Hintergrund

Bis 2060 wird laut der Prognose für die Bevölkerungsentwicklung der Anteil der Deutschen im Alter von über 65 Jahren um 5,6 Mio. Menschen anwachsen [23]. Die Zahl an Pflegebedürftigen und benötigtem Pflegepersonal steigt. Schätzungen zufolge fehlen im Jahr 2050 bis zu 0,85 Mio. Fachkräfte in der Pflege [22], die erhöhte gesundheitliche Belastung schlägt sich jedoch schon heute in den Statistiken zur Arbeitsunfähigkeit nieder [25]. Mit durchschnittlich 22,9 krankheitsbedingten Fehltagen in 2018 fallen Pflegekräfte 8 Arbeitstage pro Jahr mehr aus als der bundesweite Durchschnitt aller Berufstätigen. Die Gewinnung von Personal aus dem Ausland, Schaffung finanzieller Anreize und die Gesunderhaltung der Beschäftigten stellen Maßnahmen dar, welche dieser Entwicklung entgegenwirken können [22].

Das Arbeiten im Schichtsystem, Termin- und Leistungsdruck [14] und ein erhöhtes soziales Konfliktpotenzial im Umgang mit Patienten [27] erschweren gesundheitsförderliche Verhaltensweisen [12] und können infolgedessen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen [21]. Um das hohe Arbeitspensum bewältigen zu können, wird auf regelmäßige Pausen und somit wichtige Regenerationsphasen verzichtet [28]. Stresserleben als negative Beanspruchungsfolge erhöht das Risiko für psychosomatische und muskuloskelettale Beschwerden [16]. Der Einfluss der Arbeitsbedingungen auf das Ernährungs- und Trinkverhalten, die körperliche Aktivität und das Rauchverhalten sowie Auswirkungen auf die Gesundheit ambulanter Pflegekräfte wurden bislang nicht untersucht [19, 20]. Allgemein existiert für die ambulante Pflege insbesondere in kleinen und mittleren Betrieben nur wenig Forschungsliteratur zu Gesundheitskompetenzen, -verhalten und -förderung [19, 20]. Demzufolge finden sich für ambulant tätige Pflegekräfte in Deutschland keine zielgruppenspezifischen Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF), was auch auf die Erschwernisse bei der Umsetzung im mobilen Setting zurückzuführen ist [13]. Existierende verhaltenspräventive Gesundheitsförderungsprogramme, entwickelt für die stationäre Pflege, fokussieren zumeist auf Stressbewältigung [19]. Bei der Untersuchung verhältnispräventiver Maßnahmen führte sowohl die Bereitstellung eines Massagestuhls [10], als auch die verbesserte Gestaltung des Pausenraums zu einer signifikanten Reduzierung des Stresserlebens [15]. Allgemein gibt es eine Vielzahl erfolgsgeprüfter Ansätze zur Stressprävention am Arbeitsplatz [2], welche in der Pflege bislang keine Verwendung gefunden haben. Vereinzelt wurden Maßnahmen in der Raucherentwöhnung, Rückenschulung und Seminare zur gesunden Ernährung erfolgreich durchgeführt [19]. Eine erste psychoedukative Interventionsstudie zur Achtsamkeits- und Resilienzförderung in der ambulanten Pflege berichtet von Senkungen der Arbeitsstresswahrnehmung und des Burnout-Risikos [4]. Diese stellt somit einen Meilenstein dar, deckt jedoch nur wenige Determinanten der Gesundheit ab [5].

Ziel der Arbeit

Ziel der vorliegenden Studie ist es, auf Basis der Meinung von Expert*innen, Gesundheitsverhalten und -förderung ambulanter Pflegekräfte zu eruieren. Zudem sollen Hindernisse und Herausforderungen für die erfolgreiche Implementierung von BGF sowie potenzielle Lösungsstrategien identifiziert und dabei Erkenntnisse zur Gestaltung zielgruppenspezifischer Maßnahmen gewonnen werden. Folgende Fragestellungen sollen beantwortet werden:

  • Wie charakterisieren die Expert*innen das Gesundheitsverhalten ambulanter Pflegekräfte in den Themenbereichen „Ernährungs- und Trinkverhalten“, „Rauchen“, „körperliche Aktivität“ und „Stress“?

  • Welche existierenden BGF-Maßnahmen sind den Expert*innen bekannt?

  • Welche Hindernisse und Herausforderungen sind bei der BGF-Implementierung zu erwarten?

  • Welche Lösungsstrategien im Umgang mit den Hindernissen und Herausforderungen erachten die Expert*innen als sinnvoll?

Material und Methoden

Studiendesign

Im Januar 2020 wurde unter Einbezug von 10 Expert*innen aus der Hamburger Pflegebranche und -wissenschaft eine Fokusgruppe durchgeführt. Eine Stärke qualitativer Forschungsmethoden und explizit von Fokusgruppen ist es, dass Erkenntnisse und Fragestellungen generiert werden können und sich diese Methoden somit besonders für die explorative Phase einer Untersuchung eignen [20]. Die Ergebnisse der Fokusgruppe dienten im nächsten Schritt als Entwicklungsgrundlage für eine quantitative Online-Befragung.

Rekrutierung und Teilnehmer

Zunächst wurden im November 2019 Hamburger Expert*innen für Gesundheitsförderung im ambulanten Pflegesektor identifiziert und potenzielle Teilnehmer basierend auf einer internetgestützten Recherche sowie Empfehlungen seitens der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) zusammengestellt. Die Kontaktaufnahme zu den Expert*innen erfolgte via telefonischer Akquise, per E‑Mail als auch persönlich. Die finale Besetzung der Fokusgruppe mit Vertretern aus Pflegepraxis, -verbänden und -wissenschaft verfügte über Expertisen aus verschiedenen Berufsfeldern der Pflege (Tab. 1) und stärkt die externe Validität der Ergebnisse [18].

Tab. 1 Informationen zur Demografie und Expertise der Teilnehmer

Vorgehen

Die Fokusgruppe wurde mittels eines semistrukturierten Interviewleitfadens durchgeführt. Die Fragestellungen des Interviewleitfadens zum Gesundheitsverhalten ambulanter Pflegekräfte und Maßnahmen der Gesundheitsförderung in der ambulanten Pflege sind im Anhang (Tab. 2) zur Verfügung gestellt. Um möglichst umfassende Diskussionen anzuregen, wurden offene Fragestellungen verwendet, welche für die Gesundheitsbereiche „körperliche Aktivität“, „Ernährung“, „Rauchen“ und „Stress“ wiederholt thematisiert wurden.

Der Leitfaden wurde vorab von einer ambulanten Pflegekraft bestätigt. Ein interdisziplinäres, aus vier Wissenschaftlern bestehendes Studienteam mit langjähriger Erfahrung in der Durchführung qualitativer Forschungsmethoden leitete das Fokusgruppeninterview. Zu Beginn der Fokusgruppe wurden die Teilnehmer über die Studienziele, Diskussionsthemen, Datenschutz und Freiwilligkeit zur Teilnahme informiert. Eine Einwilligungserklärung zu den Teilnahmebedingungen wurde zu Beginn unterzeichnet. Die zweistündige Veranstaltung wurde in Ton aufgezeichnet.

Informations- und Datenverarbeitung

Zunächst wurde die Tonbandaufzeichnung anhand der vereinfachten Transkriptionsrichtlinien nach Dresing und Pehl [8] verschriftlicht und das Transkript mittels Inhaltsanalyse nach Mayring [17] qualitativ ausgewertet. Der Fokus dieser Auswertungsmethode liegt auf dem Inhalt des Gesagten und unterstützt somit das explorative Forschungsvorhaben [3]. Der validierte, systematische Ansatz der Inhaltsanalyse stärkt zudem die Reliabilität der qualitativen Ergebnisse [17]. Ein Kategoriensystem wurde entwickelt und Rohdaten geordnet, diese den Kategorien zugeteilt und Themen interpretiert. Die Erstellung der Oberkategorien erfolgte deduktiv anhand des Interviewleitfadens, die Entwicklung der Unterkategorien induktiv im Auswertungsprozess. Das Transkript wurde unter Verwendung der Software MAXQDA Analytics Pro 2020 (VERBI GmbH, Berlin; [9]) durch den Erstautor kodiert und die Kodierung durch das Studienteam geprüft. Nach den Vorgaben von Mayring [17] wurde das komprimierte Datenmaterial des Kodierungssystems abschließend in einem separaten Dokument zusammengefasst. Zur Stärkung der Validität fand im Zuge der Analyse eine nähere Betrachtung des möglichen Einflusses des Studienteams auf die Datenerfassung und -auswertung statt und alternative Interpretationswege für als kritisch bewertete Aussagen wurden diskutiert. Die Studienergebnisse sind den Forschungsfragen und dem entwickelten Kodierungssystem (Anhang, Tab. 3) folgend dargestellt. Bei direkten Zitaten wurde markiert, von welcher Expertengruppe die Aussage stammt (Berufsverband [BV]; ambulante Pflegedienstleitung [AP]). Zur Beschreibung der Studie wurde die COREQ(„COnsolidated criteria for REporting Qualitative research“)-Checkliste verwendet [26].

Ergebnisse

Gesundheitsverhalten

In den Kategorien „körperliche Aktivität“, „Ernährungs- und Trinkverhalten“, „Rauchen“ und „Stressbelastung“ finden Aussagen der Expert*innen nähere Betrachtung, in welchen das Gesundheitsverhalten der Beschäftigten eingeschätzt und der Einfluss der Arbeitsbedingungen auf das Gesundheitsverhalten beschrieben wurde.

Körperliche Aktivität

Die Expert*innen beschrieben, dass sich ambulante Pflegekräfte bereits im Berufsalltag viel bewegen. Auf körperliche Aktivität in der Freizeit wurde hingegen nicht näher eingegangen. Die Expert*innen setzten stattdessen voraus, dass die körperliche Aktivität von ambulanten Pflegekräften in der Freizeit unzureichend ist und verwiesen darauf, dass sich die Arbeitsbedingungen hemmend auf die Ausübung körperlicher Aktivität auswirken. Unter „körperliche Aktivität“ ergab sich infolgedessen die Kategorie „bewegungshemmende Faktoren“.

Die Beiträge zu den bewegungshemmenden Faktoren wurden den Themen „Erschöpfung erhöht das Bedürfnis nach Regeneration“, „unregelmäßige zeitliche Verfügbarkeit zur Ausübung von Sportroutinen“ und „motivationshemmende Arbeitsbedingungen“ zugeordnet. Infolge von Arbeitsbelastungen gaben die Expert*innen Erschöpfung als Ursache dafür an, dass ambulante Pflegekräfte wenig körperliche Aktivität in der Freizeit betreiben. Hierbei bewirken sowohl die erlebte Stressbelastung als auch die körperliche Erschöpfung durch den Arbeitsalltag, dass in der Freizeit das Bedürfnis nach Regeneration gesteigert wird:

BV: Ein Alltag in der Pflege ist grundsätzlich sehr stressbehaftet. Man […] bewegt sich im Alltag schon sehr viel. Man kommt nach Hause, ist müde und ist froh, einfach mal die Füße hochzulegen und nichts zu machen.

Eine Verbandsvertretung schilderte, dass der Pflegebetrieb die zeitgebundene Erfüllung der Pflegeleistung sicherstellen muss, wodurch nicht gewährleistet werden kann, dass die Beschäftigten regelmäßig an denselben Wochentagen frei bekommen. Die Initiierung und Einhaltung sportlicher Routinen ist erschwert und die Pflegekraft in ihrer Wahl der Sportart limitiert, da regelmäßige Kurs- und Trainingszeiten nur bedingt eingehalten werden können:

BV: Ich kann sehr selten Teamsport machen. […], wenn es da keine Flexibilität in den Dienstplänen gibt, und ich [nicht] sagen kann […]: Mittwochabend möchte ich definitiv keinen Spätdienst machen, weil ich da […] Handball […] habe.

Weiterhin wurde festgestellt, dass ambulante Pflegekräfte somit vermehrt auf zeitunabhängige Individualsportarten angewiesen sind. Eine Pflegedienstleitung schlussfolgerte, dass die Erfüllung extrinsischer Grundmotive, wie der Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Sportgruppe, einerseits durch die unregelmäßige zeitliche Verfügbarkeit erschwert ist. Andererseits stehen der intrinsischen Motivation zur Durchführung von Individualsportarten die Erschöpfung in Folge von Arbeitsbelastungen sowie der Wunsch nach Regeneration gegenüber.

Ernährungs- und Trinkverhalten

Die Aussagen zum Ernährungs- und Trinkverhalten ließen sich in die Kategorien „Einschätzung über das Ernährungs- und Trinkverhaltens“ und „Arbeitseinflüsse auf das Ernährungs- und Trinkverhalten“ unterteilen.

Die Expert*innen beschrieben das Ernährungsverhalten ambulanter Pflegekräfte als unterschiedlich, eine Bewertung der Ernährungsqualität erfolgte nicht. Das Trinkverhalten hingegen wurde als „eher schlecht“ beurteilt. Trinkmengen wurden insgesamt als zu gering eingeschätzt. Der Konsum koffeinhaltiger Getränke galt als favorisiert. Als berufliche Faktoren, welche das Ernährungs- und Trinkverhalten ambulanter Pflegekräfte beeinflussen, hoben die Expert*innen das mobile Setting und die Patienten hervor. Laut den Expert*innen werden unzureichende Trinkmengen bei den Beschäftigten durch die limitierte Verfügbarkeit von Toiletten unterwegs begünstigt:

AP: […] ich weiß auch, dass Pflegekräfte sagen, sie können nicht so viel trinken. Sie wissen nicht, wo sie auf Toilette gehen können. Natürlich können sie reinkommen ins Büro und so weiter. Aber das machen die nicht. Also trinken sie eher nichts.

Hinzu wies die Leitung eines ambulanten Pflegedienstes explizit darauf hin, dass die Pausenzeiten und Räumlichkeiten der Pflegebetriebe von den Beschäftigten zur Mahlzeiteneinnahme genutzt werden. Einige Beschäftigte nehmen ihre Mahlzeiten dennoch im Auto bei der Fahrt zu sich:

AP: […] es gibt Pausenzeiten. Das heißt, die Büros sind mittags gefüllt mit Mitarbeitern, die dort ihre Mahlzeiten zu sich nehmen. Klar gibt es welche, die […] unterwegs im Fahren dann etwas essen […].

Ergänzend wurde festgestellt, dass bei der Einnahme von Mahlzeiten im Auto häufig Snacks und Süßigkeiten verzehrt werden. Eine Pflegeleitung merkte an, dass es als Zeichen der Dankbarkeit eine übliche Geste von Patienten und deren Angehörigen sei, Süßigkeiten an die Pflegekräfte zu verschenken. Die Bereitstellung ungesunder Lebensmittel fördere deren Verzehr durch die Beschäftigten. Auf die Geschenke der Patienten Einfluss zu nehmen, erachteten die Expert*innen als komplex:

AP: Und dann haben wir diese klassische Phase, Zustand nach Frühdienst, […], völlig ausgehungert und nun liegt die [Schokolade] da. […] wir können […] unseren Kunden nicht sagen, wir möchten gerne […] Nüsschen statt Schokolade. [lachen]

Rauchen

Es wurde deutlich gemacht, dass sich das Rauchverhalten innerhalb der Pflegebetriebe in den vergangenen Jahrzehnten bereits verbessert hat:

BV: […] vor zwanzig Jahren, da bin ich in den Pflegedienst reingekommen, da schlug einem […] eine Wolke entgegen, das ist […] heutzutage nicht mehr so. […] in der Mitte war so ein Riesen-Aschenbecher, wo alle schnell […] geraucht [haben]. […] ich glaube, das gibt es nicht mehr.

Stressbelastung

Die Expert*innen charakterisierten ambulante Pflegekräfte als psychisch stark belastet. Von stressreduzierenden Verhaltensweisen der Beschäftigten wurde nicht berichtet. Die Aussagen zum Thema „Stressbelastung“ wurden der Kategorie „stressfördernde Faktoren“ zugeordnet.

Für „stressfördernde Faktoren“ wurden „Termin- und Leistungsdruck“, „Überforderung“ und „emotionale Bindung zum Patienten“ als Unterkategorien ermittelt. Eine Verbandsvertretung verwies darauf, dass Termin- und Leistungsdruck als Belastungsfaktoren für ambulante Pflegekräfte gelten. Dennoch sind Pflegebetriebe als Wirtschaftsunternehmen auf die Produktivität der Beschäftigten angewiesen, sodass der Arbeitgebende bei der Tourendisposition zwischen der Profitabilität für den Betrieb und der Zumutbarkeit für die Beschäftigten abwägen muss. In der Praxis gelingt dies nicht immer, wodurch ambulante Pflegekräfte unter Termindruck gesetzt werden. In Einzelfällen wird laut einer Verbandsvertretung den Beschäftigten mit unbezahlten Überstunden gedroht:

BV: […] bei der Tourendisposition fängt das Ganze ja an. […] Ich habe das von Pflegediensten gehört, die sagen: „Ja, da musst du aber beim Nächsten immer in zehn Minuten sein. Und wenn du das nicht schaffst, […] dann wird es dir von der Zeit abgezogen.“ […] (AP: „Ich wüsste jetzt einen.“) […] man kriegt da manchmal so Absonderlichkeiten mit, das kann nicht wahr sein.

Ein erhöhtes Verkehrsaufkommen stehe laut einer Pflegeleitung zudem der Erwartungshaltung der Patienten gegenüber, dass Pflegekräfte Pünktlichkeit bewahren. Verzögerungen beim Transport und der infolgedessen entstehende zeitliche Engpass können dazu führen, dass die Beschäftigten nicht gewillt sind, Pausenzeiten einzuhalten:

AP: […] sie machen oft ihre Pause nicht, wollen es gar nicht. […] wir verpflichten sie eigentlich dazu […].

Eine Verbandsvertretung ergänzte, dass krankheitsbedingte Ausfälle den Termin- und Leistungsdruck erhöhen. Durch Erkrankungen erforderliche Ersatzdienste und Zusatzarbeiten wurden als große Belastung für ambulante Pflegekräfte identifiziert. Da die Patienten versorgt werden müssen, ist es seitens der Arbeitgebenden eine Einstellungsvoraussetzung die Beschäftigten kurzfristig einberufen zu können. Die Gewissheit darüber erschwert es den Pflegekräften in der Freizeit abzuschalten und auch der Eintrittsfall sorge, nach Aussage eines Experten, für Frustration:

BV: X ist krank geworden, hat aber gerade erst Bescheid gesagt. Ja, danke schön, hättest du auch gestern Abend sagen können. […] und wer macht das jetzt eigentlich? Natürlich macht das jemand. […] der Job muss gemacht werden. Die Patienten müssen versorgt werden. Das ist immer die Einstellungsvoraussetzung […], die mentale und auch die vom Arbeitgeber. […] Das sind viele Faktoren, die da auf einen drücken.

Die Verbandsvertretung argumentierte zudem, dass der Fachkräftemangel in der Pflege hierbei eine zusätzliche Rolle spielt, wodurch fehlendes Personal nicht ersetzt werden kann. Oftmals besteht nur die Möglichkeit Zusatzarbeit auf mehrere Beschäftigte zu verteilen, was wiederum die Terminvergabe mit den Patienten erschwert und für eng getaktete Touren sorgt. In Folge der vielseitigen und stetigen Belastungen stellte eine Verbandsvertretung fest, dass insbesondere Berufseinsteiger in der Pflege leicht von dem Anforderungsprofil ihres Berufs überfordert werden. Bewältigungsstrategien sind den Expert*innen nach im Umgang mit erlebtem Termin- und Leistungsdruck wichtig, um der Überforderung der Beschäftigten vorzubeugen.

BV: Wie kriege ich da überhaupt Entspannung rein […]? Dass ich sage, ja gut, dann ist das eben zehn Minuten später […] und ich muss nicht immer in dieser Alarmstimmung unterwegs sein. Hilfe, ein Notfall, ich muss da hin […]. Und da bin ich heilfroh, wenn dann die Schicht vorbei ist […].

Eine Pflegedienstleitung der ambulanten Intensivpflege ergänzte, dass auch zwischenmenschliche Aspekte eine Rolle spielen. Insbesondere bei der Eins-zu-eins-Betreuung kann das Entstehen einer emotionalen Bindung zum Patienten Stressbelastung verursachen:

AP: […] der Mitarbeiter [ist] vor Ort […] und kriegt alles mit, was er nicht wissen will. […] auch umgekehrt gibt er zwangsläufig […] was von sich Preis. Da ist […] Distanz-Nähe-Verschiebung eben das große Thema und das macht natürlich Stress. Ich hatte jetzt gerade wieder den Fall, dass eine Mitarbeiterin […] sich den Klienten zu dicht rangeholt hat und dann irgendwann ist es eskaliert und dann war auch die Erde so verbrannt, dass sie da nicht mehr eingesetzt werden konnte.

Betriebliche Gesundheitsförderung

Aussagen der Expert*innen zur BGF bezogen sich auf bereits verfügbare Maßnahmen sowie wünschenswerte Umsetzungsideen für zukünftige Programme. Alle genannten Maßnahmen der BGF wurden gelistet (Anhang, Tab. 4). Diese deckten die untersuchten Gesundheitsthemen ab und wurde den Kategorien „Verhaltensprävention“ (auf das individuelle Verhalten abzielend) und „Verhältnisprävention“ (auf gesundheitsförderliche Arbeitsstrukturen abzielend) zugeordnet.

Verhaltensprävention

Mit individuellen Beratungen, Kursen, betriebsinternen Veranstaltungen zur Teambildung sowie Mentorenprogrammen liegt laut Expert*innen auf der verhaltenspräventiven Ebene ein vielseitiges Angebot an Maßnahmen für BGF vor. Seminare zur gesunden Ernährung, individuelle Ernährungsberatungen, Raucherseminare sowie Kurse zu Stressbewältigung und Resilienz werden bereitgestellt. Weiterhin verfügen viele Pflegedienste über Kooperationen mit Fitnessstudios und Sportvereinen, wodurch eine vergünstigte Teilnahme an Sportprogrammen ermöglicht wird. Eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur soll gefördert werden. Eine Pflegedienstleitung beschrieb, dass wöchentlich ein gemeinsames Frühstück angeboten und ein Obstkorb mit frischem, kostenlosem Obst zur Verfügung gestellt wird. Eine Gummibärchenschale, welche in der Vergangenheit am Empfang stand, wurde durch Weintrauben ersetzt und den Beschäftigten werden Supplemente angeboten:

AP: Wir kaufen dann noch Vitamin C. Also nicht nur Obst, sondern Vitamin C in Tees oder in Pulverform […]. Wer mag, kann das nehmen. […] ernährt euch gesund […] und tu was Gesundes für dich und uns ist es wichtig.

Weiterhin erhalten Beschäftigte, welche die Strecken zwischen den Patienten mit dem Fahrrad zurücklegen möchten, eine Fahrradausrüstung. Eine Pflegedienstleitung erläuterte, dass in den Diensträumen des Pflegediensts zeitweise wöchentlich Massagen sowie Kurse zu Yoga und aktiver Rückenschule angeboten wurden. Veranstaltungen zur Teambildung, wie gemeinsame Sportgruppen und Fahrradtouren, werden vom Betrieb organisiert. Um Berufseinsteigern im Umgang mit den vielseitigen Arbeitsbelastungen zu unterstützen, werden erfahrene Pflegekräfte betriebsintern als Mentoren zur Seite gestellt.

Verhältnisprävention

Den Einbezug verhältnispräventiver Maßnahmen erachteten die Expert*innen ebenfalls als wichtig und fokussierten hierbei verstärkt auf die Dienstplangestaltung. Eine Pflegedienstleitung berichtete, dass zur Gewährleistung von freien Tagen, Dienstpläne mit Rufbereitschaft und Schichten an maximal 5 aufeinanderfolgenden Arbeitstagen je Beschäftigten eingeführt wurden. Sofern möglich, sollte ein Mitspracherecht bei der Dienstplangestaltung eingeräumt werden:

AP: […] da ist halt das einzige Steuerungsinstrument wirklich, den Mitarbeitern einen gewissen Freiraum bei der Dienstplangestaltung mit einzuräumen, […] die müssen da […] ein Mitspracherecht haben. Und möglichst […] Festwünsche, […] die […] immer bestehen […], sonst hast du irgendwann die Krankmeldung auf dem Tisch.

Auch Reglementierungen, wie ein Rauchverbot im Auto, finden als gesundheitsfördernde Rahmenbedingung Anwendung.

Hindernisse und Herausforderungen betrieblicher Gesundheitsförderung

Folgend werden Anmerkungen der Expert*innen zu berufsgruppenspezifischen Besonderheiten dargestellt, welche sich bei der Entwicklung und Implementierung von Maßnahmen der BGF potenziell als Hindernisse und Herausforderungen auswirken können. Die Aussagen der Expert*innen konnten den Kategorien „hinderliche Arbeitsbedingungen“, „Perspektive der Arbeitgebenden“ und „Einflussfaktoren auf die Teilnahmebereitschaft der Beschäftigten“ zugeordnet werden.

Hinderliche Arbeitsbedingungen

Die Aussagen zu den hinderlichen Arbeitsbedingungen ließen sich in die Kategorien „Arbeitszeiten und -plätze“ und „arbeitsbezogene Vorteile durch schlechtes Gesundheitsverhalten“ unterteilen. Eine grundlegende Herausforderung für BGF in der ambulanten Pflege sind laut Expert*innen die unterschiedlichen Arbeitszeiten im Schichtsystem und die Arbeit außerhalb des Betriebs. Es ist schwierig, Angebote so zu gestalten, sodass diese für alle Beschäftigten gleichermaßen nutzbar sind. Weiterhin kann ein nachteilhaftes Gesundheitsverhalten die Arbeitsbedingungen vorteilhaft beeinflussen. Eine Pflegedienstleitung merkte an, dass ambulante Pflegekräfte zeitliche Entlastungen durch das Auslassen von gesetzlich vorgeschriebenen Pausen schaffen. Regelmäßiges Rauchen wiederum kann einer Verbandsvertretung zu Folge als Vorwand zur Gewinnung zusätzlicher Pausenzeiten angewendet werden.

Perspektive der Arbeitgebenden

Um die erfolgreiche Implementierung von Maßnahmen der BGF zu gewährleisten, ist die Unterstützung seitens der Arbeitgebenden notwendig. Eine Pflegedienstleitung verwies darauf, dass Arbeitgebende grundsätzlich eher positiv gegenüber BGF eingestellt sind, da sich durch Gesundheitsförderung eine Verringerung der Krankentage erhofft wird. Nichtsdestotrotz wurden unter den Kategorien „Wirtschaftlichkeit“ und „Verantwortung für Gesundheit“ Perspektiven identifiziert, welche bei der BGF-Umsetzung Hindernisse darstellen können. Eine Verbandsvertretung verdeutlichte, dass der Pflegebetrieb als Wirtschaftsunternehmen finanzielle und leistungsorientierte Interessen vertritt:

BV: Ich versuche […], dass ich meine Dienste vollkriege, dass ich […] das mit meinem begrenzt vorhandenen Pflegepersonal auf die Reihe bekomme. Dann kann es sehr schnell dazu kommen, dass […] das Gesundheitsverhalten […] eine Randerscheinung ist für mich, […] die Gesundheit meiner Pflegekräfte […] nicht erste Priorität der Leitungsebene ist, definitiv nicht.

Daraus resultiert, dass Maßnahmen der BGF meist auf freiwilliger Basis in der Freizeit angeboten werden. Außerdem wird seitens des Arbeitgebenden die Verantwortung für den Lebensstil bei den Beschäftigten selbst gesehen:

AP: Ich kann Bereitschaft schaffen, aber ich kann die [Beschäftigten] nicht umerziehen. Wenn sich jemand von Cola und Pommes ernähren will, dann kann ich das auch nicht ändern. Will ich auch nicht.

Bei Belastungen, welche wie Stress und Rückenbeschwerden auf den Arbeitsbedingungen beruhen, bekam eine Verbandsvertretung von Pflegekräften zurückgespiegelt, dass dort die Verantwortung beim Arbeitgebenden liegt:

BV: […], dass man da gar nicht […] mit „Wir machen einen Kurs Stressmanagement“ […] komm[t], weil […] die Pflegekräfte […] in Interviews gesagt haben: „Die Verantwortung liegt da wieder bei mir, aber eigentlich ist es Aufgabe des Arbeitgebers, mir […] Verhältnisse zu schaffen, dass ich eben nicht diese Stressbelastung habe.“

Einflussfaktoren auf die Teilnahmebereitschaft der Beschäftigten

Weitere Einflussfaktoren, welche die Teilnahmebereitschaft der Beschäftigten hemmen, sammelten sich in den Themengebieten „Bewusstsein und Motivation für BGF“ und „Heterogenität der Berufsgruppe“.

Den Expert*innen zufolge fehlt vielen Beschäftigten das Bewusstsein, dass Gesundheit und demzufolge Gesundheitsförderung für ein langes Berufsleben wichtig sind. Vergangene und aktuelle Angebote wurden nur von jenen Pflegekräften angenommen, welche „von sich aus schon ein eigenes Bewusstsein dafür (Wichtigkeit von Gesundheit) haben“. Da es den Beschäftigten obliegt, ob BGF-Maßnahmen in der Freizeit genutzt werden, präferieren jene ohne Bewusstsein die Erfüllung anderer Bedürfnisse:

BV: Wenn dann die Frage kommt: „Nutzen Sie das auch?“ […] – „Nein, wenn ich nach Hause komme, lege ich doch lieber schnell die Füße hoch, als dass ich noch irgendwo ins Fitnessstudio gehe“.

Laut Expert*innen bedarf es zusätzlichen Anreizen zur Steigerung der Motivation. Damit BGF nicht als Zusatzbelastung wahrgenommen wird, stellt die Verpflichtung zur Teilnahme keine zielführende Option dar. Pflegekräfte sind verschiedener Herkunft, Ethnien und Altersklassen und unterscheiden sich in ihren Wünschen und Erwartungen hinsichtlich BGF, wodurch eine zielgruppenspezifische Gestaltung der Maßnahmen erschwert ist. Weiterhin berichteten die Expert*innen, sowohl durch kostenlose Kursangebote als auch bei der Auszahlung von Teilnahmeboni bereits auf Verwunderung seitens Beschäftigter mit Migrationshintergrund gestoßen zu sein. Die Wahrnehmung darüber, inwiefern der Arbeitgebende für die Gesundheit der Beschäftigten verantwortlich ist, scheint sich ebenfalls vor dem kulturellen Hintergrund zu unterscheiden.

Lösungsstrategien

Die Aussagen zu Lösungsstrategien im Umgang mit Hindernissen und Herausforderungen resultierten in den Kategorien: „Pflegedienstleitungen als Erfolgsfaktoren“, „Motivation schaffen“, „Partizipation bei der Entwicklung von Maßnahmen“ und „E-Health“.

Pflegedienstleitungen nehmen eine Vorbildfunktion ein und stellen somit einen wichtigen Faktor für die erfolgreiche Implementierung von BGF dar:

AP: Wenn die Leitung es macht, zeigt es, dass es wichtig ist. […] Und ich glaube, dass […] gerade auf die jüngeren Kollegen, die hinten nachkommen, die müssen das gleich […] sehen, dass es […] eine Rolle spielt.

Somit ist es notwendig, eng mit den Leitungsebenen der Pflegebetriebe zusammenzuarbeiten. Eine gemeinsame systematische Betrachtung der krankheitsverursachenden Belastungsfaktoren kann zudem das Bewusstsein der Führungskräfte darüber stärken, welche Veränderungen im Betriebsablauf die Gesunderhaltung positiv beeinflussen können. Weiterhin können laut den Expert*innen die wiederholte Initiierung zur Teilnahme durch die Pflegedienstleitungen, die Belegung von Weiterbildungskursen mit Arbeitszeit und zielgruppenspezifische Incentives bei den Beschäftigten als extrinsische Motivatoren fungieren. Nichtsdestotrotz sei es empfehlenswert, die Pflegekräfte in die Entwicklung der BGF-Maßnahmen einzubeziehen. Eine Pflegedienstleitung argumentierte, dass der persönliche Lebensstil eine autonome Entscheidung ist. Um die Teilnahmebereitschaft der Pflegekräfte an der BGF zu steigern, könnte ein partizipativer Ansatz bei der Entwicklung von Maßnahmen förderlich sein. Die Expert*innen befürworteten, die Themen Digitalisierung und E‑Health tiefergehend zu betrachten. Für das mobile Setting der ambulanten Pflege stelle Gesundheitsförderung im Rahmen von E‑Health eine naheliegende Option dar. Um ältere, wenig technikaffine Pflegekräfte zu erreichen, wären jedoch andere Maßnahmen notwendig.

Diskussion

Nach unserem Kenntnisstand ist dies bislang die erste Studie, welche Gesundheitsverhalten und -förderung sowie Hindernisse, Herausforderungen und Lösungsstrategien für die Entwicklung und Implementierung von Maßnahmen der BGF für ambulante Pflegekräfte explorativ untersucht. In der Fokusgruppe mit Expert*innen aus der Pflege wurde in Hinsicht auf das Gesundheitsverhalten der Beschäftigten explizit in den Bereichen Ernährungs- und Trinkverhalten, körperliche Aktivität und Stressbelastung weitestgehend von arbeitsbedingten Einschränkungen berichtet. Die hohen körperlichen und mentalen Belastungen der Pflegekräfte sowie die finanziellen und leistungsorientierten Interessen der Pflegebetriebe als Wirtschaftsunternehmen stehen der BGF als Hindernis gegenüber. Zur erfolgreichen Umsetzung von Maßnahmen der BGF können Pflegedienstleitungen in ihrer Rolle als Vorbildfunktion sowie extrinsische Anreize eine Schlüsselrolle einnehmen.

Die Arbeitsbedingungen in der ambulanten Pflege können sich negativ auf das Gesundheitsverhalten der Beschäftigten auswirken

Durch die Expert*innen erfolgte zumeist keine direkte Beurteilung des Gesundheitsverhaltens ambulanter Pflegekräfte, nichtsdestotrotz verdeutlichten deren Aussagen, dass die Aufrechterhaltung gesundheitsförderlicher Verhaltensweisen für ambulante Pflegekräfte durch die Arbeitsbedingungen erschwert ist. Beispielsweise sind die Beschäftigten aufgrund der limitierten Verfügbarkeit von Toiletten unterwegs in ihrer Flüssigkeitszufuhr gehemmt. Trinkmengen werden während der Arbeitszeit reduziert, da die Rückkehr in den Pflegedienst zur Verrichtung der Notdurft gleichbedeutend mit Zeitverlust ist. Beispiele für solch zeitersparende Bewältigungsverhalten, wie das bewusste Auslassen von Pausen und die Einnahme von Mahlzeiten im Auto [16], scheinen bei ambulanten Pflegekräften vermehrt aufzutreten. Im beruflichen Umfeld haben Termin- und Leistungsdruck somit wesentlichen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten ambulanter Pflegekräfte [13]. Bei stationären Pflegekräften wurde die Assoziation von Termin- und Leistungsdruck mit dem Burnout-Syndrom dokumentiert [6]. Wirth et al. [29] ermittelten zum Gesundheitsstatus und -verhalten von Auszubildenden in der Alten- und Krankenpflege, dass die Prävalenz von Übergewicht und Rauchen im Vergleich zum Durchschnitt der deutschen Bevölkerung erhöht war. Weiterhin gaben 73,1 % der Befragten Altenpfleger an, in der Woche weniger als 2 h körperliche Aktivität zu betreiben, 40,8 % gingen ungesunden Ernährungsweisen nach und weitere 40,8 % verfolgten einen gefährlichen Alkoholkonsum. Die Schlussfolgerungen der Expert*innen für ambulante Pflegekräfte basieren teilweise auf vergleichbaren Annahmen. Um diese zu bestätigen, detailliertere Erkenntnisse zu generieren sowie neue Ansatzpunkte für die BGF zu identifizieren, werden zukünftig systematische quantitative Basiserhebungen zum Gesundheitsverhalten benötigt. Zudem sollten die Gesundheitskompetenzen untersucht werden, da diese einen maßgeblichen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten ambulanter Pflegekräfte haben können [11]. Es bleibt festzuhalten, dass der Bedarf an BGF durch die Expert*innen verdeutlicht wurde.

Die körperlichen und mentalen Arbeitsbelastungen limitieren die Bereitschaft der ambulanten Pflegekräfte für die Teilnahme an BGF

Während der Fokusgruppe wurde eine Vielzahl verhaltens- und verhältnispräventiver Maßnahmen BGF in der ambulanten Pflege genannt (Anhang, Tab. 4). Gleichwohl blieben laut der Expert*innen die Angebote in der Vergangenheit zu häufig ungenutzt. Neben hinderlichen Berufsbedingungen für die erfolgreiche BGF-Umsetzung, wie variierende Schichtzeiten und das mobile Arbeitssetting, wurde v. a. die mangelnde Teilnahmebereitschaft der ambulanten Pflegekräfte als Herausforderung hervorgehoben. Geringe Teilnahmequoten an Maßnahmen zur Förderung der körperlichen Aktivität wurden auf die limitierte Gewissheit bei der Freizeitplanung und mangelnde Motivation infolge der Erschöpfung vom Arbeitstag zurückgeführt. Letzteres geht mit Ergebnissen von Zeiher et al. [30] einher, welche bei weiblichen Beschäftigten eine starke Assoziation zwischen Freizeitaktivität und beruflicher körperlicher Aktivität nachwiesen. Frauen, welche in ihrer Freizeit keine körperliche Aktivität betrieben, hatten zugleich eine schlechte kardiorespiratorische Fitness, insbesondere wenn sie in einem körperlich anstrengenden Berufsfeld wie der Pflege arbeiteten.

Für nachhaltige BGF müssen verhaltens- und verhältnispräventive Maßnahmen sowohl zielgruppen- als auch branchenspezifisch sein

Das Beispiel zur Teilnahmebereitschaft verdeutlicht, dass in der ambulanten Pflege verhaltenspräventive Maßnahmen allein nicht ausreichen. Es werden ganzheitliche Programme der BGF benötigt, welche sowohl auf das Verhalten der Beschäftigten, als auch auf die Verhältnisse, wie Arbeitsbedingungen und -organisation, abzielen [19]. In der Vergangenheit wurde gezeigt, dass so, neben der Risikoreduzierung für gesundheitsgefährdende Beanspruchungsfolgen, auch die Produktivität und Anwesenheit der Beschäftigten verbessert werden können [22, 24]. Die Verantwortung für die Gesundheit der ambulanten Pflegekräfte wird je nach Gesundheitsthema unterschiedlich verortet. Da der arbeitsbezogene Stress primär von den Arbeitsbedingungen abhängt [13], werden die Betriebe von den Beschäftigten in der Handlungsverantwortung gesehen. Insbesondere durch Optimierung und Anpassung von Schicht‑, Touren- und Pausenzeitplanung kann verhältnispräventiv für Entlastung gesorgt werden [19]. Als Basis für Selbstbestimmtheit und Selbstständigkeit im Umgang mit der eigenen Gesundheit, verorteten die Expert*innen die Verantwortung für Ernährung, körperliche Aktivität und Rauchen bei den Beschäftigten. Nichtsdestotrotz sind die Betriebe neben der Bereitstellung gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen auch dazu verpflichtet, einen gesundheitsgerechten Lebensstil der Beschäftigten zu unterstützen [7]. Einhergehend mit dem Arbeitsschutzgesetz zur Umsetzung betrieblicher Gesundheitsförderung sollten Maßnahmen bedarfsbezogen und unabhängig vom arbeitsrechtlichen Status offenstehen, um auch Beschäftigte mit sozialer Benachteiligung und geringeren Gesundheitschancen anzusprechen. Bei der Bereitstellung von Maßnahmen muss zudem vermehrt auf die Wünsche der heterogenen Berufsgruppe der Pflegekräfte eingegangen und identifiziert werden, wie die Motivation zur Teilnahme gestärkt werden kann. Um frühzeitig das Bewusstsein für die Notwendigkeit von BGF zu wecken und Nachhaltigkeit zu schaffen ist es empfehlenswert, gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen und Grundlagen der BGF bereits in der Pflegeausbildung einzuführen und zu etablieren. Insbesondere für technikaffine Berufseinsteiger könnten die Digitalisierung von Arbeitsabläufen und E‑Health-gestützte Gesundheitsförderung zukünftig Lösungen für das mobile Setting der ambulanten Pflege bieten [19]. Die Entwicklung solch innovativer Interventionsprogramme mittels partizipativen Ansatzes stellt sicher, dass BGF zielgruppenspezifisch ist und infolgedessen für eine erhöhte Teilnahmebereitschaft sorgt [1]. Das Mitwirken an der Verbesserung bestehender Angebote und Entwicklung neuer Maßnahmen beherbergt zudem das Potenzial einer verbesserten Einbettung von Angeboten in den Berufsalltag.

Stärken und Limitationen

Eine Stärke dieser Studie ist es, dass die Sicht von Expert*innen der Pflegewissenschaft, Wirtschaft und Berufsverbänden in einer heterogenen Stichprobe (Alter, Arbeitserfahrung etc.) abgefragt wurde. Die unterschiedlichen Perspektiven der Teilnehmer wurden festgehalten und Themen von Interesse identifiziert. Für das explorative Vorhaben neue Erkenntnisse zu generieren, erwies sich die Erhebungsmethode als geeignet. Transkription nach Dresing und Pehl [8] und die Auswertung gemäß qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring [17] fanden unter strenger Anwendung wissenschaftlicher Richtlinien statt. Die Internationale COREQ-Checkliste [26] wurde zur Erhöhung der internen Validität verwendet, die Ergebnisse mit Zitaten aus der Fokusgruppe dargestellt und wo möglich mit empirischer Evidenz belegt.

Eine der größten Stärken und Limitationen zugleich ist es, dass keine Beschäftigten unterhalb einer Leitungsposition für die Fokusgruppe berücksichtigt wurden. Die Zusammensetzung aus Expert*innen erlaubte es insbesondere Erkenntnisse aus struktureller und betrieblicher Perspektive zu gewinnen, birgt jedoch die Gefahr, dass die Interessen der heterogenen multiethnischen Beschäftigtengruppe geringe Beachtung fanden. Weiterhin kann der Auswahlprozess der Teilnehmer, welcher u. a. auf Empfehlungen stattfand, zu Verzerrungen geführt haben. Alle partizipierenden Expert*innen stammten aus der Hamburger Pflegebranche, die Ergebnisse könnten sich somit für andere Städte und v. a. ländlichere Regionen Deutschlands unterscheiden. Es besteht die Möglichkeit, dass das Antwortverhalten der Befragten aufgrund sozialer Erwünschtheit und mangelnder Anonymität zu Mitbefragten sowie Interviewer beeinflusst wurden. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des anstehenden Fachkräftemangels entsteht zudem ein zeitlicher Kontext. Mit dem Ziel Beschäftigte langfristig zu binden, kann sich seitens der Arbeitgebenden in der Pflege ebenfalls die Bereitschaft verändert haben, verbesserte Arbeitsbedingungen sowie Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung anzubieten.

Fazit für die Praxis

  • Zur Reduzierung der Stressbelastung ambulanter Pflegekräfte sollten verhältnispräventive Maßnahmen, wie die Optimierung von Schicht‑, Touren- und Pausenzeitplanung herangezogen werden.

  • Damit verhaltenspräventive Angebote frequentierter genutzt werden, müssen die Beschäftigten für die Notwendigkeit von betrieblicher Gesundheitsförderung (BGF) für ihre Gesundheit sensibilisiert werden. Auch der partizipative Einbezug der ambulanten Pflegekräfte in die fortlaufende Optimierung bestehender Angebote und Entwicklung neuer Maßnahmen der BGF kann hierbei unterstützen.

  • Um die aktuelle Evidenz zu stärken und zusätzliche Ansatzpunkte für die BGF in der ambulanten Pflege zu identifizieren, braucht es systematische, qualitative und quantitative Basiserhebungen zu den Gesundheitskompetenzen und zum Gesundheitsverhalten, insbesondere zu den Themen „Stressbelastung“, „Regeneration“, „Ernährungsverhalten“, „körperliche Aktivität“ und „Rauchen“.