Einleitung

Gesundheitsförderung wird als sozial und gesundheitspolitisch komplexes Konstrukt mit salutogenetischem Ansatz verstanden, das nicht nur Veränderungen auf einem Kontinuum zwischen „gesund“ und „krank“, sondern auch Lebensbedingungen einbezieht. Verfolgt wird das Ziel, Gesundheit zu verbessern und langfristig zu erhalten [1]. Gesundheitsförderung geht demnach über Prävention, die sich v. a. an pathogenen Risiken orientiert, hinaus.

Trotz steigender Prävalenzen chronischer Erkrankungen [2] nehmen Menschen mit Migrationshintergrund (MmM), die ca. 27 % der deutschen Gesamtbevölkerung ausmachen [3], präventive und gesundheitsfördernde Angebote seltener in Anspruch als Menschen ohne Migrationshintergrund und profitieren von diesen weniger [4, 5]. Mögliche Gründe werden in Sprachbarrieren, Unerfahrenheit mit dem vom Herkunftsland abweichenden Gesundheitssystem und einem mangelnden Verständnis vom Nutzen der Angebote vermutet [6]. Auf Seiten der Angebotsstrukturen erschweren Vorurteile, fehlende kultursensible Zugangswege bzw. ein unzureichendes ethnokulturelles Verständnis sowie eine zu starke Mittelschichtsorientierung die Inanspruchnahme [7]. Demgegenüber können ein größerer Familienzusammenhalt, gesündere Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten sowie eine traditionell oder religiös bedingte Ablehnung von gesundheitsschädlichen Konsummitteln als gesundheitsfördernde Faktoren bei MmM angesehen werden [6]. Laut Präventionsbericht richten sich 19 % der Angebote zur Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland an MmM [8]. Eine 2021 veröffentlichte qualitative Inhaltsanalyse von Dokumenten aus elf Gesetzgebungsverfahren ergab, dass solche Angebote in der deutschen Flüchtlingspolitik bisher kaum berücksichtigt werden [9]. Trotz Wachstum und Heterogenität der Bevölkerung von MmM ist die Datenlage zu Barrieren und Ressourcen bei der Inanspruchnahme von gesundheitsfördernden und präventiven Maßnahmen zudem gering [5]. Gesundheitsfördernde Projekte, die gezielt MmM ansprechen, sind häufig Einzelinitiativen, die selten evaluiert werden [2, 5].

Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband e. V. führte von 2017 bis 2021 das Projekt „Bewusst-Gesund-Aktiv: Gesundheitsförderung für Migrant/-innen im Quartier“ durch. Ziel war es, Angebote der partizipativen Gesundheitsförderung und Prävention modellhaft an zehn Migrant:innenselbstorganisationen (MSO) auszubauen und zu stärken. Im Rahmen der Begleitforschung wurde untersucht, welche hinderlichen und förderlichen Faktoren hinsichtlich der Inanspruchnahme von gesundheitsfördernden und präventiven Maßnahmen bei MmM von Expert:innen berichtet werden und wie mögliche Barrieren überwunden werden können.

Methode

Zwischen Mai und Juni 2018 wurden von einer Gesundheitswissenschaftlerin sieben 40- bis 60-minütige leitfadengestützte Expert:inneninterviews nach Hellferich [10] mit Fachkräften aus MSO in Norddeutschland durchgeführt (s. Tab. 1). Die Interviewpartner:innen (IP) wurden über bestehende Kontakte sowie über das Suchportal „Vernetzung Flucht Migration Hamburg“ rekrutiert. Die Einladung zum Interview umfasste Informationen zu Projekt und Datenschutz sowie eine DSGVO-konforme Einverständniserklärung. Sechs Interviews wurden digital aufgezeichnet; ein Interview wurde handschriftlich protokolliert. Die IP erhielten eine Aufwandsentschädigung von 30 €.

Tab. 1 Beschreibung der befragten MSO und Expert:innen (n = 7)

Der halbstandardisierte Leitfaden wurde auf Basis des SPSS-Prinzips (Sammeln, Prüfen, Sortieren, Subsummieren) [10] entwickelt und in einem Pretest hinsichtlich Verständlichkeit und Eindeutigkeit geprüft. Die anonymisierten Interviews wurden mit der Software f4transkript transkribiert. In der strukturierenden Inhaltsanalyse wurde eine deduktiv-induktive Kategorienbildung angewandt [11], wobei zentrale Aspekte (s. Abb. 1) durch Zitate untermauert wurden. Bis auf das Kodieren durch mehrere unabhängige Beurteilende wurden alle Gütekriterien für die Datenauswertung nach Kuckartz [11] erfüllt.

Abb. 1
figure 1

Ergebnisse der Expert:inneninterviews (n = 7) zur Gesundheitsförderung und Prävention für Menschen mit Migrationshintergrund

Ergebnisse

Vier der sieben IP (n = 5 weiblich) waren Fachkräfte in der Sozial- und Gesundheitsberatung für unterschiedliche Zielgruppen mit Migrationshintergrund (s. Tab. 1). Zwei von drei geschäftsführenden IP waren auch beratend tätig. Zwei MSO berieten Menschen mit afrikanischem und türkischem Migrationshintergrund, während fünf MSO keine Herkunftsländer fokussierten.

Anliegen der Klient:innen

Klient:innen wenden sich laut der IP häufig mit Anliegen ohne Gesundheitsbezug an die MSO, obwohl dort entsprechende Angebote offeriert werden. Häufig gehe es zunächst um Themen wie Rechtsberatung zum Asylverfahren, behördliche Angelegenheiten, Übersetzungen, Unterkunftssuche sowie um Fragen zu Kindererziehung oder rechtlichen Folgen einer Zwangsverheiratung. Im Verlauf würden von Klient:innen auch gesundheitsbezogene Anliegen angesprochen werden, z. B. Ernährung oder Infektions‑, Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen (z. B. Diabetes). Auch Sexualität und Verhütung, z. B. bei ungewollter Schwangerschaft, seien häufiger Beratungsgegenstand: „Wenn dann Frauen zu mir kommen und mir erzählen, dass sie schwanger sind, dann freu ich mich sofort. Aber dann fällt das Gesicht nach unten, weil sie schon mit zwei, drei oder vier Kindern angekommen sind und eigentlich wollen sie kein weiteres Kind […]“ (IP-3). Zwei IP beschrieben, dass v. a. Geflüchtete bei ihnen nach Rat zu Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis, Tuberkulose und Skabies suchen: „Wir haben auch festgestellt, dass Krätze ein großes Thema ist bei den jungen Männern. Oft haben sie sich auf der Flucht Krankheiten eingefangen“ (IP-5). Zwei IP thematisierten Anliegen zu sexuell übertragbaren Krankheiten bei männlichen „Sexarbeitern“ aus Osteuropa (z. B. Bulgarien, Rumänien). Eine IP berichtete, in der Beratung afrikanischer Migrant:innen häufig mit proktologischen Beschwerden infolge sexualisierter Gewalt konfrontiert zu sein. Anliegen zur psychischen Gesundheit beziehen sich laut einer IP häufig auf Folgen traumatischer Fluchterfahrungen: „Wir haben sehr viele traumatisierte Menschen und das artet sich aus, jetzt wo sich die Leute ein wenig eingelebt haben in Deutschland […] Es ist sowieso sehr schwierig, sich in Deutschland zu integrieren. Dann wird schnell zu Betäubungsmitteln gegriffen.“ (IP-1). Zwei IP benannten psychische Folgen von häuslicher Gewalt oder Zwangsverheiratung (z. B. Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, psychosomatische Beschwerden) als Beratungsanliegen. Klient:innen, die z. B. aus der Türkei migriert seien und bereits eine längere Zeit in Deutschland lebten, kämen zwei IP zufolge v. a. wegen depressiver Symptome zur Beratung: „Bei den anderen (Anm.: länger in Deutschland lebende MmM) ist das eher so ein langjähriger Prozess. Da würde ich sagen, sind es eher depressive Erscheinungen, Verzweiflung, so nicht weiter zu kommen.“ (IP-7).

Hinderliche Faktoren

Vier IP führten eine geringe Nachfrage von gesundheitsfördernden und präventiven Angeboten auf eine fehlende aktuelle Relevanz für MmM zurück: „Ich glaube, die Leute haben so einen großen anderen Struggle und denken: ‚Oh Gott, ich kriege meine Leistungen nicht vom Jobcenter.‘ oder ‚Mein Aufenthaltstitel läuft ab. Ich habe noch fünf Kinder, die ich irgendwie alle versorgen muss‘ […] Da ist so Gesundheit eher dann dran, wenn das Kind total krank ist oder ich einen Brief zur U‑Untersuchung kriege und nicht irgendwelche präventiven Maßnahmen.“ (IP-4). Für Maßnahmen, die über eine akute ärztliche Versorgung hinausgehen, werde häufig keine Notwendigkeit gesehen. Insbesondere Menschen aus ursprünglich ländlichen Gebieten würden erst eine Behandlung aufsuchen, wenn sie bereits schwerer erkrankt seien. Üblicherweise würden sie zunächst Verwandte im Heimatland um Rat fragen oder „traditionelle Heilmittel“ einnehmen: „Wenn ich eine gewisse Krankheit habe, ist meine erste Instanz, sofort zu Hause anzurufen und zu fragen: ‚Kennt ihr das bei uns?‘“ (IP-1). Eine IP beschrieb eine hohe Toleranz für körperliche und psychische Leiden. MmM würden sich häufig erst dann mit Gesundheitsförderung und Prävention beschäftigen, wenn sie sozial und beruflich integriert seien und einen gewissen Wohlstand erreicht hätten. Laut der IP liege teilweise zu wenig Wissen über gesundheitsfördernde Themen, z. B. über Ernährung, vor: „Was allerdings die Ernährung von Kindern betrifft, liegt gezielte Fehlinformation von großen Firmen vor. Also alles, was in deren Heimatländern Prestigeobjekte sind […] Sie glauben zum Beispiel, dass Stillen weniger gut ist als teure Säuglingsnahrung. Dass da (Anm.: in der Säuglingsnahrung) noch Zucker drin ist – da gibt es noch hohen Aufklärungsbedarf.“ (IP-3). Eine andere IP nimmt bei MmM ein geringes Interesse an Bewegungs- und Ernährungskursen wahr: „Wenn ich mir Frühstück, Mittag und Abendbrot leisten kann, dann bin ich der gesündeste Mensch auf der Erde. Dann habe ich schon Prävention betrieben.“ (IP-1). Gesunde Ernährung sei häufig schwer zu vermitteln, da viele Klient:innen „ungesündere traditionelle“ Gerichte bevorzugen würden.

Das Wissen von MmM über das Versorgungssystem oder von Krankenkassen übernommenen Leistungen wurde von den IP als unzureichend eingeschätzt. Sprachliche Barrieren erschweren sechs IP zu Folge den Zugang zum Gesundheitssystem, da nur wenige Fachkräfte entsprechende Fremdsprachenkompetenzen hätten und notwendige („teure“) Dolmetschleistungen keine Kassenleistung seien. Dies erschwere den Klient:innen, Vertrauen zu fassen und Anliegen zu offenbaren: „Aber dann kommt gleich die Frage: ‚Wer begleitet mich dahin? Kann ich ihm oder ihr vertrauen?‘“ (IP-1). Laut einer IP bestünde insbesondere bei nicht-alphabetisierten Menschen große Sorge, ungewollt zu Selbstzahlungen (z. B. für IGeL-Leistungen) verpflichtet zu werden. Vier IP zufolge würden v. a. neuzugewanderte Menschen mit „kulturellen Barrieren“ und Diskriminierungserfahrungen konfrontiert sein und von Behandler:innen zurückgewiesen oder nicht angemessen behandelt werden: „[…] wenn wir so Termine vereinbaren, dann ist es ja oft so, dass wir für die telefonieren und dann den Termin abmachen und dann wird immer schnell gesagt: ‚Oh, kann die denn Deutsch oder kann der denn Deutsch?‘ und wenn wir dann sagen: ‚Nein‘, dann sagen die: ‚Oh nee, dann machen wir das gar nicht‘“ (IP-4) oder „Viele sagen: ‚Wenn wir zu einer Arztpraxis gehen, dann haben wir das Gefühl, dass der Arzt uns nicht so richtig ernst nimmt.‘ Wenn ich in eine Arztpraxis reingehe und ich werde behandelt, als ob ich nicht erwünscht bin, dann ist das für mich das Zumachen einer Tür, wenn ich Hilfe brauche.“ (IP-1). Mangelndes Vertrauen beträfe auch Menschen mit einer längeren Aufenthaltsdauer: So seien z. B. psychische Probleme von den Betroffenen selbst oder innerhalb der Communities wenig akzeptiert und tabuisiert. Zudem wurde das Erreichen von Männern als besondere Herausforderung benannt: „Bei Männern sehe ich eher ein Problem. Die geben nie zu, oder die haben mehr Schamgefühle oder Stolz.“ (IP-7). Sexualität und Verhütung, proktologische Beschwerden infolge von sexuellen Übergriffen sowie sexuell übertragbare Krankheiten seien häufig schambesetzte Themen.

Die Vernetzung und längerfristige Anbindung von Klient:innen wurde als schwierig erlebt: Jeweils eine IP beschrieb, dass muslimischen und afrikanischen Frauen die Teilnahme an Angeboten von den Ehemännern untersagt werde oder freundschaftliche Kontakte nach dem Ende von Kursen aufgrund der festen Einbindung in Familienstrukturen abgebrochen würden.

Förderliche Faktoren

MmM würden laut einer IP soziale Aktivitäten wie Ausflüge, Feste, gemeinsames Essen oder Handarbeitskurse besonders gut annehmen. Zwei IP erlebten v. a. bei Opfern häuslicher Gewalt die Herstellung von Vertraulichkeit in individuellen Einzelberatungen als förderlich. Eine IP beschrieb, dass Angebote zu schambesetzten Themen bei drängenden Anliegen und bei einer Bereitschaft, sich auf die Angebote einzulassen, gut angenommen werden. Zudem seien geschlechterspezifische und -getrennte Angebote (z. B. Fitness für Männer, Zumba für Frauen) wichtig: „Wir wissen, dass viele Frauen sehr gerne tanzen, und sie wollen nicht vor Männern tanzen.“ (IP-3). Bewährt habe sich, Angebote spezifisch für und mit MmM zu konzipieren sowie nach den Bedarfen zu fragen: „Gut ist auch […], dass man auch in andere Einrichtungen geht und da die Kontakte pflegt. Die Professionellen kennen ja ihre eigenen Leute vor Ort am besten, dass man da eben auch sehr partizipativ arbeitet und sagt: ‚Was wünschen sich denn eure Klienten?‘“ und „[…] ich habe 100 Menschen aus der Unterkunft befragt, was sie sich wünschen für Gesundheitsangebote, was man machen könnte und daraus dann die Angebote abgeleitet.“ (IP-3). Eine IP beschrieb die Bedeutung von Beziehungsarbeit: „Also es ist immer so, dass wir versuchen, erstmal die Menschen kennenzulernen und erstmal eine Vertrauensbasis zu schaffen […] Erst wenn man diese Beziehung gefestigt hat, dann sieht man eben erst, wo hier Probleme sind und dann spricht man gezielt Sachen an.“ (IP-3). Psychische Probleme können in einem Vertrauensverhältnis vorsichtig und möglichst im Einzelsetting angesprochen werden. Trotz bestehender Barrieren gelinge es vielen MmM langfristig zu Sozialarbeiter:innen und Behandler:innen ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.

Empfehlungen

Laut der IP sei es wichtig, das Wissen zu Gesundheitsförderung und Prävention bei MmM durch Aufklärungsarbeit, Informationsmaterialien und mehrsprachige Veranstaltungen zu stärken. Gezielte Öffentlichkeitsarbeit, z. B. über einen Internetauftritt, könne Interesse für Gesundheitsthemen wecken und die Suche nach Hilfe erleichtern. Auch Pinnwände erwiesen sich als geeignet, da hierüber mehrsprachige Informationen ohne Druck vermittelt würden. Zugang zur Zielgruppe gelinge laut einer IP gut, wenn Vereine und Gruppen von MmM bei der Planung von Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit einbezogen werden: „In der afrikanischen Community sind sie relativ gut organisiert. Das sind meistens ghanaische Vereine, die sich untereinander austauschen und die untereinander auch wissen, welche Gesundheitsthemen brennen.“ (IP-5). Eine IP beschrieb die Wichtigkeit von Mund-zu-Mund-Propaganda innerhalb der Communities: „Das war unsere Eintrittspforte, dass wir dort eben ein halbes Jahr in der Flüchtlingsunterkunft vor Ort waren und dadurch eben auch bekannt geworden sind, […], dass die eben auch unsere Gesichter kannten.“ (IP-3).

Geflüchtete Menschen in Wohnunterkünften können über aufsuchende Angebote erreicht werden. Sog. „Randgruppen“, wie z. B. „Sexarbeiter:innen“, seien gut über Lots:innen zu erreichen, die in der Muttersprache über kostenlose (ggf. anonyme) Gesundheitsangebote informieren. Zu Nachbarschaftsmüttern ausgebildete Sprachmittler:innen helfen bei Aufklärungsseminaren für geflüchtete Frauen. Um männliche Klienten zu erreichen, sollten zukünftig auch Männer geschult werden: „Ich glaube einfach, da wird zu wenig gemacht, dass Männern nicht genügend die Konsequenzen klar gemacht werden, wenn sie eben ihre Frauen verprügeln, ihre Kinder verprügeln, wenn sie ihren Frauen verbieten, an Gesundheitsangeboten teilzunehmen […] Ich glaube, es braucht Männer dafür, um Männer zu erreichen“ (IP-3). Die Kontaktaufnahme zu Männern könne über Männercafés im Rahmen der Stadtteilarbeit gelingen. Eine IP empfahl, den Glauben der Klient:innen zu berücksichtigen und mit Kirchen bzw. Geistlichen zusammenzuarbeiten: „Und wenn man einen Priester hat, dann bleibt das. Er hat schon mein Vertrauenssiegel. Er wird mich in meiner Sprache verstehen und meine Geheimnisse bewahren, und wenn ich zu ihm hingehe, dann ist das ganz normal, und ich werde nicht stigmatisiert“ (IP-1). Die IP haben gute Erfahrungen damit gemacht, gesundheitsbezogene Angebote durch niedrigschwellige, mehrsprachige Informationsveranstaltungen, wie z. B. Vorträge, einzuleiten: „Was wir am Anfang immer machen, dass wenn wir in eine Wohnunterkunft gehen, wo die Menschen uns noch nicht kennen, machen wir eine sogenannte Infoveranstaltung, mehrsprachig. Dort stellen wir das Projekt vor und fragen dann aber auch im zweiten Schritt ab, was die Themen sind, die die Menschen dort bewegen.“ (IP-5). Zwei IP zufolge sei es hilfreich die Veranstaltungen mithilfe qualifizierter Sprachmittler:innen durchzuführen: „Es müssen mehr Sprachmittler oder Dolmetscher zur Verfügung stehen, die bewusst den Ärzten zur Seite stehen […] man kann sich nur am Besten in seiner eigenen Muttersprache ausdrücken“ (IP-1). Wichtig sei zudem eine organisierte Kinderbetreuung während der Angebote. Mehr Fortbildungen zur interkulturellen Kompetenz und zum Ansprechen von schambesetzten Themen seien notwendig. Eine IP berichtete, dass z. B. in Psychotherapien zu stark nach einem westlichen Verständnis behandelt werde: „Und da sagte sie (Anm.: Klientin der IP) zu mir: ‚Die Ärztin versteht mich nicht. Sie ist nur auf die europäische Norm bedacht.‘ Dadurch war meine Klientin noch schüchterner […] und hat die Gespräche abgebrochen.“ (IP-7).

Wiederholt wiesen die IP auf die Bedeutung von Vernetzung mit Institutionen, die mit den jeweiligen Zielgruppen in Berührung kommen (z. B. Jugendamt, Jobcenter, Jugendberufsagentur, Opferhilfesystem, Polizei), hin. In aufeinander abgestimmten Netzwerken hätten MmM eine erhöhte Chance, Gesundheitsförderungs- und Präventionsangebote zu erreichen.

Diskussion

Die Ergebnisse geben einen Einblick in die Erfahrungen von Mitarbeitenden in MSO. Die Auswertungen verdeutlichen, dass MSO in erster Linie aufgrund sozialer oder rechtlicher Anliegen aufgesucht werden. Obwohl Gesundheitsthemen nicht zu den alleinigen Aufgaben der MSO zählen, berichteten die IP eine große Bandbreite gesundheitsbezogener Anliegen, die häufig im Beratungsverlauf zur Sprache kamen. Gesundheitsbezogene Themen erscheinen v. a. für geflüchtete Menschen, auf die sich die IP häufig bezogen haben, angesichts der Vielzahl an existenziellen Sorgen als wenig relevant. Insofern dienen nicht-gesundheitsbezogene Themen häufig als hilfreiche Türöffner für wichtige gesundheitsbezogene Anliegen.

In Übereinstimmung mit bisherigen Befunden [6, 7] zeigen die Interviews, dass Klient:innen in MSO u. a. aufgrund von unzureichendem Wissen oder Deutschkenntnissen, mangelndem Vertrauen und in Folge rechtlicher Unsicherheiten nur wenig Angebote zur Gesundheitsförderung und Prävention in Anspruch nehmen. Die IP erleben bei ihren Klient:innen gesundheitsbezogene Probleme, die mit erhöhtem Leidensdruck oder Scham verbunden sind und zu schweren, dauerhaften Erkrankungen führen können. Ähnlich wie in anderen Studien [12] berichteten die IP von Zurückweisungen ihrer Klient:innen bei Terminvereinbarungen, nicht bedarfsgerechten Behandlungen, geringer interkultureller Kompetenz sowie diskriminierendem Verhalten. Medizinisches Fachpersonal, Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen sollten daher im Rahmen ihrer Ausbildung die Möglichkeit erhalten, ihre interkulturellen Kompetenzen zu erweitern [13]. Um MmM stärker für Angebote zur Gesundheitsförderung und Prävention zu sensibilisieren, sollten bekannte Zugangsbarrieren im Gesundheitssystem z. B. über mehrsprachige Aufklärungsarbeit, gezielte Ansprache der Zielgruppen, die Finanzierung von Dolmetschleistungen und durch Stärkung von interkultureller Kompetenz reduziert werden.

Über die Verknüpfung von gesundheitsbezogenen Angeboten mit Kinderbetreuung oder durch aufsuchende Angebote (z. B. in Wohnunterkünften, MSO, Integrationskurse) können wichtige Brücken zu bisher schwer erreichbaren MmM gebaut werden. Dabei ist die Ermöglichung von Partizipation besonders zentral: Einen vielversprechenden Ansatzpunkt stellt z. B. die Einbeziehung von Multiplikator:innen aus Communities, Kirchengemeinden, Stadtteilen oder Vereinen dar, die aufgrund des ihnen entgegengebrachten Vertrauens den Zugang und die Vermittlung von Informationen erleichtern können. In diesem Zusammenhang zeigen gesundheitsfördernde Projekte (z. B. „MiMi – Mit Migranten für Migranten“ oder „Stadtteilmütter in Neukölln“) mit Multiplikator:innenansatz, Orientierung im Sozialraum, Vernetzung und Begegnung auf Augenhöhe wie der Zugang zu schwer erreichbaren Gruppen gelingen kann. Partizipative Ansätze zeigen, dass sie neben Integration und Teilhabe das Wissen über Erziehung, Bildung und Gesundheit in den Zielgruppen erweitern und die Bereitschaft zur Verhaltensänderung erhöhen [14].

Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass die vorliegende qualitative Interviewstudie auf der Basis einer kleinen Stichprobe an IP keine generalisierenden Aussagen zur Inanspruchnahme von gesundheitsfördernden und präventiven Angeboten durch bestimmte Gruppen mit Migrationshintergrund zulässt. Bei den Zielgruppen der MSO handelt es sich um sehr heterogene Gruppen und die berichteten Zitate der IP geben subjektive Wahrnehmungen wieder. Bei der Analyse der Interviews wurde beispielsweise deutlich, dass die IP Barrieren für die Inanspruchnahme von Angeboten zur Gesundheitsförderung und Prävention eher auf Seiten der Klient:innen sowie förderliche Faktoren eher auf Seiten der MSO benannt haben. Mitarbeitende aus MSO können in Schulungen und Supervision für eigene Stereotype und Vorurteile sensibilisiert werden. Aufgrund der großen Heterogenität von MmM ist grundsätzlich von vielfältigen Lebenslagen, gesundheitsbezogenen Bedarfen und unterschiedlichen Zugangsbarrieren auszugehen.

Fazit für die Praxis

  • Die vorliegende Studie zeigt einen weiterhin erhöhten Bedarf an angepassten Angeboten. Spezifische Zugangsbarrieren wurden noch nicht überwunden. Angesichts der Heterogenität von Menschen mit Migrationshintergrund (MmM) sollten ihre Bedarfe analysiert werden, um bedarfsgerechte und realistische Ziele abzuleiten.

  • Organisationen sollten ihre Angebote im Sinne einer Selbstevaluation fortlaufend kritisch prüfen, um entsprechende Optimierungen vorzunehmen.

  • Mitarbeitende in Migrant:innenselbstorganisationen (MSO) benötigen Schulungen für das Durchführen und Auswerten von Bedarfsanalysen und Selbstevaluationen sowie für partizipative Methoden.

  • Trotz steigender Aufmerksamkeit für die gesundheitliche Situation von MmM besteht ein Verbesserungspotenzial für eine erfolgreiche und partizipative Gesundheitsförderung, die quantitative und qualitative Erhebungen erforderlich macht.