Hintergrund

Übergewicht und Adipositas sind Lebensstilerkrankungen der heutigen Zeit und auch im Kindesalter bereits verbreitet. Aktuelle Studien zur Erhebung der Prävalenz unter österreichischen Kindern und Jugendlichen machen die Situation besonders deutlich: Laut den Ergebnissen der COSI-Studie sind in etwa 30 % der 8‑ bis 9‑jährigen Knaben und je nach Region zwischen 20,6 und 29,1 % (jeweils nach den Referenzwerten der WHO) der Mädchen im selben Alter als übergewichtig, adipös oder morbid adipös einzustufen [4]. Mayer et al. (2014) berichten für die Altersgruppe der 4‑ bis 6‑Jährigen ähnlich hohe Zahlen: 20,3 % der Buben und 18,4 % der Mädchen sind von Übergewicht oder Adipositas betroffen [14]. Damit liegt Österreich im internationalen Vergleich über dem EU-Schnitt [18]. Um diesem Trend entgegenzuwirken, sind möglichst frühzeitig beginnende Interventionen, die sowohl auf Verhaltens- als auch auf Verhältnisebene ansetzen, von besonderer Bedeutung. In Publikationen aus der medizinischen Fachrichtung [9, 10, 13] wird in diesem Zusammenhang der Gemeinschaftsverpflegung in Kindergärten als verhältnispräventive Maßnahme ein großes Potenzial für die Bekämpfung von ernährungsassoziierten Erkrankungen beigemessen. Auch aus Sicht der Ernährungsbildung werden die Bildungspotentiale, die die Vorgänge des Essens und Trinkens in sich tragen, umfassend beschrieben [2]. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage nach der sozialen Dimension des Essens im Rahmen der Gemeinschaftsverpflegung in Kindergärten. Dabei soll die Kombination einer verhaltensorientierten und verhältnisorientierten Perspektive im Sinne der Entwicklung eines gesunden Ernährungsverhaltens aus Sicht der Gesundheitsförderung im Fokus stehen. Unter Gemeinschaftsverpflegung werden in diesem Zusammenhang sowohl die Verpflegung an sich als auch das gemeinsame Essen im Kindergarten subsummiert. Die Verpflegung in österreichischen Kindergärten ist heterogen organisiert: Der Großteil wird von externen Verpflegungsbetrieben beliefert, einige wenige verfügen über eine eigene Küche in der Einrichtung.

In den vergangenen Jahren wurden einige Studien publiziert, deren Ergebnisse auf positive Auswirkungen der Verpflegung in Bildungseinrichtungen im Zusammenhang mit dem kindlichen Ernährungsverhalten hindeuten [11, 17, 19, 22]. Voraussetzung ist allerdings eine Mittagsverpflegung, die gesundheitsförderlich und gemäß den entsprechend geltenden nationalen Ernährungsempfehlungen bzw. Richtlinien für die Gemeinschaftsverpflegung in Kindergärten gestaltet ist [19, 27,28,29]. Auch eine Kombination mit bewusstseinsbildenden Maßnahmen (Workshops, Vorträge, Informationsmaterial etc.) zur Steigerung der Ernährungskompetenz bei Kindern und pädagogischen Fachkräften erscheint sinnvoll, um die Akzeptanz zu gewährleisten [17, 19, 28].

Funktionen des gemeinsamen Essens

Das Essen an sich beeinflusst den Alltag eines Menschen von Geburt an. In diesem Beitrag wird Essen nicht nur als reine Nahrungsaufnahme zur Befriedung eines Grundbedürfnisses definiert, sondern vielmehr steht die soziale Dimension der Gemeinschaft im Fokus der Betrachtung. Besonders der Erziehungsalltag Heranwachsender ist geprägt von der Nahrungsaufnahme als Gegenstand von Sorgebeziehungen [25, 26]. Nicht nur ernährungsbezogene Verhaltensweisen werden durch den Vorgang des Essens angeeignet, auch das Sozialverhalten wird dadurch entscheidend mitentwickelt. In einigen Studien [8, 20] wurde beispielsweise untersucht, wie Machtverhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen anhand von Ernährungspraktiken ausverhandelt oder ausgespielt werden. Dabei wurde festgestellt, dass das Essen als Schlüsselinstrument bei der Entwicklung der kindlichen Identität fungiert [21]. Dem Essen in der Gemeinschaft im Rahmen einer Kinderbetreuungseinrichtung kommt dabei besondere Bedeutung zu: In der Situation der Verpflegung liegt enormes Bildungspotential, da währenddessen viele Lernprozesse stattfinden. Gemeinschaftliche Erfahrungs- und Entscheidungsspielräume werden erarbeitet und durch banale Methoden ermöglicht [25]. Sowohl Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung – Aufklärung über das Essen durch Erzieherinnen oder Verwendung eines Lebensmittels zur Sprachförderung – als auch Peer-learning-Situationen sind am Mittagstisch zu finden [24]. Auch eine Vielzahl an sozialen Prozessen ist während dem gemeinsamen Mittagessen zu beobachten: Durch verschiedenste Beziehungsvorgänge werden Kontakte geknüpft, Verhältnisse zueinander getestet, soziale Zugehörigkeiten abgeklärt und somit eine Ordnung im sozialen Raum der Gemeinschaftsverpflegung hergestellt [23]. Aufgrund dieser vielfältigen Vorgänge während der als banal erscheinenden Verpflegung von Kindern in Kindergärten kann durchaus von einer Multifunktionalität des Essens bzw. der Gemeinschaftsverpflegung gesprochen werden [15, 24].

Ist Gemeinschaftsverpflegung mehr als ein Instrument zur Bekämpfung von Übergewicht?

Daher leitet sich die Frage ab, ob es zielführend ist, die Kindergarten- und Schulverpflegung als Mittel im Kampf gegen Übergewicht zu positionieren und den Präventionsgedanken so in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr erscheint ein salutogenetischer Ansatz sinnvoll, der auf die Frage „Was hält uns gesund?“ und nicht auf die Frage „Was macht uns krank?“ fokussiert ist und damit das gesamte Potenzial und insbesondere die soziale Dimension der Gemeinschaftsverpflegung als wesentliche Rahmenbedingung einer für Kinder bedeutsamen Lebenswelt unterstreicht. Im Sinne des Grundgedankens der Gesundheitsförderung geht es nämlich dabei nicht um die Vermeidung von Krankheiten wie im pathogenetischen Ansatz der Prävention, sondern um die Förderung der Gesundheit durch die Schaffung gesundheitsförderlicher Verhältnisse und die Förderung eines gesunden (Ess‑)Verhaltens im Setting Kindergarten [1]. Vor dem Hintergrund aktueller Erkenntnisse in der Literatur im Hinblick auf die Potenziale des Essens widmet sich der vorliegende Beitrag der Frage, welche Bedeutung die Gemeinschaftsverpflegung als verhältnisorientierte Maßnahme aus Perspektive der Gesundheitsförderung für die Entwicklung eines gesunden (Ernährungs‑)Verhaltens von Kindern hat. Unter Einbeziehung der Ergebnisse einer qualitativen Erhebung soll eine ganzheitliche Sicht auf die Gemeinschaftsverpflegung und ihre mehrdimensionalen Effekte auf die Kindergesundheit geschaffen werden.

Methodik

Zur Anwendung kommt ein qualitativer Forschungsansatz. Im Vergleich zu quantitativen Designs besteht bei qualitativen kein Anspruch auf Repräsentativität im Sinne von statistischer Generalisierbarkeit. Vielmehr steht die Erlangung eines tieferen Einblicks in eine bestimmte Materie sowie eines umfassenden Verständnisses für den Forschungsgegenstand im Vordergrund [6]. Für die vorliegende Erhebung wurden im Frühjahr 2021 leitfadengestützte Expertinneninterviews geführt. Diese eignen sich insbesondere für die Generierung von Wissen in bisher wenig erforschten Bereichen und bieten die Möglichkeit, spezifische Perspektiven und Erfahrungen leichter einzufangen [8]. Die Befragung der Expertinnen erfolgte anhand eines eigens für das vorliegende Forschungsthema entwickelten Interviewleitfadens. Durch die Antworten in selbstgewählter Terminologie erhält das Expertinneninterview seinen qualitativ offen gehaltenen Charakter [16]. Um die vorhandene Evidenz mit möglichst umfangreichem Erfahrungswissen ergänzen zu können, konnten als Expertinnen zehn Elementarpädagoginnen aus dem österreichischen Bundesland Burgenland gewonnen werden, die über eine zumindest 10-jährige Berufserfahrung verfügen und mit der Gemeinschaftsverpflegung im Kindergarten täglich in Berührung kommen. Jede der zehn Elementarpädagoginnen führt eine eigene Kindergartengruppe bzw. hat im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn bereits eine geführt. Sieben davon sind derzeit mit der Leitung eines Kindergartens betraut.

Die Interviews wurden entweder im Arbeitsumfeld der jeweiligen Expertin, telefonisch oder online durchgeführt und dauerten zwischen 30 und 60 min. Als Erhebungsinstrument diente ein Interviewleitfaden, der auf Basis einer umfassenden Literaturrecherche entwickelt wurde und als Gesprächsrahmen ein zielsetzungskonformes Vorgehen gewährleistete. Die Anwendbarkeit des Leitfadens wurde vorab im Zuge eines Pretests überprüft. Alle Gespräche wurden per Audioaufnahme aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert, für die Datenauswertung kam die Inhaltsanalyse nach Lamnek und Krell (2016) zur Anwendung [12]. Die Grundlage für die Analyse der Interviews bildet das Kategorienschema, das in Abb. 1 ersichtlich ist.

Abb. 1
figure 1

Kategorienschema. (Quelle: eigene Erstellung)

Ergebnisse

Die Ergebnisse des empirisch erhobenen Datenmaterials werden in der Folge nach Kategorien dargestellt. Der Fokus dieser Analyse liegt neben der sozialen Dimension der Gemeinschaftsverpflegung auch auf deren Entwicklung sowie deren Einfluss auf das kindliche Ernährungsverhalten.

Entwicklung der Gemeinschaftsverpflegung im Setting Kindergarten

Die Analyse der Assoziationen mit dem Begriff Gemeinschaftsverpflegung zeigt zunächst deutlich, dass die Mehrheit der Befragten diesen mit dem gemeinsamen Essen verbindet und diese Gemeinschaft entscheidend für die Kinder ist.

„(…) weil die Gemeinschaft selber ist ja bei den Kindern im Kindergarten vordergründig und auch sehr wichtig und das prägt ja die Kinder. Deswegen sehe ich, dass das ganz wichtig ist, dass die Verpflegung und die Versorgung in der Gemeinschaft ist und das ist eigentlich, was ich unter Gemeinschaftsverpflegung verstehe.“ (Exp. H)

In den vergangenen Jahren wurde eine verstärkte Inanspruchnahme beobachtet, zumal die Kinder längere Zeit in der Betreuungseinrichtung aufhältig sind als noch vor einigen Jahren. Weitere festgestellte Veränderungen beziehen sich auf die Gestaltung des Mittagessens selbst, die als gesünder und ausgewogener empfunden wird. Zurückzuführen ist das auf externe Unterstützung, welche Verpflegungsanbieter zur Optimierung der Speisepläne erhalten, aber auch auf Auflagen und Vorgaben.

Ernährungsverhalten von Kindern und die Bedeutung im Setting Kindergarten

Diese Kategorie fokussiert auf den Status quo des kindlichen Ernährungsverhaltens und wie sich unterschiedliche Verhaltensweisen im Kindergartenalltag manifestieren. Die Expertinnen schätzen die Bedeutung des Kindergartens für das kindliche Ernährungsverhalten als sehr groß ein, u. a. aufgrund des Zeitraums, den die Kinder in der Institution verbringen. Insbesondere die Vorbildfunktion der Pädagoginnen sowie die Möglichkeiten der Einflussnahme, die im Zuge der Betreuung entstehen, spielen eine besondere Rolle, da viele Kinder beispielsweise keine „gesunden Lebensmittel“ kennenlernen würden, wenn sie im Kindergarten nicht angeboten werden würden. Die Gemeinschaft tut ihr übriges, da sich Kinder beim gemeinsamen Essen untereinander gegenseitig beeinflussen und sich dadurch zum Probieren neuer oder unbekannter Lebensmittel animieren. Dadurch nehmen Kinder ein Essverhalten an, das im Familienverband vermutlich nicht sichtbar geworden wäre.

„Das sieht man auch beim Mittagessen: Da gibt’s einen Vorkoster, der sagt ‚Die Suppe ist gut‘, sagen die anderen ‚ah, dann will ich auch kosten‘“. (Exp D)

Angesprochen auf mögliche Veränderungen in den vergangenen Jahren wird von einer „negativen Entwicklung“ in Zusammenhang mit den Fähigkeiten der Kinder bei Kindergarteneintritt und der Tischkultur berichtet. Vermehrt treten 3‑Jährige in den Kindergarten ein, die weder einen Löffel noch eine Trinkflasche halten können oder mit den Fingern essen. Daher wird ein Schwerpunkt darauf gelegt, dies in der Gemeinschaft zu erlernen.

Das Thema Ernährung fließt bei der Mehrheit der befragten Expertinnen automatisch in den Kindergartenalltag mit ein, auch die institutionalisierte „gesunde Jause“ zumindest einmal pro Woche ist ein wesentlicher Bestandteil des Ablaufs. Zu den Essenszeiten werden die Speisen ausgiebig besprochen und analysiert, Hochbeete werden bewirtschaftet, Sinneserfahrungen werden durch gemeinsame Experimente ermöglicht und auch Ausflüge zu diversen Lebensmittelproduzenten tragen zur Erweiterung der Ernährungskompetenz bei.

Gemeinschaftsverpflegung stärkt den Gemeinsinn

Bei der Analyse dieser Kategorie wird deutlich, welch Potenzial das gemeinsame Essen im Kindergarten bietet. Die Essenszeiten sind geprägt von einheitlichen Abläufen und Regeln, die den Kindern bekannt sind. Diese helfen bei den Vorbereitungen mit und dürfen z. T. selbst aktiv werden, besonders bei der Speisenverabreichung wird von der Mehrheit der Expertinnen Wert auf Selbstständigkeit gelegt. Geteilte Meinungen sind vorherrschend, wenn es um das Thema Probieren von Speisen geht. Vereinzelt wird bewusst darauf verzichtet, die Kinder zum Kosten zu animieren. Dem Großteil ist es allerdings wichtig, dass zumindest probiert wird, da die Erfahrung zeigt, dass es vielen Kindern trotz anfänglicher Ablehnung doch schmeckt. Diese Situationen sind durch bewusste Eingriffe durch das pädagogische Personal gekennzeichnet, die durchaus unterschiedlich gestaltet sein können. Einige Pädagoginnen legen großen Wert darauf, dass zumindest einmal gekostet wird, sei es durch animierende Ansprache oder durch eine den Kindern bekannte „Kostregel“, andere überlegen sich ansprechende Namen für bestimmte Speisen (z. B. Kraftnockerl statt Spinatnockerl), um die Kinder dadurch zum Essen zu motivieren. Die Peergroup trägt ebenfalls wesentlich dazu bei, dass auch skeptische Esserinnen und Esser probieren, auch wenn sie dies zunächst ablehnen. Diese Prozesse werden auch durch die Pädagoginnen bewusst unterstützt.

„(…) auf einmal tust du es ihnen hin zum Kosten und dann isst einer davon nur wieder Salat, sag ich ‚Bravo, der isst den ganzen Salat, der isst den meisten.‘ Und auf einmal schreien sie schon ‚Ich will auch einen, ich will auch.‘ Das ist so diese Dynamik der Gruppe. Es funktioniert wirklich. Also wir arbeiten viel mit Schmäh und Überzeugung.“ (Exp. B)

Bei der Frage nach den Lernpotentialen beim gemeinsamen Essen zeigt sich, dass sich dadurch eine Vielfalt an Lernmöglichkeiten für die Kinder ergibt, die vielleicht zuvor gar nicht im Bewusstsein der Befragten war. Neben der Erlernung körperlicher Fertigkeiten wie z. B. dem Kauen, der Augen-Hand-Mund-Koordination, der Sprache, der richtigen Verwendung des Bestecks, dem Sitzen auf einem Sessel oder der Feinmotorik bietet die gemeinschaftliche Essenssituation zahlreiche Potenziale zur Entwicklung eines gesunden Sozialverhaltens. Durch das selbstständige Ausfassen des Essens oder das Wegräumen des eigenen Tellers wird nicht nur die Selbstständigkeit gefördert, sondern auch das selbstbestimmte Portionieren der Speisen. Auch das Warten und die Rücksichtnahme auf andere wurde des Öfteren genannt: Kinder müssen lernen zu warten, bis sie an der Reihe sind, zumal in einer Gruppe mit 25 Kindern nicht jedes Kind gleichzeitig mit Essen versorgt werden kann. Dabei spielt auch das Alter eine große Rolle, denn die älteren Kinder kümmern sich um die jüngeren, was wiederum dazu führt, dass diese lernen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Ebenso die Vorbildwirkung und das Nachahmen voneinander stehen in engem Zusammenhang damit.

„Sie erziehen sich da eigentlich selbst, die Kinder.“ (Exp. F)

Auch für die Sprachentwicklung ergeben sich im Zuge des gemeinsamen Essens viele Anknüpfungspunkte: Zum einen entstehen unter den Kindern zahlreiche Tischgespräche und zum anderen trägt das Kennenlernen neuer Lebensmittel, neuer Gerichte zur Erweiterung des Wortschatzes bei. In Hinblick auf die Ernährung bietet die Gemeinschaftsverpflegung im Setting Kindergarten essentielle Möglichkeiten, die im familiären Setting vermutlich nicht vorhanden sind. Durch das Probieren und Kennenlernen neuer Speisen werden neue Geschmacksrichtungen entdeckt, die Vielfalt der Lebensmittel und deren Inhaltsstoffe vermittelt und das bewusste Wahrnehmen des Essens und Trinkens in der Gemeinschaft ermöglicht. Produktionsketten, wo hinterfragt wird, woher und wie das Essen auf den Teller kommt, werden ebenso besprochen wie unterschiedliche Essgewohnheiten z. B. aufgrund von Unverträglichkeiten oder religiösem Hintergrund. Auch das Thema nachhaltige Entwicklung, der Umgang mit Lebensmitteln und die Mülltrennung bzw. Müllvermeidung spielt im Kindergartenalltag eine wesentliche Rolle. Neben den bisher erwähnten Lernpotentialen hinsichtlich körperlicher, sprachlicher und sozialer Aspekte sollen jene für die Persönlichkeitsentwicklung nicht unerwähnt bleiben. Durch das Ausprobieren-Können ergibt sich für die Kinder die Möglichkeit, sich selbst besser kennenzulernen und herauszufinden, was schmeckt und was nicht schmeckt. Auch der Mut, sich trauen zu kosten und vielleicht auch nein zu sagen, wenn einmal eine Speise nicht schmeckt, wird im Rahmen des gemeinsamen Essens entwickelt und trägt zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit bei.

Strukturelle und personelle Einflüsse auf Verhaltensweisen

Die befragten Pädagoginnen sind sich einig, dass Eltern durch ihre Vorbildwirkung wesentlichen Einfluss auf das kindliche Essverhalten ausüben. In diesem Zusammenhang wird erwähnt, dass immer wieder Aufklärungsarbeit erforderlich ist, zumal die Wichtigkeit gesunder Ernährung nicht hinreichend bekannt ist oder vom Kindergarten kompensatorische Wirkung für Fehler zuhause erwartet wird. Kinder fungieren dabei oft als Multiplikatoren für ihre Eltern und übernehmen in diesem Kontext erzieherische Tätigkeiten. Wissen über Gesundheit und Ernährung im Zuge der Ausbildung wird nach Meinung aller Befragten zu wenig vermittelt, Fortbildungsmaßnahmen werden als sehr wertvoll erachtet.

Perspektiven der Gemeinschaftsverpflegung

Die Bedeutung der Institution Kindergarten wird nach Meinung aller Befragten weiter steigen, nicht nur weil der Bedarf bzw. die Inanspruchnahme mehr werden, sondern vor allem auch weil gesellschaftlich ein Bewusstsein dafür entsteht, dass in dieser Lebenswelt einiges an Bildung stattfindet und Kinder Vieles erlernen, was zuhause nicht möglich wird.

„(…) Und wenn die Kinder gestärkt durch den Kindergarten gehen bzw. in der Gemeinschaft das erlebt haben, glaub ich schon, dass Kinder dann so selbstständig sind und erwachsen werden und sagen, dass sie vielleicht den richtigen Weg finden oder die richtige Entscheidung treffen.“ (Exp. I)

Damit verbunden ist auch die Gemeinschaftsverpflegung im Kindergarten von großer Bedeutung, da mit einem erhöhten Betreuungsbedarf eine vermehrte Inanspruchnahme des Mittagessens einher geht. Eine gesunde, ausgewogene Ernährung ist daher das Um und Auf für eine gesunde Entwicklung der Kinder, nicht nur im Hinblick auf die körperliche, sondern insbesondere auf die soziale Gesundheit.

Diskussion

Die Ergebnisse der qualitativen Erhebung zeigen, dass das Essen im Kindergarten weit mehr als die bloße Befriedigung des Hungergefühls zur Mittags- oder Jausenzeit bedeutet – tägliche Lernerfahrungen oder das Meistern gemeinsamer Aufgaben gehören ebenso zu den Funktionen des gemeinsamen Essens wie das Lernen des Umgangs mit Konfliktsituationen. Somit decken sich diese Erkenntnisse mit jenen aus der gegenwärtigen Literatur [2, 3, 5]. Neben der Ermöglichung von Gemeinschaftserlebnissen während des Essens ist auch der Beitrag zur Chancengerechtigkeit von Bedeutung, zumal Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien von den vielfältigen Funktionen der Gemeinschaftsverpflegung besonders profitieren. Ordnet man die Gemeinschaftsverpflegung einer Dimension des Determinantenmodell nach Dahlgren und Whitehead (1991, Abb. 2) zu, würde zunächst die Ebene der Lebens- und Arbeitsbedingungen als plausibel erscheinen. Aufgrund ihrer nicht unwesentlichen sozialen Dimension findet sich die Mittagsverpflegung allerdings auch in der Ebene der sozialen und kommunalen Netzwerke wieder. Ergänzend dazu sei erwähnt, dass auch die Ebene der Faktoren individueller Lebensstilfaktoren nicht unberührt bleibt, zumal sich die Ernährung als wesentliches Element menschlicher Verhaltensweisen in dieser Ebene befindet. Folglich zeigt sich die enorme Bedeutsamkeit des gemeinschaftlichen Essens für die kindliche Gesundheit aus der Perspektive der Gesundheitsförderung, da dieses als Determinante auf mehreren Ebenen präsent ist und dadurch auf verschiedene Weise die Gesundheit beeinflusst. Es erscheint als essentiell, diese Bedeutsamkeit den handelnden Personen (Entscheidungsträger, Bildungsinstitutionen, Elementarpädagogen etc.) ins Bewusstsein zu rufen. Ergänzend sei erwähnt, dass die Einhaltung von Ernährungsempfehlungen der jeweiligen nationalen Ernährungskommission zwingend erforderlich ist, damit sich die umfassenden Potenziale und Chancen für die Gesundheitsförderung, die die Gemeinschaftsverpflegung im Kindergarten in sich trägt, vollständig entfalten kann.

Abb. 2
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Determinantenmodell der Gesundheit. (Quelle: Fonds Gesundes Österreich nach Dahlgren und Whitehead 1991 [7])

Hingewiesen wird auf Limitationen der vorliegenden Analyse, einhergehenden mit dem angewandten qualitativen Forschungsansatz. Generalisierbare Ergebnisse konnten dadurch nicht gewonnen werden, der Fokus lag vielmehr auf der Generierung praktischer Evidenz zum Forschungsgegenstand. Eine Überprüfung der aufgestellten Thesen mit einer größeren Stichprobe könnte die Aussagekraft erhöhen.

Fazit für die Praxis

  • Ganzheitliche interprofessionelle Perspektive auf Gemeinschaftsverpflegung ist Voraussetzung für gesundheitsförderliche Gestaltung der Lebenswelten Kindergarten und Schule.

  • Um die soziale Dimension der Gemeinschaftsverpflegung in Bildungseinrichtungen stärker zu adressieren, sind neben Ernährungsempfehlungen und -richtlinien auch Organisationsentwicklungsprozesse zu berücksichtigen.

  • Eine effektive Systemänderung kann nur unter Einbeziehung der Grundprinzipien der Gesundheitsförderung gelingen.

  • Die Integration der multiperspektivischen Betrachtung der Gemeinschaftsverpflegung auf Ebene der Aus- und Fortbildung von pädagogischem Fachpersonal ist Voraussetzung für eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Thema und dessen Auswirkungen.