Relevanz und Hintergrund

Es ist zu beobachten, dass im Laufe der letzten Jahre die Anzahl stressbedingter psychischer Erkrankungen drastisch zunahm, wie beispielsweise eine Veröffentlichung der AOK [1] zeigt: zwischen den Jahren 2006 und 2016 war ein 54 %iger Anstieg der psychisch bedingten Krankmeldungen zu verzeichnen. Die damit einhergehenden Ausfalltage stiegen sogar um 79 % an. Damit nehmen psychische Erkrankungen den zweiten Platz bei den häufigsten Krankheitsarten ein. Diese werden nur noch übertroffen von Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, welche sich häufig auch auf psychische Ursachen zurückführen lassen [3, 24, 37]. Im Gesundheitsbereich zeigt sich eine Verschiebung der Krankheitsschwerpunkte in den Industrieländern. Es gibt weniger akute Erkrankungen, Notfälle oder akute Infektionsprobleme. Stattdessen sieht man mehr chronische Erkrankungen wie Diabetes, orthopädische Erkrankungen, kardiovaskuläre Erkrankungen wie erhöhten Blutdruck, pulmonale Erkrankungen wie bspw. Asthma oder Allergien bzw. Essstörungen in allen Varianten, wobei die Gewichtszunahme hier im Vordergrund steht [40]. Die Verschiebung des Augenmerks auf psychische Erkrankungen seitens der Krankenkassen ist sicherlich auch dieser Verschiebung der Krankheitsschwerpunkte geschuldet. Die zu beobachtende Entwicklung scheint nicht zu geringen Anteilen dem anhaltenden strukturellen Wandel der Arbeitswelt (u. a. neue Technologien, digitale Medien, Entgrenzungsprozesse) geschuldet zu sein, welcher einen Anstieg psychischer Arbeitsanforderungen mit sich bringt [2, 16, 18, 31]. Die Anforderungen an Reaktionsgeschwindigkeiten nehmen stetig zu, erforderliche Reaktionen auf Überforderungssituationen fallen zunehmend schwerer, es besteht weniger Zeit und Bewusstsein für eine ausreichende Regeneration, Zeit‑, Existenz- und Sozialdruck machen sich zunehmend in psychischer sowie physiologischer Symptomatik bemerkbar [33]. Chronischer Stress kann demzufolge zur Verursachung unterschiedlicher Erkrankungen und somatischer Störungen beitragen. McEwen [25] prägte in diesem Zusammenhang den Begriff „allostatic load“ als zu schwere oder zu lang andauernde Anhäufung von belastenden Faktoren. Um mit Stress erfolgreich umzugehen, ist es deswegen wichtig, entsprechende Bewältigungsfähigkeiten i. S. von „Resilienzmechanismen“ zu entwickeln. Resilienz zeigt sich insbesondere in der Anpassungsfähigkeit eines Individuums an eine Belastungssituation oder Krise und ist ebenso als Ergebnis eines kontinuierlichen Anpassungs- und Lernprozesses in Relation zum Belastungserleben zu sehen, wobei sowohl verhaltensbezogene als auch somatische Prozesse involviert sind [17, 19, 20].

Verhaltensbezogene Facetten von Resilienz

Der Begriff „Resilienz“ entstammt dem englischen Wort „resilience“ und kann mit „Spannkraft, Widerstandsfähigkeit, Elastizität“ übersetzt werden [30]. Existierende psychologische Ansätze zur Modellierung und Erfassung von Resilienz unterscheiden sich so meist darin, ob sie das genannte Konstrukt als ein spezifisches Persönlichkeitsmerkmal betrachten [4] bzw. als Maß für eine globale Stressbewältigungsfähigkeit ansehen [7, 9] oder ob sie zur Messung ein Konglomerat aus empirisch belegten Schutzfaktoren heranziehen [30, 39]. Weiterhin wird Resilienz als ein multidimensionales und situationsspezifisch variierendes Konstrukt angesehen. Ausgehend von einem verhaltensbezogenen Ansatz werden in diesem Zusammenhang akkommodative und assimilative Prozesse als wesentliche Grundprozesse der Entwicklungsregulation und Bewältigung unterschieden [21, 26]. Während akkommodative Verhaltensweisen es dem Individuum erleichtern, sich und seine Ziele an die bestehenden Handlungsmöglichkeiten anzupassen, verfolgen assimilative Verhaltensweisen das Ziel, gegebene Lebens- und Entwicklungsbedingungen zugunsten der eigenen Ziele zu verändern. Neben diesen beiden Prozessen werden defensive Verhaltensweisen angenommen, welche es dem Individuum ermöglichen, sich gegen die Erwartungen anderer abzugrenzen und bei seinen eigenen Zielvorstellungen zu verweilen [5, 6, 21]. Basierend auf dem verhaltensbezogenen Ansatz nach Brandstätter et al. [5, 6] verwenden wir in unserem Beitrag eine selbstauskunftsbezogene Operationalisierung von Resilienz, welche die drei nachfolgenden verhaltensbezogenen Facetten unterscheidet [13, 15]:

  • Verhaltensflexibilität („Flexibilität“): Reagieren auf verschiedene Situationen und deren Erfordernisse sowie Zurückstellen eigener Interessen und Ziele.

  • Veränderungsoffenheit („Dynamik“): Initiieren von Veränderungen, wo sie notwendig oder wünschenswert erscheinen, und sich ggf. trennen von Althergebrachtem.

  • Beharrungstendenz („Resistenz“): Abgrenzen gegen Erwartungen und Wünsche anderer und sich auf seine eigenen Bedürfnisse und Ziele fokussieren.

So steht die Verhaltensflexibilität im Wesentlichen dafür, auf externale Erfordernisse zu reagieren und wenn nötig die eigenen Interessen und Ziele zurückzustellen. Die Beharrungstendenz kann hierzu als Gegenpol gesehen werden, indem es um Abgrenzung gegen externe Erwartungen bei gleichzeitiger Fokussierung auf die eigenen Bedürfnisse und Ziele geht. Eine Extremausprägung auf einem der beiden Pole wird auf Dauer als maladaptiv angenommen. Veränderungsoffenheit kann hier als Regulativ gesehen werden, um sich situationsangemessen auf dem Kontinuum zwischen den Polen Anpassung und Resistenz bewegen zu können [32].

Somatische Facetten von Resilienz

Abgesehen von verhaltensbezogenen Facetten von Resilienz lassen sich somatische Aspekte einer stressbezogenen Anpassungsfähigkeit beschreiben. Resilienz kann hierbei aus medizinischer Sicht als Selbstregulationsfähigkeit des Organismus verstanden werden, welche durch seinen weitgehend unbewussten und unwillkürlichen Anteil, dem autonomen (vegetativen) Nervensystem (ANS), erfolgt und durch welche u. a die Vitalfunktionen wie Atmung, Blutdruck, Körpertemperatur, Stoffwechsel oder Schlaf gesteuert und aufrechterhalten werden. Sie hat aber auch einen entscheidenden Einfluss auf unser menschliches Sozial- und Kommunikationssystem [27, 28]. Dem ANS, welches u. a. das kardiale System steuert und reguliert, kommt im Zusammenhang mit der Stressregulation eine besondere Bedeutung zu, da es situationsbezogen und schnell auf externale sowie internale Stressoren weitgehend ohne willentlichen Einfluss reagiert. Das ANS wird funktional weiter untergliedert in das sympathische sowie das parasympathische Nervensystem.

Die Differenzierung des ANS in seine sympathischen bzw. aktivierenden sowie parasympathischen bzw. beruhigenden Anteile existiert seit dem späten 19. Jahrhundert. Es ist eine sehr einfache Sichtweise zweier „Gegenspieler“, die wie „Gaspedal“ und „Bremse“ eine gute Autofahrt ermöglichen. Im Zuge der Forschungsentwicklung konnte sich zwischen den 1990er Jahren und heute eine noch differenziertere Sichtweise etablieren. Der Parasympathikus als Beruhigungsanteil des ANS hat nach Porges [27] zwei Funktionszustände: (1) Ruhe als Ohnmachtszustand („freeze“) im Sinne eines Extremzustands (sog. „shutdowns“) und (2) Ruhe als Wohlfühlzustand mit sozialer Kontaktfähigkeit und Empathie. In beiden Fällen verlangsamt sich die Herzrate, wofür somatisch der N. vagus verantwortlich ist. Die Extremzustände (volle Beschleunigung unter Sympathikuseinfluss bzw. Ohnmachtszustand unter Parasympathikuseinfluss) sind organisch auf die Dauer mit (chronischen) Krankheitszuständen verbunden. Die beiden Extremzustände werden durch den zweiten parasympathischen Funktionszustand (Nr. 2 oben) mediiert [28]. Bei der Adaptation an belastende Arbeitsbedingungen gilt hierbei folgender Zusammenhang: Je flexibler das ANS reagiert, d. h. je besser Sympathikus und Parasympathikus miteinander interagieren, desto höher ist die Anpassungsfähigkeit des Individuums. Eine schnelle Adaptationsfähigkeit wird am besten durch einen gut funktionierenden zweiten parasympathischen Funktionszustand ermöglicht und führt zu einer langfristig stabileren Gesundheit. Je mehr der zweite parasympathische Anteil in der Regulation involviert ist, desto gesünder bleiben die Betroffenen [10, 27, 28].

Zur Beschreibung des autonomen Nervensystems, insbesondere des antagonistischen Zusammenspiels zwischen Sympathikus und den beiden parasympathischen ANS-Anteilen, dienen Verfahren zur Messung kardialer Funktionsparameter, welche sich auf die Herzrate sowie auf die Herzratenvariabilität (HRV) beziehen. Die HRV stellt hierbei einen nicht-invasiven elektrokardiographischen Marker dar, der die Aktivität der sympathischen und parasympathischen Komponenten des ANS auf den Sinusknoten des Herzens widerspiegelt [23] und somit als somatischer Indikator für Resilienz angesehen werden kann: Je größer die HRV, desto adaptiver reagiert der Organismus auf aktuelle Gegebenheiten und Belastungen [22, 27, 28]. Auf somatischer Ebene geht es hierbei im Sinne der Zielsetzung einer Homöostase darum, eine physiobiologische Balance zwischen Erregung und Hemmung des zentralen Nervensystems zu erreichen [14, 17].

Zielsetzung des Beitrags

Ausgehend von dem mittels Selbstauskunft erfassten verhaltensbezogenen Resilienzkonstrukt, welches die Verhaltensweisen beschreibt, (1) dynamisch Veränderungen gestalten zu können, (2) flexibel auf Erfordernisse reagieren zu können sowie (3) sich angemessen von den Erwartungen anderer abgrenzen zu können, setzt sich der Beitrag das Ziel, Zusammenhänge mit kardialen Indikatoren somatischer Adaptation zu ermitteln. Hierzu werden die drei genannten Resilienzfacetten korrelativ mit Maßen der Aktivität des autonomen Nervensystems sowie mit in Selbstauskunft erfassten Maßen der Stresswahrnehmung in Verbindung gesetzt.

Methode

Stichprobe

Die Untersuchungen wurden in Zusammenarbeit mit der Abteilung BGM (betriebliches Gesundheitsmanagement) eines deutschen Industrieunternehmens aus der Automobilzuliefererindustrie (über 90.000 Mitarbeiter/-innen weltweit) im Rahmen eines intern im Unternehmen durchgeführten Gesundheitsmonats zum Thema „Resilienz“ durchgeführt. Als Stichprobe wurden insgesamt 150 Mitarbeiter/-innen (100 männlich, 50 weiblich; mittleres Alter von 39,83 ± 10,25 Jahren, Range 23–60 Jahre) untersucht, wobei es sich um eine Gelegenheitsstichprobe handelt. Von den Mitarbeitern/-innen hatten 29 eine disziplinarische und 39 eine fachliche Führungsposition zum Zeitpunkt der Untersuchung inne. Die Führungsverantwortungsspanne wurde nicht weiter differenziert. Alle Probanden/-innen unterzeichneten vor Untersuchungsbeginn entsprechende Einverständniserklärungen zur Teilnahme an der Untersuchung. Weiterhin wurde die Untersuchung durch den Betriebsrat genehmigt. Standards der Deklaration von Helsinki wurden bei der Untersuchungsdurchführung eingehalten und Gefährdungen der Probanden/-innen waren jederzeit ausgeschlossen.

Untersuchungsdurchführung

Die Durchführung der Erhebung erfolgte über einen Zeitraum von sechs Wochen im Februar und März 2019. Zum einen füllten die Probanden/-innen einen Fragebogen aus, zum anderen wurden ihre kardiovaskulären Funktionsparameter im Sinne eines klassischen medizinischen Schellong-Tests im Liegen und Stehen zur Bewertung der physiologische Lagereaktion (Orthostase) gemessen. Pro Probanden/-in (Messungen jeweils 5 min im Liegen und 5 min im Stehen) wurde inklusive Vorbereitung ein Zeitfenster von 15 min eingeplant. Die Fragebögen wurden den Probanden/-innen ca. eine Woche vor der HRV-Messung zugesandt, von den Probanden/-innen ausgefüllt und am Tage der Messung an die Untersuchungsleitung ausgehändigt. Für das Ausfüllen der Fragebögen wurde ein Zeitraum von 15 min veranschlagt.

Operationalisierung der Variablen

Verhaltensbezogene Facetten von Resilienz: Die verhaltensbezogenen Resilienzfacetten wurden mittels der drei Skalen „Resistenz“, „Dynamik“ und „Flexibilität“ auf 5‑stufigen Likert-Skalen (von 1 = „trifft nicht zu“ bis 5 = „trifft zu“) erfasst [13]. Informationen zu den Skalen und deskriptiven Statistiken finden sich in Tab. 1. Hinsichtlich der Skalenreliabilität weisen die Skalen „Dynamik“ und „Resistenz“ annehmbare Cronbachs Alphas auf, die Reliabilität bei „Flexibilität“ fällt mit α = 0,489 vergleichsweise geringer aus. Die Mittelwerte bewegen sich bei allen Skalen im überdurchschnittlichen Bereich, wobei der Mittelwert bei „Dynamik“ mit M = 4,26 am höchsten ausfällt.

Tab. 1 Skaleninformationen und deskriptive Statistiken – Resilienz

Subjektives Stresserleben: Das Ausmaß des subjektiven Stresserlebens in den letzten drei Monaten wurde mit dem Trierer Inventar zum chronischen Stress (TICS) von Schulz, Schlotz und Becker [29] auf 5‑stufigen Likert-Skalen (von 1 = „nie“ bis 5 = „sehr häufig“) erfasst. Informationen zu den Skalen und deskriptiven Statistiken finden sich in Tab. 2. Alle neun TICS-Skalen weisen eine annehmbare Reliabilität auf und bewegen sich bezogen auf die Skalenmittelwerte im durchschnittlichen (3 = „manchmal“) bis unterdurchschnittlichen (2 = „selten“) Wertebereich, wobei das subjektive Stresserleben zwischen den Probanden/-innen relativ stark streut.

Tab. 2 Skaleninformationen und deskriptive Statistiken – Stresserleben

Somatische Facetten von Resilienz: Die kardialen HRV-Funktionsparameter als somatische Resilienzfacetten wurden mit Hilfe des Equipments von BioSign GmbH (Ottenhofen, Deutschland) erfasst. Bei dem angewandten medizinischen Schellong-Test handelt es sich um ein gängiges Verfahren, um Indikatoren des ANS unter Entspannungsbedingungen und Bedingungen kurzzeitiger körperlicher Anstrengung zu erfassen. Die jeweiligen Messwerte wurden über die beiden Phasen (5 min Liegen, Entspannung; 5 min Stehen, kurzzeitige körperliche Anstrengung) jeweils via Mittelwertbildung aggregiert. Informationen zu den gemessenen kardialen HRV-Funktionsparameter und deskriptiven Statistiken finden sich in Tab. 3.

Tab. 3 Deskriptive Statistiken der kardialen HRV Indikatoren

Ergebnisse

Effekte des Schellong-Tests auf die kardialen HRV-Funktionsparameter

Die Tab. 4 beinhaltet die Übersicht über die Veränderung der ANS-Indikatoren über die beiden Bedingungen Liegen und Stehen. Hierbei wird ersichtlich, dass die Atemfrequenz, Power-HF-Band, PNN50, RMSSD sowie SD1 in der Stehenbedingung gegenüber der Liegenbedingung signifikant geringere Werte aufweist. Die physiologische Belastungssituation „Stehen“ führt im Mittel zu einer erwarteten Abnahme der parasympathischen Funktionsparameter. Herzrate, Power-LF-Band, LF/HF Ratio, SDNN, SD2 sowie der Variationskoeffizient (RR) weisen in der Stehenbedingung im Mittel gegenüber der Liegenbedingung signifikant höhere Werte auf, welche mit dem erwarteten Anstieg des Sympathikusanteils des ANS in Verbindung gebracht werden können. Diese Befundsituation ist mit den in der Literatur berichteten Werten vergleichbar [23].

Tab. 4 Effekte des Schellong-Tests auf die ANS-Indikatoren (ANOVAs mit Messwiederholung)

Korrelationen zwischen den verhaltensbezogenen Resilienzfacetten und dem subjektiven Stresserleben sowie den somatischen Resilienzfacetten

Die Tab. 5 beinhaltet die Korrelationskoeffizienten zwischen den drei verhaltensbezogenen Resilienzfacetten, dem subjektiven Stresserleben sowie den somatischen Resilienzfacetten im Sinne der kardialen Funktionsparameter. Die Facette „Flexibilität“ korreliert hierbei signifikant positiv mit der Atemfrequenz im Stehen sowie mit „Sozialer Überlastung“. Die Facette „Resistenz“ steht mit keinem der kardialen Indikatoren in signifikantem Zusammenhang, jedoch in negativem Zusammenhang mit der wahrgenommenen „Überforderung bei der Arbeit“ und der „Chronischen Besorgnis“. Weiterhin weisen Mitarbeiter/-innen, welche eine Führungsaufgabe mit disziplinarischer Funktion innehaben, tendenziell höhere Werte bei „Resistenz“ auf, als Mitarbeiter/-innen, welche keine Führungsaufgabe mit disziplinarischer Funktion innehaben. Die Facette „Dynamik“ korreliert signifikant positiv mit den kardialen HRV-Indikatoren PNN50, RMSSD und SD1 (jeweils im Liegen und Stehen) sowie mit dem wahrgenommenen „Erfolgsdruck“. Weiterhin steht die genannte Facette in signifikant negativem Zusammenhang mit der wahrgenommenen „Überforderung bei der Arbeit“, mit einem wahrgenommenen „Mangel an sozialer Anerkennung“ und einer „Chronischen Besorgnis“. Ältere Mitarbeiter/-innen weisen bei der Veränderungsoffenheit („Dynamik“) tendenziell geringere Werte auf als jüngere Mitarbeiter/-innen und Mitarbeiter/-innen, welche eine Führungsaufgabe mit disziplinarischer und/oder fachlicher Funktion innehaben, zeigen sich veränderungsoffener, verglichen mit Mitarbeiter/-innen ohne entsprechende Führungsverantwortung.

Tab. 5 Pearson Korrelationen

Zusammenfassende Diskussion

Mit dem Ziel, Zusammenhänge zwischen verhaltensbezogenen und somatischen Facetten von Resilienz zu ermitteln, wurden signifikante Korrelationen zwischen der Veränderungsoffenheit („Dynamik“) und den kardialen HRV-Funktionsparametern PNN50, RMSSD sowie SD1 gefunden (Tab. 5), welche als „objektive“ Indikatoren zur funktionellen Beschreibung der Adaptationsfähigkeit des ANS angesehen werden können. Für die beiden anderen erfassten Resilienzfacetten „Flexibilität“ und „Resistenz“ zeigten sich keine signifikanten Zusammenhänge mit den kardialen HRV-Parametern in der zugrunde liegenden Stichprobe.

In der neueren Forschung wird Resilienz auch als aktiver Prozess des Organismus unter Berücksichtigung der Interaktion zwischen Individuum und Umwelt beschrieben [12,13,14, 17]. In der Realität ist eine Diskrepanz zwischen der subjektiven Einschätzung der Stresslast und objektiv messbaren Belastungsindikatoren wie Hormonkonzentrationen oder HRV zu beobachten [41], d. h. Warnsignale des Körpers werden entweder nicht wahrgenommen oder können nicht adäquat zugeordnet und kommuniziert werden. Die Frage stellt sich also, inwieweit Resilienz auch als „Neuroresilienz“ objektiv messbar ist und so schon vor bewusster Wahrnehmung Hinweise für eine Handlungsnotwendigkeit vermitteln kann, wenn die Signale des Körpers vom Individuum nicht wahrgenommen bzw. adäquat zugeordnet werden können.

Wir verwenden für unseren Beitrag für die verhaltensbezogenen Facetten eine Operationalisierung, die funktionsspezifische Mechanismen (sog. Resilienzfacetten) identifizieren kann, die vor einer stressinduzierten Beeinträchtigung schützen können [12, 13]. Resilienzfacetten sind nach diesem Verständnis psychologische Faktoren, die uns bei der Bewältigung belastender Situationen unterstützen können. Entsprechende Ausbalancierungs- und Bewertungsprozesse auf psychologischer bzw. bewusstseinsfähiger Ebene finden ihre Analogie auf somatischer Ebene im Sinne der Homöostase als physiobiologischer Balance zwischen Erregung und Hemmung des zentralen Nervensystems [32]. Es geht hierbei aber nicht nur um die Wahrnehmung einer Störung, die balanciert werden muss, sondern das System muss auch in der Lage sein, anhand eines vorhandenen „Messfühlers“ oder Maßstabs zu bewerten, wie zu handeln bzw. zu reagieren ist.

Basierend auf unserem Ansatz kann ein gezieltes Resilienztraining an unterschiedlichen Stellen ansetzen. Dazu ist es wichtig zu wissen, in welchem Stressregulationsniveau sich der/die Betroffene bzw. ganze Gruppen (wenn man die Daten bei großen Unternehmen auf Abteilungs- bzw. Standortebene aggregiert) befinden [11, 34,35,36, 38]. Es gilt hierbei zu klären, welche Resilienzfacette (Resistenz, Flexibilität, Dynamik) bei der betreffenden Person bzw. Personengruppe mehr oder weniger stark ausgeprägt ist bzw. zu fördern ist. Es gilt im Folgenden, die passende Kombination von Facetten zu ermitteln, die aktiviert bzw. gefördert werden muss. Weiterhin stellt sich die Frage, ob sich der/die Betroffene im „Kampf/Flucht Modus“ (d. h. in einem hochangeregten sympathischen System, gekennzeichnet durch eine sehr hohe Herzrate) oder im „Freeze-Modus“ (inflexibler, aber sehr hohe Parasympathikusaktivierung bei gleichzeitig sehr niedriger Herzrate) befindet, d. h., je nach Ausprägung der unterschiedlichen Facetten gilt es zu klären, ob präventiv oder therapeutisch gearbeitet werden kann bzw. muss.

Ist es beispielsweise möglich, den Anteil der individuellen Resilienz, die „Dynamik“ zu stärken, der in einem möglichen Zusammenhang zu den parasympathischen Anteilen des ANS steht? Wenn die Regulationsfähigkeit des ANS trainiert werden könnte, könnte damit auch der dazu korrespondierende Resilienzanteil „Dynamik“ gestärkt werden, vice versa. Ein auf die Facette „Dynamik“ ausgerichtetes Resilienztraining würde somit nicht darauf abzielen, sich einem Zustand anzupassen (Facette „Flexibilität“) und/oder ihn leichter zu ertragen bzw. ihn abzuwehren (Facette „Resistenz“). Es würde auf die Aktivierung von parasympathischen Ressourcen des ANS zielen, so dass eine aktive Veränderung möglich wird, um sich den Herausforderungen stellen zu können. Diese Aspekte wären bei einem entsprechenden Coaching zu berücksichtigen und durch ein gezieltes Training parasympathischer Funktionen zu stärken. Die einzelnen Bestandteile eines solchen „parasympathischen Trainings“ sind Gegenstand weiterer Forschung und Entwicklung.

Limitationen der Vorgehensweise

Ausgehend von unserem Untersuchungsansatz sind verschiedene Limitationen zu berücksichtigen, welche gleichsam Potenziale für weiterführende Studien aufzeigen:

  • Als physiologische Marker der somatischen Adaptationsfähigkeit wurden kardiovaskuläre Parameter erfasst, hormonelle Marker (z. B. Cortisol, Adrenalin) somatischer Belastungs- bzw. Adaptationsprozesse wurden in der durchgeführten Studie jedoch nicht erfasst, sollten jedoch in Folgestudien Berücksichtigung finden.

  • Eine multimodale Erfassung unterschiedlicher Indikatoren kann zwar im Allgemeinen die Validität der Ergebnisse verbessern, es ist jedoch aufgrund des gewählten Untersuchungsdesigns nicht auszuschließen, dass es sich bei den gefundenen Korrelationen zwischen den mittels Fragebögen erfassten Messgrößen und den kardialen Indikatoren zumindest z. T. um Methodenartefakte handeln könnte.

  • Die Stichprobe besteht ausschließlich aus Mitarbeiter/-innen eines Industrieunternehmens aus der Automobilzuliefererindustrie. Folgestudien sollten demnach auch Probanden/‑innen aus anderen Branchen und Tätigkeitsbereichen einbeziehen.

  • Aufgrund des einzuhaltenden Datenschutzes konnten personenbezogene Daten, wie beispielsweise zum generellen Gesundheitszustand oder zur Sportlichkeit der Mitarbeiter/-innen, nicht erhoben werden. Entsprechende Merkmale könnten jedoch Einflüsse auf die durchgeführten HRV-Messungen haben.

  • Die voneinander abweichenden Zeitpunkte der Erhebung mit den unterschiedlichen Instrumenten müssen bei Folgeuntersuchungen berücksichtigt werden.

  • Die Anwendung des medizinischen Schellong-Tests ermöglicht einerseits eine standardisierte Vorgehensweise, stellt andererseits jedoch eine relativ eingeschränkte Möglichkeit der Induktion akuter physiologischer Adaptation dar. Folgestudien sollten demnach insbesondere Effekte von arbeitsplatznäheren Stressoren (z. B. Workload, Zeitdruck) berücksichtigen.

  • Da unsere Untersuchung als Querschnittsstudie angelegt war, ermöglicht diese keine Aussagen über Veränderungen von Resilienz- und Belastungsparametern im Zeitverlauf und über unterschiedliche Situationen hinweg. Folgestudien sollten daher als Längsschnitte angelegt werden.

Fazit für die Praxis

  • Messbare Daten für eine wissenschaftlich gestützte Prävention und Resilienzunterstützung sind ein innovativer und vielversprechender Ansatz. Die Anwendung dieser Verfahren kann auch für Leistungsfähigkeit, Erfolg und Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens wichtig sein. In jedem Fall sagen die Messdaten etwas über die Zufriedenheit, das Wohlbefinden und die Lebensqualität der einzelnen Mitarbeiter/-innen aus.

  • Auch gruppen- bzw. standortspezifische aggregierte Informationen können von Relevanz sein, da sie zielgerichtete Interventionen ermöglichen können.

  • Zukünftig könnte es zur Diskussion stehen, welche Daten aus der Präventionsmedizin in eine „Gesundheits- und Zufriedenheitsbilanz“ eines Unternehmens aufgenommen werden. Gesundheit ist hierbei eine Frage der Information, der Mitarbeiter/-innen über Selbstverantwortung und schließlich der Disziplin.

  • Unternehmen können durch zahlreiche Maßnahmen gesundheitsrelevante Informationen verfügbar machen und gesundheitsförderliche Angebote unterbreiten und damit die Selbstverantwortung und Disziplin ihrer Mitarbeiter/-innen stärken.