Geflüchtete Menschen sind vielfältigen psychosozialen Belastungen ausgesetzt. Um Versorgungs- und Präventionsbedarfe dieser Bevölkerungsgruppe niedrigschwellig und diversitätssensibel zu decken, werden vermehrt Peer-Ansätze verfolgt. Der vorliegende Beitrag informiert den Diskurs über die (Weiter-)Entwicklung und Implementierung von entsprechenden Angeboten für geflüchtete Menschen in Deutschland, indem zentrale Erkenntnisse aus der Prozessevaluation des präventiven Peer-Ansatzes „Mind-Spring“ (MS) nach Pilotierung in einem kommunalen Setting vorgestellt und diskutiert werden.

Hintergrund

In der vergangenen Dekade stellten über 2,1 Mio. Menschen in Deutschland einen Asylantrag, der Großteil der Schutzsuchenden kam in den Jahren 2015 und 2016 im Kontext der Fluchtbewegungen aus Syrien, Irak und Afghanistan nach Deutschland [26]. Zusätzlich zu traumatischen Erlebnissen im Herkunftsland und belastenden bis lebensbedrohlichen Ereignissen während der Flucht sind geflüchtete MenschenFootnote 1 oftmals mit Postmigrationsstressoren konfrontiert [9, 11]. Sie weisen daher eine erhöhte Vulnerabilität für psychische Erkrankungen auf.

Angesichts von sprachlichen und kulturellen Barrieren, die geflüchtete Menschen bei der Inanspruchnahme psychosozialer Versorgungsangebote erleben [3], aber auch mit dem Ziel einer bedarfsangemessenen Versorgung bei begrenzten finanziellen und professionellen Ressourcen, wird ein Ausbau von niedrigschwelligen und kultursensiblen Angeboten in Europa wie auch spezifisch in Deutschland empfohlen [17, 19, 28]. Ein Ansatz besteht in Peer-to-Peer-Angeboten. Unter ‚Peers‘ werden Personen verstanden, bei denen Gemeinsamkeiten aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder geteilten Lebensumständen gesehen werden [28]. Personen mit eigenen Fluchterfahrungen oder Migrationshintergrund werden in der Prävention und Gesundheitsförderung, bei der Identifizierung und Weiterverweisung von geflüchteten Menschen mit psychischem Unterstützungsbedarf, zur Beratung und zur psychosozialen Stabilisierung und Ressourcenaktivierung eingesetzt [7, 8, 10, 12, 14, 28].

Der Einsatz von ‚Peers‘ kann zu einer Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen und sich positiv auf die psychische Gesundheit auswirken – auch wenn diese keine formale psychologische Qualifikation aufweisen [4]. Insbesondere in Ländern des globalen Nordens gilt die Evidenzlage bezogen auf Peer- oder Community-basierte Ansätze für unterversorgte Gruppen bisher jedoch als unzureichend, zumal unklar ist, welche Faktoren für eine erfolgreiche Übertragung bewährter Ansätze zu berücksichtigen sind [4, 27]. Zudem mangelt es an Studien zu Sichtweisen von geflüchteten Menschen auf die Implementierung psychosozialer Peer-Ansätze in Deutschland.

Im Folgenden werden exemplarisch wissenschaftliche Erkenntnisse aus der qualitativen Prozessevaluation von MS, einem gruppenbasierten Peer-Ansatz der präventiven Psychoedukation und psychosozialen Stabilisierung für geflüchtete Menschen [25], nach Pilotierung in einem kommunalen Setting in Deutschland vorgestellt. Ziel der formativen Prozessevaluation war es, hemmende und fördernde Faktoren der Inanspruchnahme aus der Perspektive von geflüchteten Menschen zu identifizieren.

Methoden

Pilotierung von MS in Deutschland

Die Initiative zur Implementierung von MS in einem kommunalen Setting in Deutschland geht auf eine 2016 durch das Gesundheitsamt Enzkreis/Pforzheim durchgeführte Analyse der lokalen Versorgungssituation und der Bedarfe von geflüchteten Menschen zurück [6]. Die in den Niederlanden entwickelte Intervention MS hat zum Ziel, die psychische Gesundheit von geflüchteten Menschen zu verbessern [25] und wurde anhand ihrer Wirkmechanismen als passend identifiziert. Zentrale Bestandteile von MS sind in Tab. 1 dargestellt. Eine Evaluation von MS nach Implementierung in Dänemark weist darauf hin, dass MS sich positiv auf depressive Symptome und das Wohlbefinden von geflüchteten Menschen auswirkt [13].

Tab. 1 Charakteristika von „Mind-Spring“

Im Mai 2018 begann die Durchführung von drei Gruppen im Enzkreis und zwei Gruppen in Pforzheim. Gruppen fanden zunächst auf Arabisch und Farsi statt und wurden von zwei Personen mit einer Fortbildung in Traumabegleitung, einer Flüchtlingsbeauftragen und einer im Gesundheitsamt tätigen Psychiaterin und Public-Health-Wissenschaftlerin begleitet. Eine Gruppe wurde aufgrund einer kurzfristigen Absage der Co-Trainerin ohne Begleitung begonnen und nach dem zweiten Termin mangels Teilnehmer*innen abgesagt. Da die Teilnahmezahlen schwankten und insgesamt unter den Erwartungen lagen, wurden Gruppen nicht als geschlossenes Angebot durchgeführt, sondern ein Einstieg bis zur vierten Sitzung ermöglicht. Zudem wurde eine von zwei Gruppen, die ausschließlich für Frauen geplant waren, im Verlauf auch für Männer geöffnet.

Netzwerkpartner*innen unterstützten sowohl die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten als auch die Informierung der Zielgruppe, die über eine Mischstrategie aus schriftlichen Materialien und persönlicher Ansprache erfolgte.

Qualitative Prozessevaluation

Die Prozessevaluation von MS erfolgte unabhängig und unter Anbindung an das Forschungsprojekt „RESPOND“ (https://respond-study.org). Nach Durchführung der ersten Gruppen wurden zwischen Juni und September 2018 acht leitfadengestützte Interviews mit geflüchteten Menschen geführt. Die Interviewleitfäden umfassten folgende Themenkomplexe: Informations- und Zugangswege, Beweggründe zur Teilnahme an MS, Durchführung des Angebotes, hemmende und fördernde Faktoren für die Teilnahme an MS sowie bisherige Erfahrungen mit der medizinischen Versorgung in Deutschland.

Bei der Auswahl der Interviewpartner*innen wurde eine maximale Variation hinsichtlich der Rolle bei MS und der Zugehörigkeit zur arabischen oder persischen Sprachgruppe sowie unter den (potenziellen) Teilnehmenden hinsichtlich der Inanspruchnahme des Angebots, soziodemographischer Charakteristika und des Wohnorts verfolgt. Peer-Trainer*innen wurden in der Annahme eingeschlossen, dass sie Aussagen über hemmende und fördernde Faktoren der Teilnahme aus der Sicht von geflüchteten Menschen treffen können und ihre Position zugleich zusätzliche Einblicke in die Kontextualisierung und ein besseres Verständnis der Intervention ermöglicht. Da eine schwere Erreichbarkeit der Studienpopulation angenommen wurde, wurden Interviewpersonen über ein schrittweises Snowball-Sampling rekrutiert, beginnend mit den Peer-Trainer*innen. Diese unterstützten die Rekrutierung von Interviewpartner*innen unter den Teilnehmer*innen.

Die Interviews fanden nach schriftlicher Einwilligung in dem häuslichen Umfeld der Befragten, in Räumlichkeiten des Gesundheitsamtes Enzkreis/Pforzheim oder an den Veranstaltungsorten von MS statt und hatten eine Dauer von 45 bis zu 115 min. Teils waren Familienangehörige der Interviewten anwesend. Fünf Gespräche wurden mit Einbindung eines Videodolmetschdienstes geführt, drei Gespräche fanden auf Deutsch statt. Den Befragten wurde eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 20 € angeboten.

Alle Interviews wurden aufgezeichnet. Deutschsprachige Gesprächsanteile wurden unter Verwendung des Transkriptionsprogramms f4 wörtlich transkribiert und gesprächsinterne nicht-deutsche Redeanteile ggf. zur Kontextualisierung im Transkript vermerkt.

Die Daten wurden in Anlehnung an Kuckartz [15] und unter Verwendung der Software MaxQDA inhaltlich ausgewertet. Kategorien wurden induktiv-deduktiv gebildet. Nach zirkulärem Durchlaufen der Schritte des Kodierens, Systematisierens und Organisierens an sechs Interviews durch CP wurde das vorläufige Codebuch gemeinsam mit LB auf Genauigkeit und theoretische Sensibilität überprüft. Mit unter Rückgriff auf das Behavioral Model of Health Services Use [1, 2] erstellten Hauptkategorien wurde ein erneuter Kodierdurchgang aller Interviews durch CP durchgeführt und Haupt- und Subkategorien ausgewertet. Die folgende Ergebnisdarstellung orientiert sich an den Themen, die im gemeinsamen Austausch im Forschungsteam als zentral identifiziert wurden.

Ergebnisse

Charakteristika der Befragten

Im Zuge der Datenerhebung wurden acht Personen interviewt: zwei Peer-Trainer, fünf MS-Teilnehmer*innen aus vier verschiedenen Gruppen und eine geflüchtete Person, die über MS informiert worden war, aber nicht an dem Angebot teilgenommen hat (s. Tab. 2).

Tab. 2 Charakteristika der Befragten (n = 8)

Beweggründe zur Teilnahme an MS

Der Entscheidung zur Teilnahme an MS lagen unterschiedliche Bedarfe und Nutzenerwartungen zugrunde. Teils berichteten die befragten Teilnehmenden von Einschränkungen ihrer subjektiven Gesundheit, die von emotionalem Leidensdruck aufgrund psychosozialer Belastungen bis zu kognitiven und physiologischen Einschränkungen reichten: „… vielleicht könnte es so irgendein Weg sein, so irgendeine Lösung für meine Einsamkeit, für meinen ganzen Stress.“ (T5). Ein Peer-Trainer identifizierte Informationsbedarfe im Umgang mit psychosomatischen Beschwerden (s. Zusatzmaterial, Z1).

Personen, die ihre subjektive Gesundheit und ihr Wohlbefinden als verhältnismäßig gut bewerteten, gaben psychosoziale Probleme oder Interesse als Grund zur Teilnahme an MS an. Die individuellen Erwartungen der Teilnehmenden an MS reichten von dem Aufbau sozialer Kontakte über eine Unterstützung bei Wohnungssuche und Kindererziehung, professionelle medizinische und psychologische Unterstützung bis hin zu einem Wissenserwerb zu gesellschaftlichen und soziokulturellen Aspekten in Deutschland.

Die befragten Peer-Trainer berichteten, dass die aufsuchende persönliche Ansprache eine Anpassung der Information über MS auf die Zielgruppe, individuelle Lebenssituationen und soziale Normvorstellungen ermöglichte (vgl. Z8 aus Perspektive eines Teilnehmers). Im Verlauf einer Teilnahme wurden Erwartungen jedoch mitunter enttäuscht und Teilnehmende zeigten Desinteresse an der tatsächlichen inhaltlichen Ausrichtung. Die Interviewpartner*innen vermuteten, dass hieraus eine unregelmäßige Teilnahme oder Abbrüche resultieren (vgl. Z2). Im Rahmen zweier Interviews wurde hingegen deutlich, dass selbst wenn Erwartungen an MS enttäuscht werden, kein Nutzen erlebt wird und Zweifel an der Wirkweise von MS bestehen, eine fortlaufende Teilnahme teils für einen weiter erhofften Nutzen aufrechterhalten wird (vgl. Z3 als Beschreibung der Motivation zur weiteren Teilnahme).

Niedrigschwellige Organisation und Verständigungsmöglichkeit

Fördernd für die Teilnahme war den Befragten zufolge, dass die MS-Sitzungen wohnortnah und in bereits bekannten Räumlichkeiten (z. B. durch Angebote wie Asyl-Cafés und Kinderbetreuung) stattfanden. So schilderte ein Teilnehmer, dass MS „gleich um die Ecke“ von seinem Wohnort stattgefunden habe und er dann dachte „ja, warum nicht […] dann schauen wir mal, was es einfach einem bringt“ (T1). Entfernungen zum Wohnort wurden bezogen auf MS als Hindernis beschrieben (Z6).

In zwei Interviews wurden zeitliche Überschneidungen der MS-Sitzungen mit Sprach- bzw. Integrations- oder Berufsvorbereitungskursen als hemmender Faktor für die Teilnahme an MS angesprochen (vgl. Z7). Insbesondere für Mütter von Kleinkindern war es hinderlich, wenn das Angebot am Abend stattfand.

Durch die kostenfreie sprachliche Verständigungsmöglichkeit über die Peer-Trainer*innen und die wöchentlich zur selben Zeit stattfindenden, fortlaufenden Termine wurden Barrieren reduziert, die bei der Inanspruchnahme professioneller Versorgungs- und Unterstützungsangebote beschrieben wurden. So erlebte eine Interviewpartnerin eine Sprachbarriere für das Erfragen eines Folgetermins bei einem individuellen psychosozialen Beratungsangebot. Ein anderer Teilnehmer berichtete von hohen Wartezeiten und Kosten für Verdolmetschung bei der versuchten Inanspruchnahme professioneller psychologischer oder psychiatrischer Versorgungsleistungen.

Gruppendynamiken und Trainer*innentandem

Der Austausch in der Gruppe über „[… v]orhandene Probleme, die man loswerden möchte“ (T2) wurde von einigen befragten Teilnehmenden als Kernelement von MS und als etwas, aus dem sie persönlichen Nutzen getragen haben, hervorgehoben. Ein verständnisvoller Austausch in harmonischer Atmosphäre wurde zum einen damit verbunden, emotionale Unterstützung durch die anderen Teilnehmenden zu erfahren (vgl. Z9). Zum anderen ermöglichte der Austausch über gegensätzliche Einstellungen und unterschiedliche Normvorstellungen eine vertiefte Auseinandersetzung mit kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden (vgl. Z10).

Einige der Befragten beschrieben zugleich, dass die Durchführung von MS als Gruppenangebot eine Hürde sein könne, da es manchen Personen schwerfalle, in der Gruppe private Probleme offenzulegen und über eigene Gefühle zu sprechen. Teils wurden in diesem Zusammenhang auch Genderaspekte deutlich: Eine Teilnehmerin einer gemischtgeschlechtlichen MS-Gruppe gab an, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich in der Gruppe zu öffnen und dass sie sich bei Problemen bevorzugt an Frauen wende, da es ihr leichter falle, zu Frauen Vertrauen aufzubauen. Ein Peer-Trainer verwies auf genderbezogene Rollenerwartungen an Männer als Herausforderung (vgl. Z4).

Die Sorge vor mangelnder Toleranz oder einer Stigmatisierung bei Abweichen von sozialen Normvorstellungen wurde auch von zwei Teilnehmern als mögliche Erklärung für Teilnahmeabbrüche oder Hürde für die erstmalige Teilnahme angesprochen (vgl. Z5).

Die Peer-Trainer*innen wurden von den Teilnehmenden überwiegend als sprachliche und kulturelle Vermittlungspersonen wahrgenommen. Eine Teilnehmerin beschrieb die Peer-Trainerin zudem als Vertrauensperson und emotionale Stütze. Vereinzelt wurde berichtet, dass vorab bereits freundschaftliche Kontakte zwischen Teilnehmenden und einem Peer-Trainer bestanden. Zugleich wurde in den Interviews die Relevanz der Co-Trainer*innen für die inhaltliche Ausgestaltung und die Akzeptanz der Inhalte deutlich. Die Co-Trainer*innen unterstützen die Peer-Trainer*innen nicht zuletzt mit Wissen über institutionelle Strukturen und Abläufe sowie Normen, die als Teil der deutschen Kultur verstanden werden, und wurden dabei als Vertreter*innen der deutschen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen. Als Vorteil des Trainer*innentandems wurde beschrieben, dass ein Austausch über Werte, Normen und die eigene (kulturelle) Identität stattfinden kann, bei dem das „Eigene“ wertgeschätzt und die Einordnung von „Fremdem“ erleichtert wird (vgl. Z11).

Die Annahme von Inhalten im Verlauf der Teilnahme wird unterstützt, wenn die Durchführenden als hilfsbereit und glaubwürdig erlebt werden. Verhaltensanregungen wurden mangels der Übertragbarkeit auf die individuelle Lebenssituation jedoch nicht von allen Teilnehmenden umgesetzt (vgl. Z12).

Vereinzelt verwiesen die Interviews auf Konflikte aufgrund eines unterschiedlichen Verständnisses von MS und den Rollen der Trainer*innen. So erwartete eine Teilnehmerin von dem Peer-Trainer, dass er konkrete Unterstützungsbedarfe an die Co-Trainerin kommuniziert (vgl. Z13).

Diskussion

Geflüchtete Menschen erleben die aufsuchende, personalisierte Ansprache, sprachliche Verständigungsmöglichkeiten sowie die wohnortnahe Durchführung als fördernd für die Teilnahme an MS. Hemmend wirken sich insbesondere soziale und interpersonelle Faktoren wie die Sorge vor Stigmatisierung und fehlendes Vertrauen in Durchführende und/oder andere Gruppenteilnehmende sowie Inkongruenzen zwischen Nutzenerwartungen und Ausrichtung des Angebots aus. Die Erkenntnisse verdeutlichen zugleich den Bedarf an professioneller Unterstützung, die Relevanz einer klaren Zielsetzung sowie der sensiblen Ausgestaltung eines Gruppenangebots für die Inanspruchnahme und den erlebten Nutzen bei Teilnahme. Dabei spielt auch ein ausgewogenes Verhältnis von „peerness“ und „otherness“ eine wichtige Rolle.

Die in der Studie ersichtlich gewordenen heterogenen Bedarfe, Bedürfnisse und Erwartungen an MS weisen darauf hin, dass eine klare Zielsetzung und adäquate Kommunikation notwendig sind, damit geflüchtete Menschen einen Nutzen von der Teilnahme an niedrigschwelligen Angeboten erleben. Insbesondere wenn eine eingeschränkte subjektive Gesundheit vorliegt, scheint es für die erstmalige Teilnahme wichtig zu sein, dass mit mindestens einer durchführenden Person eine fachliche Expertise und die Erwartung professioneller Unterstützung verbunden wird. Ein Angebot, das zugleich verschiedene primärpräventive Ziele adressiert und Unterstützung bei psychischen Symptomen sowie ungedeckten Therapiebedarfen leisten möchte, kann zu enttäuschten Erwartungen führen und könnte Teilnehmenden im schlimmsten Fall schaden, statt zu nutzen. Auf die Notwendigkeit einer Abgrenzung von primärpräventiven und gesundheitsförderlichen Peer-Angeboten zu therapeutischen Interventionen weisen auch Aussagen von Teilnehmenden eines vergleichbaren Pilotprojektes hin, dass Personen mit depressiven Symptomen in der Gruppe einen negativen Einfluss auf die eigene Stimmung und Traurigkeit haben würden [14]. Eine fundierte Schulung der Durchführenden und eine fortlaufende professionelle Begleitung bzw. Supervision sind unerlässlich.

Die Erkenntnisse zur niedrigschwelligen Organisation bekräftigen zugleich den Mehrwert, den aufsuchende, diversitätssensible und mehrsprachige Angebote für die Versorgung von geflüchteten Menschen in Deutschland haben und stützen somit die Empfehlungen zur Etablierung von entsprechenden Angeboten als Bestandteil gestufter Versorgungsmodelle. Strukturen, die eine mehrsprachige Identifizierung psychischer Symptome ermöglichen und geflüchtete Menschen bedarfsangemessen an professionelle Angebote weiterverweisen, sollten ausgebaut werden. Zugleich ist im Rahmen weiterer Forschungsprojekte zu beleuchten, wodurch eine erfolgreiche Weiterverweisung begünstigt respektive verhindert wird und ob sich entsprechende Versorgungmodelle als kosteneffektiv erweisen.

Anhand der Sichtweisen der Befragten auf die Durchführung von MS als Gruppenangebot und das Trainer*innentandem lässt sich ableiten, dass Teilnehmende sowohl aus geteilten Erfahrungen als auch aus differierenden Erfahrungen und Perspektiven profitieren können. Es scheint, dass bei einer Auseinandersetzung mit Akkulturationsprozessen und der eigenen Identität besonders hilfreich ist, wenn sich die Teilnehmenden aufgrund bestimmter Charakteristika oder geteilter Erfahrungen untereinander und mit einem*einer Trainer*in identifizieren können („peerness“) und die andere durchführende Person als Kulturmittler*in und Vertreter*in der deutschen Mehrheitsgesellschaft („otherness“) erlebt wird. Dies stellt eine wichtige Erkenntnis dar, da in Diskussionen zu Peer-Ansätzen der Aspekt der adäquaten Einbindung von Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft nicht immer ausreichend Beachtung findet. Zugleich wird deutlich, dass geteilte Fluchterfahrungen und Muttersprache als alleinige Merkmale einer von außen angenommenen „peerness“ den heterogenen Lebenssituationen nicht gerecht wird. Zudem kann nicht zwangsläufig von einer Übertragbarkeit von Coping-Strategien und der Reduktion von Inanspruchnahmebarrieren ausgegangen werden, die mit kulturellen Werten, Einstellungen und dem Verständnis von Mental Health und Versorgungsangeboten zusammenhängen. In der Entwicklung oder Adaption von Peer-Angeboten ist daher kritisch zu reflektieren, auf welcher Basis ein bestimmtes Merkmal oder eine geteilte Erfahrung als entscheidend für das Erleben einer „peerness“ angenommen wird, und auf welcher Basis bzw. mit welchen Vorannahmen die Mitglieder einer Community als solche identifiziert werden [20, 21]. Das Forschungsprojekt bekräftigt Erkenntnisse aus Studien zu individuellen wie auch gruppenbasierten Peer-Ansätzen, die ebenfalls auf die hohe Bedeutung von vertrauensvollen Beziehungen bzw. einer vertrauensvollen Atmosphäre in Gruppen hinweisen [14, 23, 24]. Die Teilnahme an einem Gruppenangebot kann zu einem „sense of belonging“ beitragen und die gegenseitige Unterstützung in einer Peer-Group kann das Wohlbefinden fördern [5, 14, 16, 18, 22]. Im Rahmen der geführten Interviews wurde jedoch deutlich, dass die Durchführenden eine wesentliche Rolle dafür spielen, dass die methodische Ausgestaltung und Atmosphäre in der Gruppe positive soziale Kontakte ermöglicht.

Die Studie gibt eine Momentaufnahme zum Zeitpunkt der Einführung von MS wieder. Die Ergebnisse sind bereits in die schrittweise Anpassung und fortlaufende Verbesserung von MS durch das Gesundheitsamt Enzkreis/Pforzheim eingeflossen. Schwächen der Studie ergeben sich aus der begrenzten Anzahl an Interviews, der verdolmetschten Interviewführung ohne anschließende Rückübersetzung und dem Verzicht auf eine konsensuelle Kodierung. Eine fortlaufende Reflektion der Gesprächssituationen und ein enger Austausch im Forschungsteam dienten der Überprüfung, dass relevante Aspekte nicht übersehen werden und Interpretationen auf Aussagen der Befragten beruhen. Da es sich nicht um eine Outcome-Evaluation handelt und ein rein qualitatives Forschungsdesign gewählt wurde, lassen sich keine Aussagen über die Wirksamkeit und Kosteneffizienz der Intervention ableiten. Die qualitative Prozessevaluation ermöglichte stattdessen, vertiefte Einblicke in die Perspektiven geflüchteter Menschen zu gewinnen und stellt damit einen relevanten Beitrag zum Diskurs über die (Weiter-)Entwicklung und Implementierung niedrigschwelliger psychosozialer Versorgungsangebote für Geflüchtete in Deutschland dar.

Fazit für die Praxis

  • Eine klare Zielsetzung von niedrigschwelligen psychosozialen Angeboten ist relevant, um eine gute Passung zwischen der Ausrichtung und den Erwartungen von geflüchteten Menschen an das jeweilige Angebot zu erreichen.

  • Die Einbindung von geflüchteten Menschen in die Durchführung von psychosozialen Angeboten kann zu einer Reduzierung sprachlicher Barrieren und einem verstärkten Zugehörigkeitsgefühl beitragen.

  • Bei der Implementierung sind strukturelle Barrieren wie Komm-Strukturen in der Informierung und Durchführung zu vermeiden.

  • Die Akzeptanz psychosozialer Angebote und ihrer Inhalte ist nicht allein von „peerness“ abhängig, sondern auch von Kompetenzerwartungen. Eine Anbindung an professionelle Versorgungsstrukturen kann dies unterstützen.