Die Gesundheitskompetenz gerät als potenziell modifizierbare Determinante der Gesundheit zunehmend in den Fokus von Gesundheitsförderung und Prävention. Kinder und Jugendliche werden hierbei als zentrale Zielgruppe identifiziert, bislang ist jedoch nur wenig über die Gesundheitskompetenz junger Menschen bekannt. Dieser Beitrag stellt Daten zur Gesundheitskompetenz von Viertklässler*innen in Nordrhein-Westfalen vor und zeigt hierbei auf, wie schon im Alter von 9 bis 10 Jahren verschiedene Dimensionen der Gesundheitskompetenz entlang sozioökonomischer Merkmale ungleich verteilt sind.

Hintergrund

Gesundheitskompetenz (GK) kann als „das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten von Menschen [verstanden werden], relevante Gesundheitsinformationen […] zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden“ [24]. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist GK eine „kritische Determinante der Gesundheit“, die integraler Bestandteil der Fähigkeiten und Kompetenzen sein muss, die insbesondere durch das schulische Curriculum vermittelt werden [28]. Damit wird die Förderung von GK klar in Kindheit und Jugend verortet. Bislang liegen jedoch kaum Daten vor, anhand derer die GK von Kindern und Jugendlichen beschrieben und Interventionsbedarfe identifiziert werden könnten. Dies gilt insbesondere dann, wenn nur Kinder in den Blick genommen werden (hier verstanden als Menschen im Alter von <13 Jahren), die für Ansätze der Primärprävention und Gesundheitsförderung eine besonders bedeutende Zielgruppe darstellen. Während Übersichtsarbeiten zwar immerhin 20 Studien identifizieren konnten, die verschiedene Aspekte der GK (u. a.) bei Kindern messen [10, 14, 15, 18] (für eine Übersicht s. [2]), sind es für Deutschland nur 3 StudienFootnote 1:

  • Wallmann et al. [27] untersuchen gesundheitsbezogenes Wissen,

  • Schmidt et al. [21] erheben Wissen, Kommunikation und Einstellungen und

  • Bollweg et al. [3] erfassen selbstberichtete sowie funktionale GK.

Die von Bollweg et al. [3] gesammelten Daten wurden bislang nur hinsichtlich der Entwicklung eines Instruments zur Erfassung der GK von Kindern ausgewertet [3, 4]. Im Rahmen dieses Beitrags erfolgt daher erstmalig eine inhaltliche Darstellung der gesammelten Daten im Bereich der selbstberichteten GK, des Gesundheitswissens, sowie gesundheitsbezogener schriftsprachlicher und numerischer Fähigkeiten von Viertklässler*innen, um potenzielle Forschungs- und Interventionsbedarfe aufzuzeigen.

Methode

Es wurde eine einmalige, schriftliche Klassenraumbefragung an Schulen in Nordrhein-Westfalen (NRW) durchgeführt.

Zielgruppe

Zielgruppe waren Schüler*innen der vierten Grundschulklasse (Alter meist 9 bis 10 Jahre), da hier eine für eine standardisierte schriftliche Befragung ausreichende schriftsprachliche Kompetenz angenommen werden kann und diese junge Zielgruppe bisher kaum beforscht wurde.

Rekrutierung

Grundschulen im Umkreis von ca. 100 km um Duisburg, dem Sitz des durchführenden Umfragezentrums (Sozialwissenschaftliches Umfragezentrum [SUZ]), wurden zur Teilnahme eingeladen. Schulleiter*innen wurden postalisch über die Erhebung informiert, woraufhin Erziehungsberechtigte um die informierte Einwilligung zur Teilnahme ihres Kindes gebeten wurden.

Datenerhebung

Die schriftliche Klassenraumerhebung wurde zwischen November 2016 und Mai 2017 von geschulten Interviewer*innen des SUZ durchgeführt.

Erhebungsinstrumente

Die GK wurde multidimensional erhoben, d. h. mit Hinblick auf selbstberichtete (allgemeine) GK, funktionale GK sowie gesundheitsbezogenes Wissen. Ferner wurden soziodemografische Merkmale erfragt. Die genutzten Items finden sich in Anhang 1 (Zusatzmaterial online), weiterführende Angaben zur Auswertung in Anhang 2 (Zusatzmaterial online).

Selbstberichtete (allgemeine) Gesundheitskompetenz

Der HLS-Child-Q15, eine altersadaptierte Version des HLS-EU‑Q [11], wurde eingesetzt, um die empfundene Schwierigkeit des Umgangs mit gesundheitsbezogenen Informationen („selbstberichtete allgemeine GK“) zu erfassen. Die Fragen beginnen mit „Wie einfach oder schwierig ist es für dich, …?“ und werden auf einer 4‑stufigen Ratingskala von 1 – „sehr schwierig“ bis 4 – „sehr einfach“ beantwortet. Zudem wird die Kategorie „weiß nicht“ angeboten. Die Entwicklung und statistische Überprüfung des HLS-Child-Q15, die ebenfalls mit dem hier beschriebenen Datensatz vollzogen wurde, wurde anderswo beschrieben [3, 4, 13]. Die Skala weist eine gute interne Konsistenz auf (Cronbachs α = 0,791; [3]).

Funktionale Gesundheitskompetenz

Zur Erfassung schriftsprachlicher Fähigkeiten („literacy“) im Kontext Gesundheit („funktionale GK“) wurde ein in Anlehnung an den „test of functional health literacy in adults“ (TOFHLA; [17]) entwickelter Lückentext eingesetzt. Hierbei wurden in fünf Sätzen zum Thema Impfung 12 Wörter entfernt, für die aus je 4 Wörtern eine korrekte Ergänzung gewählt wird (für die Textgrundlage s. [29]). Der Test weist eine gute interne Konsistenz auf (KR-20 = 0,748). Ebenfalls in Anlehnung an den TOFHLA wurden numerische Fähigkeiten („numeracy“) mit 3 Items erfasst.

Gesundheitsbezogenes Wissen

Zur Erfassung gesundheitsbezogenen Wissens wurden fünf Items eingesetzt, z. B. „wenn auf einem Getränk ‚weniger Kalorien‘ steht, dann ist es auf jeden Fall gesund“. Es konnten „richtig“, „falsch“ und „weiß nicht“ angekreuzt werden.

Soziodemografische Daten

Als Proxy für den sozioökonomischen Status wurde die Family Affluence Scale (FAS III [26]) eingesetzt, welche mit sechs Items den materiellen familiären Wohlstand erfasst und seit 2013/14 als Standardinstrument der „Health Behaviour in School-aged Children“(HBSC)-Studie eingesetzt wird. Folgenden Gruppen wurden gebildet: „niedrigster Wohlstand“ (1. Quintil), „mittlerer Wohlstand“ (2. bis 4. Quintil) und „höchster Wohlstand“ (5. Quintil).

Als Proxy für einen Migrationshintergrund wurde die mit den Eltern gesprochene Sprache erfasst. Die Antworten wurden zusammengefasst als „nur Deutsch“ und „mindestens eine andere Sprache“.

Statistische Analyse

Die Beschreibung der Daten erfolgt deskriptivstatistisch anhand absoluter und relativer Häufigkeiten, Mittelwerten und Standardabweichungen. Unterschiede hinsichtlich Alter, Geschlecht, Wohlstand und der zuhause gesprochenen Sprache wurden mittels Mann-Whitney-U-Test auf statistische Signifikanz geprüft, wobei ein p-Wert von <5 % angelegt wurde.

Ergebnisse

Stichprobe

An 37 von 200 eingeladenen Schulen (18,5 %) konnten n = 1037 Schüler*innen befragt werden. Hiervon entfallen jedoch fünf Schulen und n = 130 Schüler*innen auf ein Pretest-Sample zur Erprobung von Skalen und Antwortformaten. Ferner wurden n = 8 Schüler*innen von der Analyse ausgeschlossen, da z. B. die Teilnahme abgebrochen wurde. Insgesamt konnten die Daten von 899 Schüler*innen herangezogen werden, verteilt auf 32 Schulen und 65 Klassen. 53,4 % sind weiblich und das Durchschnittsalter beträgt 9,56 Jahre (SD = 0,62). Fast zwei Drittel spricht zuhause nur Deutsch. Die Stichprobenmerkmale sind in Tab. 1 dargestellt.

Tab. 1 Stichprobenmerkmale

Selbstberichtete allgemeine Gesundheitskompetenz

Der Mittelwert für die Stichprobe liegt bei 3,34 (SD = 0,37; s. Tab. 2), der Umgang mit Gesundheitsinformationen wird als „eher einfach“ bis „sehr einfach“ empfunden. Es lassen sich keine Unterschiede nach Geschlecht, Alter oder der mit den Eltern gesprochenen Sprache nachweisen. Jedoch erzielen Kinder mit dem niedrigsten materiellen Wohlstand (MW = 3,24; SD = 0,43) schlechtere Werte als Kinder mit mittlerem (MW = 3,36; SD = 0,36; p < 0,05) und hohem Wohlstand (MW = 3,39; SD = 0,32; p < 0,01). Kinder mit mittlerem und hohem Wohlstand unterscheiden sich nicht signifikant.

Tab. 2 Dimensionen der Gesundheitskompetenz (GK)

Funktionale Gesundheitskompetenz

Der Durchschnittswert im Bereich „literacy“ beträgt 9,73 (SD = 1,98) von maximal 12 richtigen Antworten. Es lassen sich keine signifikanten Unterschiede nach Alter und Geschlecht beobachten. Kinder mit dem niedrigsten Wohlstand haben jedoch schlechtere Werte als Kinder mit mittlerem (9,27 vs. 9,76; p < 0,01) oder dem höchsten Wohlstand (9,27 vs. 10,08; p < 0,001). Auch Kinder mit mittlerem und hohem Wohlstand unterscheiden sich (9,76 vs. 10,08; p < 0,05). Zudem lassen sich Unterschiede in Abhängigkeit von der mit den Eltern gesprochenen Sprache beobachten („nur Deutsch“ vs. „mindestens eine andere Sprache“: 10,07 vs. 9,13; p < 0,001).

Im Bereich „numeracy“ erzielten 5,0 % der Schüler*innen keine, 24,0 % eine, 38,8 % zwei und 32,2 % drei richtige Antworten. Im Durchschnitt wurden zwei Aufgaben richtig beantwortet (MW = 1,98; SD = 0,87). Es lassen sich keine Unterschiede nach Alter und Geschlecht beobachten. Schüler*innen mit dem niedrigsten Wohlstand erzielen schlechtere Werte als solche mit mittlerem (1,71 vs. 2,01; p <0,01) oder dem höchsten Wohlstand (1,71 vs. 2,12; p < 0,001). Schüler*innen mit mittlerem und dem höchsten Wohlstand unterscheiden sich nicht signifikant. Zuletzt erzielen auch Schüler*innen, die zuhause nur Deutsch sprechen, bessere Werte (2,1 vs. 1,77; p < 0,001).

Gesundheitsbezogenes Wissen

Im Durchschnitt wurden 2,59 (SD = 1,12) von fünf Wissensfragen richtig beantwortet. Es wurden keine Unterschiede nach Alter und Geschlecht festgestellt. Schüler*innen mit dem niedrigsten Wohlstand weisen niedrigere Werte auf als solche mit mittlerem (2,29 vs. 2,66; p < 0,001) oder dem höchsten Wohlstand (2,29 vs. 2,74; p < 0,001). Schüler*innen mit mittlerem und hohem Wohlstand unterscheiden sich nicht signifikant. Schüler*innen, die nur Deutsch mit ihren Eltern sprechen, erreichen höhere Werte als solche, die auch eine andere Sprache sprechen (2,7 vs. 2,41; p < 0,01).

Dimensionen der Gesundheitskompetenz – Zusammenhänge

Selbstberichtete GK korreliert mit keiner der anderen Dimensionen der GK in statistisch signifikanter Hinsicht („literacy“: p = 0,065; „numeracy“: p = 0,144; Wissen: p = 0,340). „Literacy“ korreliert dahingegen mit „numeracy“ (r = 0,298; p < 0,01) und Gesundheitswissen (r = 0,184; p < 0,01) und auch „numeracy“ und Gesundheitswissen korrelieren signifikant (r = 0,146; p < 0,01).

Diskussion

Stichprobe

Erwartungsgemäß sind die meisten Teilnehmer*innen 9 oder 10 Jahre alt (n = 839; 93,3 % der Stichprobe), es haben jedoch auch 8‑ (n = 6; 0,7 %), 11- (n = 41; 4,6 %), und 12-Jährige (n = 4; 0,4 %) teilgenommen. Dies wirkt zunächst überraschend, ist jedoch mit der gängigen Schulpraxis zu erklären, die die Einschulung mit 5 Jahren, das Überspringen einer Schulklasse, die Rückstellung von der Einschulung sowie die Wiederholung eines Schuljahres ermöglicht. Eine separate Betrachtung der 8- und 12-Jährigen scheint zwar ratsam, ist aufgrund der geringen Fallzahl (insgesamt n = 10) hier jedoch fraglich. Bei der Betrachtung der 11-Jährigen, die mit n = 41 stärker vertreten sind, zeigt sich, dass diese gegenüber den 9‑ und 10-Jährigen schlechter abschneiden. Diese Unterschiede in selbstberichteter GK, Gesundheitswissen und schriftsprachlicher Fähigkeiten sind gegenüber den 9‑ und 10-Jährigen signifikant, bei den Rechenfertigkeiten nur gegenüber den 10-Jährigen. Dieser Befund ist kontraintuitiv, da bei älteren Schüler*innen ein besseres Kompetenzniveau erwartet werden kann. Hier kommt jedoch vermutlich der Umstand zum Tragen, dass nicht 11-Jährige in ihrer „regulären“ Klassenstufe (5. oder 6. Klasse) mit 9‑ und 10-Jährigen in der 4. Klasse verglichen werden, sondern eben diejenigen 11-Jährigen, die aus verschiedenen Gründen „noch“ die 4. Klasse besuchen. Daher wurden alle Altersgruppen in die Analysen einbezogen, um keine idealtypische Klasse abzubilden, sondern die vorliegende Stichprobe in ihrer Gesamtheit zu beschreiben.

Selbstberichtete allgemeine Gesundheitskompetenz

Die Mehrheit der befragten Kinder empfindet kaum Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen. Selbst das Quintil mit der geringsten GK erreicht mit 2,81 noch einen Mittelwert im leicht positiven Bereich (vgl. Tab. 2). Werden die Schwellenwerte der HLS-EU-Q-Studie [11] angelegt, haben 84,9 % eine „ausreichende“ (46,2 %) oder „exzellente“ GK (38,7 %), während für 15,1 % eine „problematische“ (12,6 %) oder „inadäquate“ GK (2,5) festgestellt wird (s. Tab. 2). Da der HLS-EU‑Q zuvor nicht für das Kindesalter adaptiert wurde, liegen keine Referenzwerte vor. Für Erwachsene in NRW sowie Jugendliche in Österreich wurde allerdings ein höherer Anteil mit „problematischer“ oder „inadäquater“ GK ermittelt (NRW: 46,3 % [23]; AT: 58,0 % [19]). Der direkte Vergleich ist aber nur eingeschränkt möglich, da sich HLS-Child-Q15 und HLS-EU‑Q in Inhalt und Struktur unterscheiden.

Der Großteil der im Kindesalter durchgeführten Studien kann im Bereich der selbstberichteten, allgemeinen GK nicht zum Vergleich herangezogen werden, da z. B. funktionale GK, Wissen, Einstellungen oder spezifische Inhalte wie die psychische Gesundheit und Asthma erfasst werden (vgl. [2]). Brown et al. [5] berichten jedoch, dass 74,3 % der 9‑jährigen und 85,6 % der 10-jährigen Befragten das meiste, was sie über Gesundheit hören, laut Selbstauskunft (sehr) einfach verstehen können. Dies lässt sich als hohe selbstberichtete GK interpretieren, die auch hier beobachtet wurde.

Kinder, die einen niedrigen Wohlstand aufweisen, empfinden den Umgang mit Gesundheitsinformationen als schwieriger. Dieser soziale Gradient konnte bereits im Erwachsenenalter beobachtet werden [23] und auch im Jugendalter lässt sich ein Gradient mit Hinblick auf den Wohlstand – nicht jedoch die Sprache – beobachten [19]. Auch Manganello et al. [12] beobachten Unterschiede hinsichtlich der Ethnizität und des Wohlstands, nicht aber hinsichtlich der gesprochenen Sprache. Diese Befunde decken sich mit unseren Daten. Für einen bzgl. der Altersgruppe direkten Vergleich hinsichtlich des Gradienten selbstberichteter, allgemeiner GK liegen bislang jedoch keine Daten vor.

Zur Interpretation selbstberichteter Gesundheitskompetenz

Bei der Interpretation der Befunde ist die Relationalität des Konstrukts GK zu berücksichtigen [16]: Während „Gesundheitskompetenz“ begrifflich auf ein individuelles Attribut verweist, entfaltet sich selbstberichtete GK als Abwägen zwischen wahrgenommenen Bewältigungsressourcen und Anforderungen. Die empfundene Einfachheit dabei, „herauszufinden, welches Essen für dich gesund ist“ (HLS-Child-Q15 Item 4) spricht z. B. zunächst nur dafür, dass Kinder den Eindruck haben, die Herausforderungen bewältigen zu können, denen sie bei der Wahl von Lebensmitteln begegnen. Ob dieses Urteil durch ein starkes Selbstvertrauen, gutes Wissen über Nahrungsmittel, die Unterstützung durch Bezugspersonen oder durch Selbstüberschätzung zustande kommt, ergibt sich nur mittelbar. Vor diesem Hintergrund muss auch diskutiert werden, warum z. B. jüngere Menschen vermeintlich eine bessere Gesundheitskompetenz aufweisen [20], wenn aufgrund ihrer geringeren Erfahrung das Gegenteil zu erwarten wäre.

Selbstberichtete GK ist folglich ein subjektives und relationales Maß, das nicht als individuelle Kompetenz interpretiert werden sollte. Die GK-Level der HLS-EU-Q-Studie („problematische GK“ usw.) sind daher kritisch zu betrachten – und werden hier deshalb berichtet – da sie potenziell fehlende Bewältigungs- und Unterstützungsressourcen begrifflich als Kompetenzdefizite auslegen. Gerade im Kindesalter darf die Bedeutung des sozialen Netzwerks bei der Bewältigung gesundheitsbezogener Anforderungen nicht unterschätzt werden, wobei im Diskurs die Einbettung der GK in soziale Gefüge bislang noch nicht ausreichend berücksichtigt wird [1].

Funktionale Gesundheitskompetenz

In dieser Studie ließ sich ein deutlicher sozialer Gradient der „literacy“ und „numeracy“ belegen. Dieser Gradient konnte auch in früheren Studien beobachtet werden, z. B. als Zusammenhang zwischen der Ethnizität der Teilnehmenden, ihrer „literacy“ [6, 12] und „numeracy“ [12]. Auch Unterschiede hinsichtlich des Wohlstands und der zuhause gesprochenen Sprache wurden beschrieben [12]. Dem stehen jedoch Studien gegenüber, die keine solche Unterschiede berichten [8, 22]. Die Studienlage ist somit wenig eindeutig. Dennoch weisen unsere Daten darauf hin, dass schriftsprachliche und numerische gesundheitsbezogene Fähigkeiten schon im Grundschulalter ungleich verteilt sind.

Gesundheitsbezogenes Wissen

Auch im Bereich Gesundheitswissen wurde ein sozialer Gradient beobachtet. Ähnliche Ergebnisse liefern Studien, die ein besseres Gesundheitswissen unter Kindern von Eltern mit höherem Bildungsgrad [21] sowie unter Gymnasiast*innen nachweisen [27]. Darüber hinaus mangelt es jedoch auch in diesem Bereich an Evidenz.

Dimensionen der Gesundheitskompetenz

Zwar hängt selbstberichtete (allgemeine) GK theoretisch mit grundlegenden Formen der GK zusammen, dies wurde hier aber nicht bestätigt: In unserer Stichprobe ist das Urteil darüber, ob der Umgang mit gesundheitsbezogenen Informationen als schwierig oder einfach empfunden wird, nicht von funktionalen Fähigkeiten und Wissen abhängig. Eine mögliche Erklärung ist, dass die gesundheitsbezogenen Bereiche, die im HLS-Child-Q15 erfragt werden, mithilfe sozialer Unterstützungsinstanzen und Informationsangebote bewältigt werden können, ohne dass auf funktionale GK und Wissen zurückgegriffen werden muss. Möglich ist jedoch auch, dass die Bereiche, in denen Kinder ihre eigenen Kompetenzen anwenden, um mit Gesundheitsinformationen umzugehen, nicht durch den Fragebogen erfasst wurden.

Auch zu beachten ist, dass nur bivariate Zusammenhänge dargestellt wurden, die das komplexe Zusammenspiel zwischen den Variablen kaum abbilden. In multivariaten Analysen, die Freţian et al. [9] mit den hier beschriebenen Daten vollzogen haben, zeigte sich unter Kontrolle weiterer Variablen z. B. eine signifikante Beziehung zwischen Literacy und selbstberichteter GK. Zur Beziehung funktionaler und selbstberichteter GK im Kindesalter ist daher weitere Forschung nötig.

In anderen Studien, die mittels HLS-EU‑Q selbstberichtete GK erfassen, zeigt sich, dass bei 15- [19] sowie 14- bis 17-Jährigen [7] selbstberichtete und funktionale GK korrelieren, was auch bei Erwachsenen beobachtet wurde [11].

Materieller Wohlstand

In dieser Studie kam die FAS III zur näherungsweisen Erfassung des materiellen Wohlstands zum Einsatz. Die FAS ist insbesondere dann hilfreich, wenn Standardindikatoren wie das Familieneinkommen sowie der Beruf und Bildungsabschluss der Eltern nicht verlässlich erfasst werden können – was auch hier der Fall war, da nur Kinder selbst befragt wurden. Bei der Interpretation der mittels FAS gesammelten Befunde ist jedoch zu beachten, dass die Skala die ökonomische Lebenssituation der Befragten nur mittelbar widerspiegelt. Primär werden materielle Güter im Haushalt adressiert, wobei z. B. eine geringe Anzahl von Autos oder Computern im Familienbesitz als Indikator für einen geringen Wohlstand interpretiert wird. Ein ausgeprägtes Nachhaltigkeitsdenken oder der gezielte Verzicht – beides keineswegs notwendigerweise mit Armut verbunden – werden so möglicherweise als geringer Wohlstand fehlinterpretiert. Dementsprechend ist es ratsam, dass der hier beschriebene Gradient der GK in zukünftigen Studien auch mit alternativen Indikatoren ergründet wird, die den sozioökonomischen Status detaillierter erfassen und z. B. auch das subjektive Armutsempfinden adressieren.

Limitationen

Den Analysen liegt keine repräsentative Stichprobe zugrunde, weshalb die Generalisierbarkeit eingeschränkt ist. Zudem wurde die Befragung im Klassenraum durchgeführt, was sich ungünstig auf die Tendenz zum sozial erwünschten Antwortverhalten ausgewirkt haben kann. Eine Selbstüberschätzung im Bereich der selbstberichteten GK ist daher möglich. Ferner kamen in dieser Studie neu entwickelte Instrumente zum Einsatz, deren psychometrische Güte nicht durchgängig festgestellt wurde. Dem wäre der ausschließliche Einsatz validierter Instrumente vorzuziehen.

Schlussfolgerung

Dies ist die erste Studie, die verschiedene Dimensionen der GK bei Kindern in NRW erfasst. Die selbstberichtete GK der befragten Viertklässler*innen ist hoch: Sie empfinden den Umgang mit Gesundheitsinformationen als einfach. Dennoch lässt sich schon in dieser jungen Altersgruppe ein sozialer Gradient in allen Dimensionen der GK nachzeichnen: Materiell schlechter gestellte Kinder empfinden den Umgang mit Gesundheitsinformationen als schwieriger. Zudem schneiden sie schlechter in den Bereichen „literacy“, „numeracy“ und Gesundheitswissen ab – was auch für Kinder gilt, die zuhause (auch) eine andere Sprache als Deutsch sprechen. Diese Ergebnisse legen nahe, dass schon im Grundschulalter wesentliche Voraussetzungen für den kompetenten Umgang mit Gesundheitsinformationen nicht allen Kindern zur Verfügung stehen. Hier besteht folglich Forschungsbedarf bzgl. der Entstehungsbedingungen und Wechselwirkungen der verschiedenen Dimensionen der GK, da die GK von Kindern nach wie vor lückenhaft erforscht ist und auch international kaum Vergleichswerte vorliegen. Perspektivisch zeichnet sich jedoch auch deutlicher Interventionsbedarf ab, wenn von der Wichtigkeit der Gesundheitskompetenz für die Ermöglichung gesundheitlicher Partizipation und größtmöglicher Gesundheitschancen ausgegangen wird. Primäres Ziel sollte hierbei sein, dass alle Kinder unabhängig von ihrer sozialen und ökonomischen Herkunft ein optimales Maß an GK entwickeln können.

Fazit für die Praxis

  • Schon im Grundschulalter ist die Gesundheitskompetenz von Kindern entlang sozioökonomischer Merkmale ungleich verteilt.

  • Interventionen müssen daher früh ansetzen, um die Vergrößerung von Disparitäten der Gesundheitskompetenz im weiteren Lebensverlauf zu vermeiden.

  • Mehr Forschung ist notwendig, um die Mechanismen der Entwicklung von Gesundheitskompetenz besser verstehen und Interventionsmöglichkeiten identifizieren zu können.