresse und den Persönlichkeitsdimensionen Verträglichkeit (r = 0,16; p ≤ 0,01), Extraversion (r = 0,14; p ≤ 0,05) und Neurotizismus (r = 0,13; p ≤ 0,05) vor. Die mittels MASC erfasste Mentalisierungsfähigkeit ist bei 336 untersuchten Probanden nicht mit einzelnen Persönlichkeitsdimensionen korreliert.

Tab. 1 Deskriptive Statistiken und Interkorrelationen

Beide Regressionsmodelle entsprachen den teststatistischen Voraussetzungen (normalverteilte und unabhängige Residuen; Homoskedastizität). Multikollinearität lag nicht vor (Varianzinflationsfaktoren < 2). Das Modell zur Vorhersage des Mentalisierungsinteresses ist mit einer Varianzaufklärung von etwa 29 % (korrigiertes r2 = 0,286; F = 20,04; p ≤ 0,001) leistungsfähig (großer Effekt). Es zeigt sich, dass das Alter der Probanden einen positiven Beitrag in der Vorhersage des Mentalisierungsinteresses leistet (β = 0,12; p ≤ 0,05). Gleiches gilt für die Persönlichkeitsdimensionen Verträglichkeit (β = 0,16; p ≤ 0,01) und Neurotizismus (β = 0,23; p ≤ 0,001). Der mächtigste Prädiktor im Regressionsmodell zur Vorhersage des Mentalisierungsinteresses ist die Persönlichkeitsdimension Offenheit (β = 0,49; p ≤ 0,001). Das Geschlecht sowie die Persönlichkeitsdimensionen Extraversion und Gewissenhaftigkeit sind ohne statistische Relevanz. Davon abgrenzend ist das Regressionsmodell zur Vorhersage der mittels MASC erfassten Mentalisierungsfähigkeit im Hinblick auf die erzielte Varianzaufklärung einem Nullmodell nicht überlegen (korrigiertes r2 = 0,01; F = 1,59; p > 0,05). Bis auf das Geschlecht (β = −0,17; p ≤ 0,01) sind keine der im Modell enthaltenen Prädiktoren signifikant (Tab. 2).

Tab. 2 Regressionsmodelle zur Vorhersage des Mentalisierungsinteresses bzw. der Mentalisierungsfähigkeit

Diskussion

Die vorliegende Studie untersucht auf Basis von Daten einer großen nicht-klinischen Stichprobe von Studierenden das Verhältnis zwischen den fünf Persönlichkeitsmerkmalen Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Neurotizismus, Offenheit und Extraversion sowie dem selbsteingeschätzten Interesse der Probanden an mentalisierenden Zuschreibungen und der im Rahmen einer computergestützten Performanztestung erhobenen Mentalisierungsfähigkeit. Hierbei korreliert die berichtete Offenheit für neue Erfahrungen deutlich mit dem Interesse der 336 Probanden, Verhaltensweisen auf Grundlage von mentalen Zuständen zu bedenken. Dieser Befund deckt sich mit Ergebnissen von Taubner et al. [34] und ist plausibel interpretierbar: Die Bereitschaft, sich mentalisierend auf andere Individuen einzulassen, erkennt die Eigenständigkeit des innerpsychischen Erlebens Dritter an und ist durch eine grundsätzliche Offenheit gekennzeichnet, sich auf jenes Erleben einzulassen [12, 13]. Weiterhin zeigen die Daten kleine Zusammenhänge zwischen dem Mentalisierungsinteresse und den Persönlichkeitsdimensionen Verträglichkeit, Extraversion und Neurotizismus. Dass die zunehmende Bereitschaft, Verhaltensweise als mental motiviert anzuerkennen, mit zunehmender Verträglichkeit einhergeht, ist plausibel und repliziert den bereits von Taubner et al. [34] publizierten Zusammenhang in ähnlicher Effektstärke. Personen, die als verträglich gelten, werden als emphatisch und mitfühlend beschrieben – dies wiederum sind charakteristische Aspekte der mentalisierenden Haltung. Als extrovertiert geltende Personen sind nach außen gewandt und erleben den Austausch in sozialen Gruppen als anregend [24]. Auch hier überrascht der Zusammenhang zum erfassten Mentalisierungsinteresse nicht, da anzunehmen ist, dass ein ausgeprägtes Interesse an mentalen Zuständen mit einer aktiveren Einbindung in soziale Interaktionen einhergeht. Überdies ist in der vorliegenden Stichprobe steigendes Mentalisierungsinteresse mit einer zunehmenden Ausprägung der Persönlichkeitsdimension Neurotizismus assoziiert. Hohe Ausprägungen dieser Persönlichkeitsdimension gehen mit emotionaler Instabilität, Reizbarkeit und erhöhter Stresssensibilität einher [24, 26]. Dass zunehmendes Mentalisierungsinteresse in der vorliegenden, nicht-klinischen Stichprobe mit einer zunehmenden Ausprägung der Persönlichkeitsdimension Neurotizismus assoziiert ist, scheint dennoch plausibel, da eine zu starke Verstrickung in psychische Attribuierungsprozesse durchaus als potenziell psychopathologische Auffälligkeit interpretierbar ist [29]. Zwischen der tatsächlichen, über eine experimentelle Leistungstestung erfasste Mentalisierungsfähigkeit und einzelnen Persönlichkeitsdimensionen besteht in der untersuchten Stichprobe hingegen kein Zusammenhang. Dies stärkt die Annahme, dass in nicht-klinischen Stichproben die Mentalisierungsfähigkeit weitestgehend unabhängig von Merkmalen wie Intelligenz, Geschlecht oder Persönlichkeitszügen ist. Die Hypothesen 1 und 2 können unter Verweis auf die ermittelten Korrelationskoeffizienten demnach bestätigt werden.

Eine Betrachtung des Regressionsmodells zur Vorhersage des Mentalisierungsinteresse bestätigt, dass die Ausprägung der Persönlichkeitsdimension Offenheit der mächtigste Prädiktor im Modell ist. Insbesondere die Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Erfahrungen lässt Aussagen über das Mentalisierungsinteresse einer Person zu. Auch die Ausprägung der Persönlichkeitsdimension Neurotizismus ist ein wirkmächtiger Prädiktor, was aufgrund der oben berichteten geringen Korrelationskoeffizienten in diesem Ausmaß nicht erwartet wurde. Tatsächlich allerdings lässt sich jener Einfluss unter Verweis auf die bisweilen erheblich verzerrten Mentalisierungsfähigkeiten bei klinischen Samples [10] und insbesondere bei Persönlichkeitsstörungen nachvollziehbar begründen [28]. Hypermentalisierende Zuschreibungen samt eines exzessiven Interesses an mentalen Zuständen sind charakteristische Merkmale der Borderline-Persönlichkeitsstörung [27]. Dabei kann ein überhöhtes Interesse an mentalen Zuständen ab einer gewissen Ausprägung zu unsachgemäßen Missinterpretationen führen, Einschränkungen der genuinen Mentalisierungsfähigkeit begünstigen und klinisch auffällig sein [29]. Offenbar schlägt sich dieser Zusammenhang bereits in der hier untersuchten klinisch unauffälligen Stichprobe nieder. Die Ausprägung der Persönlichkeitsdimension Verträglichkeit erweist sich ebenfalls als signifikante Vorhersagevariable, die allerdings weniger wirkmächtig als die Dimensionen Offenheit bzw. Neurotizismus ist. Überraschenderweise stellt auch das Alter der Probanden einen signifikanten Prädiktor mit geringem Einfluss dar. Angesichts der unausgewogenen Altersstruktur des Samples dürfte dieser Effekt allerdings nicht verallgemeinerbar sein. Abgrenzend zu diesen Befunden kann die Ausprägung der tatsächlich erfassten Mentalisierungsfähigkeit in der vorliegenden Studie nicht über die Ausprägungen einzelner Persönlichkeitsdimensionen erklärt werden. Keine der fünf Dimensionen leistet nennenswerte Beiträge in der Vorhersage der genuinen Mentalisierungsfähigkeit von 336 nichtklinischen Probanden. Dies stärkt die Annahme, dass die Mentalisierungsfähigkeit als wichtiges gesundheitsrelevantes Konstrukt weitestgehend unabhängig von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen ist und stattdessen maßgeblich im Zuge sensitiver Beziehungserfahrungen erworben wird. Hypothese 3 kann auf Basis der ermittelten Befunde bestätigt werden.

Limitationen

Zwingend sind im Zuge der Interpretation der Ergebnisse einige Limitationen zu berücksichtigen. Die Befunde basieren auf einer Querschnittsstudie und lassen keine kausalen Schlüsse zu. Eine Replikation der Befunde in einem längsschnittlichen Design ist erforderlich. Weiterhin handelt es sich um ein homogenes Sample von Studierenden, das im Mittel eine hohe Mentalisierungsfähigkeit aufweist. Inwieweit die Befunde auf eine heterogenere Stichprobe übertragbar sind, wäre in Folgeuntersuchungen zu prüfen. Ebenso offenbart MASC teststatistische Mängel (α = 0,62). Angesichts der vielfältigen Zuschreibungen, die MASC im Rahmen der Leistungstestung abbildet, überrascht dieser Befund zwar nicht. Dennoch wäre im Zuge einer Replikationsstudie über alternative Operationalisierungen nachzudenken. Zudem stellt sich die Frage, inwieweit Persönlichkeitszüge valide über psychometrische Testverfahren abbildbar sind und ob diese eine vergleichbare Robustheit wie die Merkmale Alter oder Intelligenz aufweisen. Alternative Formen der Operationalisierung sowie die bereits angeführte Replikation der Befunde im Längsschnitt könnten weitere Klarheit schaffen – auch um das Vorliegen systematischer Fehlervarianzen aufgrund der Verwendung derselben Methode auszuschließen (Einheitsmethodenvarianz).

Fazit für die Praxis

  • Unter Verweis auf die therapieschulenunabhängige Ausrichtung des Mentalisierungskonzepts und der damit einhergehenden Anschlussfähigkeit für präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen erweist sich dieses als bedeutsamer Zugang, der unabhängig von einzelnen Persönlichkeitsdimensionen zu sein scheint. Folgerichtig ist es grundsätzlich möglich, Mentalisierungsfähigkeiten im Rahmen präventiver psychosozialer Angebote sowie im psychotherapeutischen Prozess zu stärken. Individuelle Persönlichkeitszüge von Klienten oder Klientinnen scheinen dabei keinen Einfluss auf deren Mentalisierungsfähigkeit zu verüben, denen stattdessen abgestimmte Beziehungserfahrungen in Aussicht gestellt werden sollten, um Mentalisierungsfähigkeiten stärken zu können. Überdies scheint es erforderlich, in präventiven Angeboten sowie im psychotherapeutischen Prozess die Unterscheidung zwischen der genuinen Mentalisierungsfähigkeit und dem Interesse an mentalisierenden Zuschreibungsprozessen sorgsam zu berücksichtigen, da ein überhöhtes und gleichermaßen unproduktives Interesse an mentalen Zuständen unter Verweis auf die hier berichteten Befunde mit emotionaler Instabilität assoziiert ist, demnach eine frühe Begleiterscheinung beeinträchtigter Mentalisierungsfähigkeiten darstellen könnte sowie einen potenziellen psychopathologischen Marker repräsentiert.