Blaszczynski et al. [8] haben in ihrem Reno-Modell erstmals einen strategischen Handlungsrahmen für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Glücksspielen formuliert, der in den Folgejahren weiterentwickelt und aktualisiert wurde (z. B. [27, 41]). Die Grundannahmen dieses Ansatzes lauten (vgl. [19]):
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Glücksspiel stellt eine legale, regulierte Form der Unterhaltung und Freizeitgestaltung dar.
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Die Entscheidung zur Spielteilnahme liegt in letzter Konsequenz beim Individuum. Um diese Entscheidung wohlüberlegt treffen zu können, müssen die Spieler*innen über die Funktionsweise der Spielformen und die potenziellen Konsequenzen ihres Handelns bestmöglich informiert werden.
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Glücksspiele können einer kleinen Anzahl von Spieler*innen prinzipiell schaden. Die als „Responsible-Gambling-Maßnahmen“ bezeichneten Interventionen sollen sich in erster Linie an Hochrisikopopulationen bzw. Problemspieler*innen und damit vulnerable Personengruppen richten.
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Maßnahmen des „Responsible Gambling“ sind sorgfältig darauf hin zu überprüfen, ob sie das Vergnügen von Freizeitspieler*innen minimieren.
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Der soziale Nutzen legaler Spielangebote übersteigt die sozialen Kosten.
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Die wissenschaftliche Forschung kann und sollte Strategien zur Schadensbegrenzung leiten.
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Zentrale Stakeholder des „Responsible Gambling“ verfolgen ähnliche Ziele und müssen daher zusammenarbeiten.
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Glücksspielanbieter dürfen gefährdete Personen nicht wissentlich ausbeuten.
Dieser konzeptuelle Handlungsrahmen, ursprünglich als Diskussionsgrundlage einer Forschungsagenda für effektive Maßnahmen des „Responsible Gambling“ gedacht, fand schnell weltweite Zustimmung v. a. bei Regierungen, Regulierungsbehörden und der Glücksspielindustrie. Abgeleitet und umgesetzt wurden Präventionsmaßnahmen, die typischerweise drei Kategorien zuzuordnen sind (vgl. [19]):
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1.
Aufklärung der Öffentlichkeit (v. a. Informationen über die Funktionsweise der Spielangebote, Tipps für einen verantwortungsvollen Umgang mit Glücksspielen sowie Hinweise auf Erkennungsmerkmale problematischen Spielverhaltens),
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2.
Hinweise auf Beratungsangebote und Support-Leistungen (wie Telefon-Helplines, Beratungsangebote vor Ort oder Selbstsperren),
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3.
Etablierung eines verantwortungsbewussten Umfelds (z. B. mittels eines Verhaltenskodex, der Sensibilisierung über Mitarbeiterschulungen, selbstbestimmter Werberichtlinien und Akkreditierung der Responsible-Gambling-Maßnahmen).
Die Praxisimplikationen erweisen sich aufgrund der mangelhaften Evidenzbasierung jedoch als angreifbar. Zum einen lassen umfassende Bestandsaufnahmen zur Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen des Jugend- und Spielerschutzes (z. B. [25, 49]) die Schlussfolgerung zu, dass der suchtpräventive Nutzen der im Reno-Modell vorgeschlagenen Handlungsansätze generell als eher gering einzuschätzen ist. Zum anderen beklagen kritische Stellungnahmen die Fokussierung auf verhaltenspräventive Maßnahmen, die die individuelle Verantwortung der Spieler*innen in übermäßiger Weise betonen. Zugleich werden verhältnispräventive Maßnahmen, wie die Begrenzung der generellen Verfügbarkeit oder Eingriffe in Spielstrukturen und das Umfeld, weitgehend vernachlässigt (z. B. [19, 20, 37]). In der Fortschreibung des Reno-Modells [12] werfen die Autoren immerhin Forschungsfragen auf, die auf den Einfluss von wesentlichen Gestaltungsmerkmalen des „Game Design“, wie Einsatz- und Gewinnhöhe bzw. Spieldauer, sowie der Verfügbarkeit von Glücksspielen abzielen, ohne jedoch auf die gesamte Bandbreite der vorhandenen Evidenz einzugehen. Aufgrund des Mangels an methodisch hochwertigen Evaluationsstudien lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt tatsächlich zwar kaum belastbare Aussagen zur Wirksamkeit von Veränderungen bestimmter Game-Design-Elemente ableiten [49]. Unter theoretischen Gesichtspunkten dürften aber primär von einer Verlangsamung der Spielgeschwindigkeit Positiveffekte im Sinne der Gefahrenabwehr ausgehen. Empirische Befunde einer Metaanalyse bestätigen in diesem Kontext, dass die Teilnahme an kontinuierlichen Spielformen – damit sind Spielangebote mit hoher Ereignisfrequenz gemeint – als besonders gefährlich gilt [6]. Darüber hinaus liegen empirische Belege für die Effektivität von Verfügbarkeitsbegrenzungen, vergleichbar mit den Erkenntnissen bei substanzbezogenen Störungen, auch im Glücksspielbereich vor [34].
Eine weitere umstrittene Grundannahme des Reno-Modells besteht in der propagierten ähnlichen Zielsetzung aller wichtigen Stakeholder. Entgegen dieser Prämisse erweisen sich die Ziele in der Praxis allerdings oftmals als unvereinbar: So bildet z. B. die Gewinnmaximierung die primäre Intention der Glücksspielanbieter, während die Schadensminimierung, die zwangsläufig mit Ertragsrückgängen einhergeht, das Hauptanliegen des Verbraucherschutzes. Interessenkonflikte auf Seiten der Anbieter lassen sich daher nicht wegdiskutieren (für zahlreiche Belege s. [31]). Infolgedessen dürfte der Appell an die Anbieter, gefährdete Spieler*innen nicht wissentlich auszubeuten, kaum hinreichend sein. Weltweit ist für verschiedene Spielformen (insbesondere Spielautomaten und Tischspiele in Spielbanken) nachweisbar, dass der von Problemspieler*innen generierte Umsatzanteil unverhältnismäßig hoch ausfällt und bis zu 76 % beträgt [17]. Stehen verschiedene Glücksspielunternehmen zudem innerhalb eines Marktsegments in direkter Konkurrenz zueinander, liegt es nahe, dass effektiver Spielerschutz sogar einen Wettbewerbsnachteil bedeuten kann. Als empirischer Beleg für die mangelhafte Compliance der Anbieter dient exemplarisch die Evaluation des Sperrsystems der Spielhallen im Bundesland Hessen [23]. Obwohl die Spielhallenbetreiber gesetzlich verpflichtet sind, erkennbar süchtige Spieler*innen von der Spielteilnahme auszuschließen, belief sich der Anteil der Sperren durch das Personal der Spielhallen auf < 1 % (99 % beruhten auf Selbstsperren der Betroffenen). Auch auf Anzeichen von (simulierten) Spielproblemen zeigte das Personal der Spielhallen kaum angemessene Reaktionen. Konsistent hierzu berichtete nur etwa 1 % der Spieler*innen aus Behandlungseinrichtungen, dass sie vom Personal auf ihr problematisches Spielverhalten angesprochen und in das Hilfesystem vermittelt wurden [17]. Ähnliche Befunde stammen aus Australien [38]: Statt präventiv zu agieren, wurde sogar häufig eine Fortsetzung des fehlangepassten Spielverhaltens gefördert. Schließlich scheinen Maßnahmen des Spielerschutzes, die von Anbieterseite lediglich vorgehalten werden bzw. ausschließlich auf einer freiwilligen Nutzung basieren, bestenfalls mäßige Wirksamkeit zu entfachen. Beispielhaft hierfür stehen Pre-Commitment-Systeme, die Begrenzungen der Spielzeit, des Einsatzes, möglicher Gewinne und/oder Verluste vorsehen. Ein wesentliches Manko bei Limitierungsprogrammen, die auf Freiwilligkeit setzen, besteht in der geringen Inanspruchnahmerate. Entsprechend erweisen sich (gesetzlich) verbindliche Systeme gegenüber freiwilligen Programmen unter suchtpräventiven Gesichtspunkten als überlegen [15].
Die Forderung nach einer Kooperation verschiedener Stakeholder hat außerdem einen kontroversen Diskurs um industriegeförderte Forschungsprojekte ausgelöst. Bei derartigen Geschäftsbeziehungen besteht die grundsätzliche Gefahr von Veröffentlichungen, die verzerrende Ergebnisse im Sinne der Glücksspielanbieter beinhalten („Publication Bias“). Aber auch subtilere Einflussnahmen, wie die gemeinsame Auswahl ablenkender bzw. weitgehend irrelevanter Forschungsfragen oder die Veröffentlichung eher banaler Forschungsbefunde, zählen zu diesem Gefahrenspektrum [11]. In den Bereichen Alkohol, Tabak und Pharmazeutika sind entsprechende Nachweise des Einflusses der Industrie auf die Forschung schon seit längerem bekannt [2, 44]. Shaffer et al. [40] halten indessen eine transparente Offenlegung von Finanzierungsquellen der Forschenden und Projekte für ausreichend, um die Öffentlichkeit über den potenziellen Einflussfaktor der Voreingenommenheit zu informieren. Gleichzeitig verweisen sie auf die Notwendigkeit des Zugangs zu echten Glücksspieldaten und Spielteilnehmer*innen in natürlichen Spielsituationen, was nur mit Unterstützung der Industrie möglich erscheint. Vor diesem Hintergrund kommt es wenig überraschend, dass die Arbeitsgruppe um Shaffer [42] selbst in einer Analyse von insgesamt 720 Primärstudien keinen „Funding Bias“ feststellen konnte: So scheint die Finanzierungsquelle weder die methodologische Güte noch die Outcomes der Primärstudien zu beeinflussen. Eine Replikation dieses Befunds von unabhängiger Seite steht allerdings noch aus. Der Vollständigkeit halber sei noch hinzugefügt, dass staatliche Einrichtungen ebenfalls bestimmte Interessen verfolgen (vgl. [19, 20]). Unter anderem sind Regierungen selbst häufig Nutznießer des Glücksspiels, aber auch dem Lobbyismus der Industrie ausgesetzt, was in beiden Fällen zu einer Verhinderung effektiven Spielerschutzes führen kann.
Auch in Deutschland haben sich einzelne Personen aus der Wissenschaft und Suchthilfe einer Initiative von Vertreter*innen und Berater*innen der Glücksspielindustrie mit dem Namen „Düsseldorfer Kreis“ angeschlossen, um Vorschläge für eine am Verbraucherschutz orientierte Regulierung staatlicher und gemeinnütziger gewerblicher Glücksspielangebote zu etablieren.Footnote 1 Wie die Repräsentanten des Reno-Modells setzen sie in erster Linie auf die Verantwortung der Spieler*innen, Regulierungsstellen und Glücksspielbetreiber für einen gesetzlich konsensfähigen und wirksamen Verbraucherschutz. Bei näherer Betrachtung dieses Konzepts, eines Positionspapiers zur Glücksspielwerbung und der Publikationen von Mitgliedern der Initiative ist zu erkennen, dass der Düsseldorfer Kreis vornehmlich den Interessen der Anbieter dient [30]. Zentrale Maßnahmen des Verbraucher- bzw. Spielerschutzes, etwa die Reduktion der Verfügbarkeit des Suchtmittels „Glücksspiel“, werden unter Missachtung der vorliegenden Evidenz [34] als kaum effektiv dargestellt. Eine Differenzierung des Gefährdungspotenzials einzelner Spielformen und als Folge die Forderung nach Eingriffen in die Spielstrukturen finden ebenso wenig Beachtung. Zudem lehnt der Düsseldorfer Kreis aktuell spezifische Werbeeinschränkungen für einzelne Glücksspiele ab, da ihr präventiver Mehrwert wissenschaftlich nicht belegt sei. Hierbei verkennen die Mitglieder jedoch zum einen, dass Werbung für legale Suchtmittel (Alkohol, Tabak, Glücksspiel) immer auf die Gewinnung neuer Konsument*innen und deren dauerhafte Bindung sowie die Modellierung von Einstellungsmustern bzw. Verhaltensintentionen ausgerichtet ist und damit anerkannten gesundheitspolitischen Zielen widerspricht [24]. Zum anderen ignoriert diese Darstellung abermals zahlreiche empirische Forschungsbefunde, die die Beeinflussung v. a. vulnerabler Bevölkerungsgruppen, wie Heranwachsende oder Personen mit einem problematischen Spielverhalten, durch Werbeformate und -inhalte belegen [35].
Unabhängig davon stellt sich die Frage nach der grundsätzlichen Rolle der Glücksspielanbieter bei der Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen des Spielerschutzes. Unbestritten ist, dass gewisse Forschungsvorhaben nur in Kooperation mit Glücksspielanbietern funktionieren, z. B. indem (Spielverhaltens‑)Daten für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung gestellt werden. Auf dieser Grundlage ließen sich in der Vergangenheit in bestimmten Domänen des „Responsible Gambling“ deutliche Fortschritte erzielen, etwa mit der Weiterentwicklung von Früherkennungssystemen sowohl beim Online- als auch beim Offline-Glücksspiel (vgl. [33]). Demgegenüber zeigen die bisherigen Erfahrungen aber auch, dass v. a. selbstverpflichtende Beschränkungen unter der Agenda der Suchtprävention bestenfalls mit mäßiger Wirksamkeit einhergegangen sind oder oftmals schlichtweg Alibifunktion besessen haben [31]. Eine aktuelle Blaupause hierfür stellt die sog. Qualitätsoffensive der gewerblichen Automatenbranche dar, die mit einer (ursprünglich freiwilligen) Zertifizierungspraxis und in der Konsequenz mit einem verbesserten Spielerschutz wirbt. Ob sich zertifizierte Spielhallen diesbezüglich tatsächlich nicht-zertifizierten Spielhallen als überlegen erweisen, muss aufgrund des Fehlens von empirischen Forschungsdaten indessen offen bleiben. Daneben zeigt der Bereich der Personalschulung lehrbuchhaft, wie aus Anbietersicht eine Win-Win-Situation geschaffen werden konnte, ohne den Spielerschutz substanziell zu verbessern: So haben sich in den letzten Jahren Privatunternehmen bzw. Gesellschaften mit unmittelbarer oder mittelbarer Nähe zur Glücksspielindustrie konstituiert, die zur Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen kostenpflichtige Personalschulungen anbieten. Während beide Instanzen von diesen Geschäftsbeziehungen profitieren, sind suchtpräventive Effekte (etwa in einer Erhöhung der Anzahl anbieterinitiierter Fremdsperren) nicht zu belegen [23]. Ähnliche Business-to-Business-Geschäftsbeziehungen mit unsicheren Effekten für den Spielerschutz bahnen sich im Übrigen bei der Spielsuchtsuchtfrüherkennung im Internet an. Auch hier drängen Unternehmen mit eindeutig wirtschaftlichen Interessen auf den deutschen Markt, um die eigenen Früherkennungsprodukte zu bewerben. Zusammenfassend sollte sich die Aufgabe der Glücksspielanbieter somit in erster Linie darauf beschränken, die gesetzlich vorgegebenen Maßnahmen des Spielerschutzes vor Ort konsequent umzusetzen. Das schließt zwar per se nicht aus, dass einzelne von der Anbieterseite implementierte Interventionen im Sinne des „Responsible Gambling“ Teil eines umfassenderen Präventionsansatzes bilden könnten. Zwingend erforderlich hierfür sind aber wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweise und eine engmaschige wie konsequente Kontrolle der Umsetzung durch eine Aufsichtsbehörde.