Die Gesundheitskompetenz steht seit einigen Jahren im Fokus der Public-Health-Forschung. Insbesondere seit der Veröffentlichung des Nationalen Aktionsplans zur Gesundheitskompetenz (NAP GK) Anfang 2018 wird hierzu vielseitig geforscht. Neben der Gesundheitskompetenz gewinnt auch die Forschung zum Gesundheitsbewusstsein zunehmend an Bedeutung. Bisherige Studien weisen auf einen Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsbewusstsein und der Gesundheitskompetenz in der Allgemeinbevölkerung hin.

Der Begriff der Gesundheitskompetenz („health literacy“) beschreibt „die Fähigkeit …, relevante Gesundheitsinformationen in unterschiedlicher Form zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag in den Bereichen der Krankheitsbewältigung, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung Urteile fällen und Entscheidungen treffen zu können“ [27]. Studien weisen darauf hin, dass eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko, Orientierungsproblemen im Gesundheitssystem und einem geringeren Verständnis gesundheitsbezogener Informationen einhergeht [8, 14, 19, 26]. Eine ausreichende Gesundheitskompetenz ist eine Voraussetzung, um die eigene Gesundheit zu erhalten und zu fördern [23, 27].

Neben einer ausreichenden Gesundheitskompetenz kann auch ein hohes Gesundheitsbewusstsein zur Förderung der Gesundheit beitragen. Das Gesundheitsbewusstsein wird häufig als Grad, in dem gesundheitliche Belange in die täglichen Aktivitäten einer Person integriert sind [10], definiert und so indirekt über das Gesundheitsverhalten erfasst [12]. Das Gesundheitsbewusstsein ist jedoch ein komplexes und vielschichtiges Konstrukt, welches die Gesundheitsmotivation und die gesundheitliche Eigenverantwortung umfasst [10]. Unterschiedliche Konzeptionen von Gesundheitskompetenz weisen z. T. Überschneidungen mit dem Gesundheitsbewusstsein in den Bereichen Motivation und Eigenverantwortung auf. Allerdings werden im Health Literacy Questionnaire (HLS-EU-Q16) Motivationsprozesse und die persönliche Verantwortung für die eigene Gesundheit nicht operationalisiert oder erfasst [27]. Häufig wird das Gesundheitsbewusstsein mittels einer einzigen Frage in repräsentativen Studien erhoben. In der vorliegenden Studie wird erstmals das Gesundheitsbewusstsein nach Hong [10] mittels drei Dimensionen verwendet. Dieses umfasst neben der Dimension „Gesundheitsmotivation“ auch die Dimensionen „Eigenverantwortung für die Gesundheit“ sowie die Ebene „Achtsamkeit“.

Gesundheitsbewusste Personen sind sich ihres Gesundheitszustands bewusst, indem sie ihrer Gesundheit Aufmerksamkeit schenken, über ihre Gesundheit nachdenken, sich als verantwortlich für ihre Gesundheit fühlen und motiviert sind, ihre Gesundheit zu verbessern oder zu erhalten [10]. Studien konnten aufzeigen, dass ein gesundheitsbewusster Umgang mit dem eigenen Körper und der Psyche in Kombination mit dem Willen und der Motivation die Gesundheit zu erhalten, eine positive Wirkung auf eine gesunde Lebensführung haben kann. Beispielsweise weisen Personen mit einem höheren Gesundheitsbewusstsein eine bessere Fähigkeit des Suchens, Findens, der kritischen Reflexion und Anwendung gesundheitsbezogener Informationen auf [9, 11, 12].

Für Menschen mit Behinderung ist ein hohes Gesundheitsbewusstsein und die Gesundheitskompetenz zum Verständnis und zur Anwendung gesundheitsbezogener Informationen besonders wichtig, da sie aufgrund bestehender Vulnerabilitäten eine höhere Wahrscheinlichkeit eines geringeren Gesundheitszustands und ein erhöhtes Risiko für Begleit- und Folgeerkrankungen aufweisen [8]. In Deutschland leben aktuell 7,8 Mio. Menschen mit amtlich anerkannter Schwerbehinderung (9,4 %), davon weisen rund 59,0 % eine körperliche Behinderung, 21,4 % LernschwierigkeitenFootnote 1 und 8,2 % eine psychische Erkrankung auf [30]. Aufgrund der gesundheitlichen Belastung von Menschen mit Behinderung ist gerade die Gesundheitskompetenz zur (kritischen) Bewertung und Auseinandersetzung mit Gesundheitsinformationen, Behandlungen und Therapien wichtig [6]. Erste Studienergebnisse zur Gesundheitskompetenz von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen verdeutlichen, dass ein Großteil der Befragten, die in Einrichtungen der Eingliederungs- und Behindertenhilfe leben und arbeiten, Schwierigkeiten im Finden, Verstehen und der Anwendung von gesundheitsbezogenen Informationen berichten, da sie teilweise keinen Zugang zu Gesundheitsinformationen haben oder diese nicht entsprechend ihrer spezifischen Bedarfe aufbereitet sind [20].

Trotz der vielfältigen Beeinträchtigungen wurden Menschen, die in institutionalisierten Lebenswelten wie der Eingliederungs- und Behindertenhilfe leben und arbeiten, in Studien zum Gesundheitsbewusstsein und zur Gesundheitskompetenz bislang selten berücksichtigt [8, 20]. Dies lässt sich auch auf den Mangel an adäquaten Erhebungsinstrumenten (u. a. in Leichter Sprache) und auf die Rekrutierungsstrategie repräsentativer Surveys zurückführen, die sich meist nur auf Menschen mit (körperlichen) Behinderungen, die in Privathaushalten leben, stützten [1]. Ziel des Beitrags ist daher, 1) das Gesundheitsbewusstsein und die Gesundheitskompetenz von Menschen mit Behinderung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe in Deutschland erstmalig durch Selbstbeurteilung mithilfe eines Fragebogens in Leichter Sprache zu erfassen und 2) Assoziationen zwischen dem Gesundheitsbewusstsein und der Gesundheitskompetenz der Zielgruppe zu überprüfen.

Datenmaterial und Methode

Datenbasis

Es handelt sich bei der vorliegenden Datenbasis um eine Querschnittstudie mittels standardisiertem Erhebungsinstrument, die in 19 Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) und Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung im Zeitraum von Juni bis Juli 2019 in Bayern, Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen durchgeführt wurde. Es nahmen 351 Menschen mit Behinderung auf freiwilliger Basis teil. Das Erhebungsinstrument bestand aus 21 Fragenkomplexen in Leichter Sprache. Es wurden neben soziodemografischen, sozioökonomischen und behinderungsspezifischen Angaben die individuelle Gesundheitskompetenz, das Gesundheitsbewusstsein sowie verschiedene Gesundheitsindikatoren erfasstFootnote 2. Zunächst wurde der Fragebogen inklusive der Items zur Gesundheitskompetenz durch ein zertifiziertes Übersetzungsbüro in Leichte Sprache übersetzt. Zudem wurde das Layout des Fragebogens angepasst und Icons, wie z. B. verschiedenfarbige Daumen zur leichteren Verständlichkeit, eingearbeitet. Die übersetzte Version des Fragebogens wurde im nächsten Schritt von einer sog. Prüfgruppe für Leichte Sprache – bestehend aus Menschen mit Lernschwierigkeiten und anderen Beeinträchtigungen – durchgesehen und auf Verständlichkeit geprüft. Anschließend wurde der übersetzte Fragebogen durch eine Prüfgruppe bestehend aus Menschen mit Lernschwierigkeiten in zwei Durchgängen geprüft und jeweils sprachliche Anpassungen – in Absprache mit dem Projektteam – vorgenommen. Die Fragen wurden sinngemäß angepasst, sodass eine mögliche Verzerrung der ursprünglichen Items so gering wie möglich gehalten wurde. Der finale Fragebogen wurde zur abermaligen Prüfung mit einer außenstehenden Person mit Behinderung (u. a. geistige Behinderung) getestet. Des Weiteren wurde der Fragebogen im Vorfeld an die teilnehmenden Einrichtungen der Eingliederungshilfe geschickt, sodass auch auf die Einschätzung der Betreuenden der Teilnehmenden vertraut werden kann, dass der Fragebogen für die Zielgruppe verständlich war bzw. ist.

Die Durchführung der Befragung erfolgte durch das Studienteam persönlich vor Ort (Hessen und angrenzende Einrichtungen) oder wurde postalisch an die Einrichtungen versandt und durch Betreuungspersonen in den Einrichtungen durchgeführt. Um auch Menschen mit mehrfachen Behinderungen (Schwerstmehrfachbehinderung) die Teilnahme an der Befragung zu ermöglichen und deren Sichtweisen zu erheben wurden Stellvertreterbefragungen bei den Personen eingeschlossen, die nicht mit den Interviewenden direkt kommunizieren konnten. Die gesetzlichen Vorgaben zum Datenschutz und zur Anonymität wurden strikt eingehalten. Zudem wurde vor Beginn der Befragung eine Einverständniserklärung von allen Befragten bzw. deren gesetzlichen Betreuungspersonen eingeholt.

Variablenbeschreibung

Das Gesundheitsbewusstsein wurde mittels der englischsprachigen Skala zum Gesundheitsbewusstsein nach Hong [10] erfasst und durch einen Muttersprachler ins Deutsche übersetzt. Die vierstufige Antwortskala von „stimme voll und ganz zu“ bzw. „stimme voll zu“ (d. h. „hohes Gesundheitsbewusstsein“) vs. „stimme nicht zu“ bzw. „stimme überhaupt nicht zu“ (d. h. niedriges Gesundheitsbewusstsein) wurde nach der Erhebung dichotomisiert. Anschließend wurde ein Gesamtindex aus allen elf Aussagen sowie drei Subindexe für die Dimensionen Achtsamkeit (vier Aussagen, z. B. „Ich achte auf meine Gesundheit“), Eigenverantwortung (vier Aussagen, z. B. „Ich spüre eigentlich immer, wie es meinem Körper geht“) und Gesundheitsmotivation (drei Aussagen, z. B. „Ich muss auf mich aufpassen, damit ich gesund bleibe“) gebildet. Die interne Konsistenz reicht von fragwürdig bis gut mit Cronbachs Alpha für Achtsamkeit α = 0,70, Eigenverantwortung α = 0,61, Gesundheitsmotivation α = 0,74 und für den Index Gesundheitsbewusstsein α = 0,80. Die Gesundheitskompetenz wurde mit Hilfe des HLS-EU-Q16 [19] und 16 Aussagen zu Schwierigkeiten beim Finden, Verstehen, Beurteilen und Anwenden von gesundheitsrelevanten Informationen in den Bereichen Krankheitsbewältigung, Prävention und Gesundheitsförderung erfasst. Die vierstufige Antwortskala wurde nach der Erhebung dichotomisiert in „sehr leicht/ziemlich leicht“ vs. „ziemlich schwer/sehr schwer“. Personen, die mehr als 12,5 % fehlende Antworten im Gesamtscore aufwiesen, wurden aus den Analysen ausgeschlossen [22]. Die interne Konsistenz ist mit α = 0,95 exzellent.

Stichprobenbeschreibung

Die Stichprobengröße variierte in Abhängigkeit des Antwortverhaltens zwischen 230 und 337 gültigen Angaben. Fehlende Angaben resultierten aus der Nichtbeantwortung einzelner Fragen bzw. Items, die aus den Analysen ausgeschlossen wurden (n = 14–121 Fälle). Mehr als die Hälfte der Befragten waren weiblich (52,1 %). 74,7 % der Befragten berichteten eine Lernschwäche, die Hälfte eine dauerhafte ErkrankungFootnote 3, 44,8 % eine psychische Behinderung und 40,0 % eine körperliche Behinderung. Knapp zwei Drittel der Befragten (63,0 %) berichteten mindestens zwei Behinderungsarten. Die Mehrheit der Befragten (36,0 %) lebte in einer Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderung, gefolgt von dem elterlichen Wohnumfeld (21,9 %) sowie dem ambulant betreuten Wohnen (19,6 %). 14,1 % der Befragten lebten alleine und 8,4 % lebten mit dem Lebens‑/Ehepartner bzw. der Lebens‑/Ehepartnerin. Fast die Hälfte der Befragten gibt an, über einen Förderschulabschluss (46,0 %) zu verfügen, gefolgt von gut einem Drittel ohne Abschluss (34,3 %) sowie knapp einem Fünftel mit einem Hauptschulabschluss (19,8 %).

Analysestrategie

Um die Häufigkeiten aller in die Analyse einbezogenen Variablen darstellen zu können, wurden zunächst univariate Häufigkeitsauswertungen durchgeführt. Anschließend erfolgte eine bivariate Analyse mittels Kreuztabelle. Zur Signifikanzprüfung erfolgte der χ2-Test nach Pearson mit einem 10 %-Signifikanzniveau (aufgrund der geringen Fallzahl). Die statistischen Analysen wurden mit Hilfe der Statistiksoftware IBM SPSS Statistics Version 25 durchgeführt.

Ergebnisse

Nach Dichotomisierung der Items und Bildung der Gesamtskala weisen insgesamt 38,9 % der Befragten ein niedriges Gesundheitsbewusstsein auf und fast zwei Drittel der Befragten berichten Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen (63,9 %, Tab. 1).

Tab. 1 Häufigkeit der Ausprägungen des Gesundheitsbewusstseins und der Gesundheitskompetenz

Gesundheitsbewusstsein

In Tab. 2 sind je die zwei am häufigsten genannten Aussagen in den drei Dimensionen Achtsamkeit, Eigenverantwortung und Gesundheitsmotivation in Leichter Sprache dargestellt. Im Vergleich der drei Dimensionen zeigt sich, dass die Befragten im Bereich der Gesundheitsmotivation am häufigsten ein hohes Gesundheitsbewusstsein angeben, während im Bereich Achtsamkeit am seltensten ein hohes Gesundheitsbewusstsein berichtet wird.

Tab. 2 Häufigkeiten der am häufigsten genannten Aussagen zum Gesundheitsbewusstsein für die Ausprägung „stimme (voll und ganz) zu“

Gesundheitskompetenz

In Tab. 3 ist der prozentuale Anteil der Befragten in den am häufigsten mit „schwierig/sehr schwierig“ beantworteten Aussagen zum Umgang mit gesundheitsbezogenen Informationen in Leichter Sprache dargestellt. Im Detail sind die Häufigkeiten jener Befragten dargestellt, die Schwierigkeiten berichten, Informationen zur Gesundheit zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, differenziert nach den drei Dimensionen der Gesundheitskompetenz: Prävention, Krankheitsbewältigung und Gesundheitsförderung. Im Vergleich der drei Dimensionen der Gesundheitskompetenz wird deutlich, dass die Befragten am häufigsten Schwierigkeiten im Bereich der Prävention und Krankheitsbewältigung berichten.

Tab. 3 Häufigkeiten der am häufigsten genannten Aussagen zur Gesundheitskompetenz für die Ausprägung „schwierig bzw. sehr schwierig“

Differenziert nach der Ausprägung des Gesundheitsbewusstseins finden sich Unterschiede in der Gesundheitskompetenz: Hier zeigt sich in der Tendenz, dass über zwei Drittel (70,0 %) der Befragten mit einem niedrigen Gesundheitsbewusstsein auch Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen im Sinne der Gesundheitskompetenz angeben (p = 0,102).

Diskussion

Ziel dieser Studie war es, Selbstauskünfte von Menschen mit Behinderung in Einrichtungen der Eingliederungs- und Behindertenhilfe in Deutschland zum Gesundheitsbewusstsein und zur Gesundheitskompetenz erstmals in Leichter Sprache zu erfassen. Insgesamt weisen mehr als ein Drittel der Befragten ein niedriges Gesundheitsbewusstsein auf. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Erkenntnissen einer anderen Studie zur Gesundheitskompetenz mit gesetzlich Versicherten [33]. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass bisherige Studien das Gesundheitsbewusstsein meist mit der Frage „Wie stark achten Sie auf Ihre Gesundheit?“ erhoben haben. Ein mehrdimensionales Konstrukt zur Operationalisierung des Gesundheitsbewusstseins kam bisher nicht zum Einsatz [13, 33]. Hinsichtlich der Gesundheitskompetenz zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, dass fast zwei Drittel der Befragten Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen berichten, während in Studien zur Allgemeinbevölkerung rund 50,0 % der Befragten Schwierigkeiten beim Finden, Verstehen, Beurteilen und Anwenden von Gesundheitsinformationen angeben [25]. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich auch in einer vergleichbaren Studie zur Gesundheitskompetenz von Menschen mit Behinderung, die in einer WfbM beschäftigt waren und wie in der vorliegenden Studie chronische, geistige und psychische Beeinträchtigungen, jedoch keine Schwerstmehrfachbehinderungen aufwiesen [20]. Wie in der vorliegenden Studie wurden insbesondere Schwierigkeiten in der Dimension „Prävention“ deutlich. Eine Studie zur Gesundheitskompetenz bei Menschen mit chronischer Erkrankung stellte bei >70,0 % der Befragten eine niedrige bzw. eingeschränkte Gesundheitskompetenz fest [24].

Zweites Ziel der Studie war es, den Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsbewusstsein und der Gesundheitskompetenz zu ermitteln. Allgemein zeigen Studien, dass sich gesundheitsbewusste Personen häufiger mit der Suche und Beschaffung, dem Verstehen und der Beurteilung sowie der Umsetzung von gesundheitsrelevanten Informationen beschäftigen [11, 12]. Hinsichtlich der selbstberichteten Gesundheitskompetenz zeigt sich in der vorliegenden Studie, dass Befragte mit einem niedrigen Gesundheitsbewusstsein auch tendenziell häufiger Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen berichten. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Ergebnissen der „Gesundheit in Deutschland Aktuell“ (GEDA)-Studie, bei der allerdings nur die Dimension „Achtsamkeit“ zur Erfassung des Gesundheitsbewusstseins herangezogen wurde [12]. Aufgrund des Querschnittsdesigns ist allerdings zu beachten, dass die kausale Interpretationsrichtung offenbleibt, da die Annahme, dass gesundheitskompetente Personen durch das Erschließen von Informationen ein höheres Gesundheitsbewusstsein erlangen, auch möglich ist [12].

Stärken und Schwächen der Studie

Die Studie erfasst erstmals die Gesundheitskompetenz und das Gesundheitsbewusstsein von Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen der Eingliederungs- und Behindertenhilfe leben, mit Hilfe eines Erhebungsinstruments in Leichter Sprache. Während der Erhebung kamen unterstützende Elemente und Materialien in Form von Piktogrammen als zusätzliche Ausdrucksmöglichkeit bei der Beantwortung der Fragen zum Einsatz. Solche Hilfsmittel können bei einer Erhebung die Motivation zur Teilnahme steigern [18]. Die Erfassung der Gesundheitskompetenz durch Selbstauskünfte der Zielgruppe liefert erste Hinweise auf die individuellen Bedarfe zur Stärkung der Gesundheitskompetenz in den unterschiedlichen Bereichen und Dimensionen. Durch die Selbstauskünfte von Menschen mit Behinderung in Einrichtungen der Eingliederungs- und Behindertenhilfe können langfristig zielgruppenadäquate und bedarfsgerechte gesundheits(kompetenz)fördernde Angebote entwickelt und umgesetzt werden.

Während der Befragungssituation mit den Teilnehmenden wurden einige Fragen individuell für die Befragten durch die Interviewenden erläutert, wodurch eine mögliche Verzerrung des Antwortverhaltens zustande gekommen sein könnte. Zusätzlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Fragen im Sinne der sozialen Erwünschtheit oder der Tendenz zur Akquieszenz beantwortet wurden [3]. Um auch Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung die Teilnahme an der Befragung zu ermöglichen und deren Sichtweisen zu erheben, wurden z. T. Stellvertreterbefragungen bei den Personen durchgeführt, die nicht mit den Interviewenden direkt kommunizieren konnten. Auch bei den postalischen Befragungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass ggf. eine Beantwortung ausschließlich aus Fremdbeurteilerperspektive vorgenommen wurde. Dies birgt das Risiko, dass Betreuende (un)absichtlich die Fragen eher positiv oder negativ beantwortet haben könnten.

Implikationen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz und des Gesundheitsbewusstseins bei Menschen mit Behinderung

Die Ergebnisse der vorliegenden Erhebung weisen auf einen hohen Bedarf an Maßnahmen für Menschen mit Behinderung in institutionalisierten Lebenswelten der Behindertenhilfe hin, um das Gesundheitsbewusstsein und die Gesundheitskompetenz zu fördern. Bisherige Studien und Projekte zur Gesundheitsförderung bei Menschen mit Behinderung wurden zwar nicht auf ihre Wirksamkeit hinsichtlich des Gesundheitsbewusstseins überprüft, liefern dennoch wichtige Anhaltspunkte für die Stärkung des Gesundheitsbewusstseins bei Menschen mit Behinderung. Beispielhaft kann hier das Praxisprojekt „Menschen mit Lernschwierigkeiten und Gesundheitsförderung – GESUND!“ genannt werden, welches sich an der partizipativen Gesundheitsforschung orientiert. Das Projekt GESUND! verfolgt u. a. das Ziel einer gesundheitlichen Bewusstseinsbildung, z. B. durch die Reflektion der Teilnehmenden hinsichtlich der eigenen Verantwortung gegenüber der Gesundheit oder dem Bewusstmachen gesundheitsförderlicher Lebensstile [4, 5]. Auch das Pilotprojekt „Kommunale Strukturen zur Gesundheitsförderung für Menschen mit Behinderung – BeuGe“ setzt hier an und versucht über die Bewusstseinsvermittlung der eigenen Verantwortlichkeit für Gesundheit, das Gesundheitsbewusstsein von Menschen mit Behinderung zu stärken [29]. Diese Ansätze gilt es zu fokussieren, um den in den Ergebnissen dieser Studie festgestellten Bedarf zur Steigerung der Achtsamkeit von Menschen mit Behinderung hinsichtlich gesundheitsfördernder Lebensstile zu entsprechen.

Auch bei der Entwicklung von Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz werden Menschen mit Behinderung kaum berücksichtigt [16]. Die Zielgruppe bringt Herausforderungen, wie eine langsamere Verarbeitung von Informationen und unterschiedliche Kommunikations- und Alphabetisierungsstufen mit, die daher in Maßnahmen berücksichtigt werden sollten [16]. In der vorliegenden Studie zeigte sich, dass Menschen mit Behinderung am häufigsten Schwierigkeiten im Verstehen von Gesundheitsinformationen aus den Medien berichten. Hier kann das Betreuungs- und Fachpersonal helfen Kommunikationsbarrieren im Alltag abzubauen, indem Informationen z. B. in Leichter Sprache partizipativ mit der Bedarfsgruppe und Bezugspersonen entwickelt und bereitgestellt werden [8, 16]. Auch stellt das Betreuungs- und medizinische Personal eine professionelle Ressource für die Gesundheitskompetenz dar, die Alltagsroutinen der Bedarfsgruppe unterstützen kann und in Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz von Menschen mit Beeinträchtigung berücksichtigt werden sollte. Mit Blick auf die Ergebnisse der vorliegenden Befragung sollte das medizinische Personal besonders darauf achten, Hilfestellungen im Finden und Beurteilen von Gesundheitsinformationen zu geben. Hierbei sollte die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung berücksichtigt und gestärkt werden [16]. Da Gesundheitskompetenz über die rein funktionale Ebene hinausgeht, sind neben der Vermittlung von Gesundheitswissen ebenfalls die Selbstwirksamkeit, Widerstandsressourcen, kommunikative und soziale Kompetenzen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz zu berücksichtigen. Durch die vorliegende Erhebung wird deutlich, dass Menschen mit Behinderung Schwierigkeiten im Treffen von Entscheidungen hinsichtlich ihrer Gesundheit angeben. Daher sollten zusätzlich Handlungskompetenzen ausgebildet und gestärkt werden, die z. B. das Verhalten bei akuten Erkrankungen oder Arztbesuchen schulen [7, 15].

Insgesamt ist zur Förderung des Gesundheitsbewusstseins und der Gesundheitskompetenz von Menschen mit Behinderung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe zu empfehlen, dass Einrichtungen an die gesundheitsbezogenen Bedarfe angepasst und gesundheitsförderlich ausgerichtet sind [21]. Im Sinne der sog. organisationalen Gesundheitskompetenz ist es wichtig, dass sich Einrichtungen durch einen einfachen Zugang zu leicht verständlichen Gesundheitsinformationen, die Bereitstellung von barrierefreiem Informationsmaterial, einer gesundheitskompetenten Kommunikation mit den Menschen mit Behinderungen, Betreuungspersonen, Fachpersonal und Besucher*innen der Einrichtung, auszeichnen [2, 21]. Hierzu kann durch die Verankerung der Gesundheitskompetenz in der Einrichtungskultur und im Leitbild der Einrichtungen sowie durch die Unterstützung des Leitungs- und Fachpersonals ein Grundstein gelegt werden. Aufbauend können Maßnahmen entwickelt und angewendet werden, die das Gesundheitsbewusstsein und die Gesundheitskompetenz von Menschen mit Beeinträchtigung sowie des Fachpersonals schulen. Hierbei sind geeignete bspw. Kommunikationstechniken (z. B. „Ask Me 3“ – drei Fragen zur Gesundheit), die Verwendung von Piktogrammen, Feedback-Systemen oder Rollenspielen empfehlenswert [21]. Es reicht hierbei allerdings nicht aus, gesundheitsbezogene Informationen in Leichter Sprache zur Verfügung zu stellen, vielmehr bedarf es weitreichender, niedrigschwelliger und barrierefreier Unterstützungsmöglichkeiten z. B. durch Angehörige und durch (medizinisches) Fach- bzw. Betreuungspersonal. Gleichzeitig sollten Barrieren zur Teilhabe an Gesundheit von Menschen mit Behinderung vermindert werden, damit den Forderungen im WHO-Aktionsplan „Better health for all people with disabilites“ (2014–2021) Rechnung getragen wird [32]. Auch ist die bereichsspezifische Gesundheitskompetenz – wie u. a. im Bereich Ernährung, psychische Gesundheit, Substanzmittelkonsum, Vorsorge(‑untersuchungen) oder Diabetes – in den Fokus weiterer Studien und Maßnahmen zu rücken.

Fazit für die Praxis

  • Es wurden Menschen, die in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung leben und arbeiten, in Leichter Sprache zum Gesundheitsbewusstsein und zur Gesundheitskompetenz selbst befragt.

  • Die Studienergebnisse verdeutlichen einen Bedarf zur Förderung des Gesundheitsbewusstseins in den Bereichen Achtsamkeit und Eigenverantwortung sowie der Gesundheitskompetenz in den Bereichen Prävention und Krankheitsbewältigung.

  • Zur Stärkung des Gesundheitsbewusstseins und der Gesundheitskompetenz sollten Gesundheitsinformationen in Leichter Sprache partizipativ entwickelt und barrierefrei zugänglich sein.

  • Maßnahmen zur Förderung des Gesundheitsbewusstseins und des Umgangs mit gesundheitsbezogenen Informationen sollten die spezifischen Fähigkeiten und sozialen Kontextfaktoren von Menschen mit Behinderung berücksichtigen und durch geschultes Personal begleitet werden.

  • Es bedarf der Einbindung nahestehender (Betreuungs‑)Personen und der Berücksichtigung der organisationalen Gesundheitskompetenz in den jeweiligen Lebenswelten.