Hinführung zum Thema

Es gilt als belegt, dass zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in Bezug auf glücksspielbedingte Probleme gesundheitliche Ungleichheiten bestehen [13]. Internationale Studien legen nahe, dass die Prävalenz glücksspielbedingter Probleme innerhalb der Migrationsbevölkerung bzw. unter bestimmten ethnischen Gruppen im Vergleich zu der Mehrheitsgesellschaft höher ist [12]. Dabei nehmen Personen mit Migrationshintergrund keineswegs häufiger an Glücksspielen teil als die einheimische Bevölkerung. Doch sind diejenigen, die an Glücksspielen teilnehmen, möglicherweise gefährdeter, Probleme zu entwickeln [14, 29].

Hintergrund und Fragestellung

Befunden zufolge suchen pathologische Spielende mit Migrationshintergrund seltener Beratungs- und Behandlungsstellen auf [2, 4]. Die chancengerechte Ausrichtung von Präventions- und Behandlungsangeboten erfordert es, dass Zugangsbarrieren für Personen mit Migrationshintergrund mit glückspielbedingten Problemen möglichst gering sind. Entsprechend stellt sich die Frage nach der Ausgestaltung von präventiven Maßnahmen, die sich gezielt an die entsprechenden Personengruppen richten [16]. Im Rahmen einer Literaturrecherche wird die Frage untersucht, welche Zugangsbarrieren für Migrantinnen und Migranten mit glücksspielbedingten Problemen in Bezug auf die Inanspruchnahme von präventiven Angeboten bestehen und mit welchen Strategien die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme ebendieser Angebote erhöht werden kann.

Methode

Die Literatursuche fand im Zeitraum zwischen Juli und August 2019 statt. Davon ausgehend, dass richtungsweisende Studien in die aktuellen Studien Eingang gefunden haben, wurde auf aktuelle Studien ab dem Jahr 2014 Bezug genommen. Für die Literatursuche wurden die Datenbanken PubMed, Embase und Google Scholar ausgewählt. Für die Literaturrecherche wurden Schlüsselbegriffe und Wortstämme für die vier Beschreibungsdimensionen „Gambling“, „Migrant“, „Prevention“ und „Help-Seeking“ festgelegt. Davon ausgehend, dass richtungsweisende Studien in die aktuellen Studien Eingang gefunden haben, wurde auf aktuelle Studien ab dem Jahr 2014 Bezug genommen (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Flowchart basierend auf dem PRISMA-Flussdiagramm

Die Datenextraktion erfolgt unter Verwendung der PRISMA-Richtlinien [21] Insgesamt ergab die Suche 1049 Artikel. Bei diesen Artikeln wurden die Titel geprüft. 3 weitere Artikel wurden identifiziert, indem die Bibliografien der identifizierten Artikel durchsucht wurden. In das Ereignisprotokoll wurden diejenigen Publikationen aufgenommen, welche einen direkten Bezug zum Glücksspiel hatten (n = 447). Bei diesen Artikeln wurde der Abstract gelesen. Letztlich wurden 38 Artikel als geeignet eingestuft und gelesen. Eingeschlossen wurden nur Studien, welche explizit die Dimensionen „Migrant“, „Inanspruchnahme von präventiven Angeboten“ sowie „glücksspielsuchtbedingte Probleme“ beinhalteten. Artikel, welche die Inanspruchnahme von Maßnahmen des Verbraucherschutzes wie bspw. die Spielersperre behandeln, wurden nicht berücksichtigt. Gemäß der Ein- und Ausschlusskriterien und nach Prüfung auf Eignung wurden 12 Studien aufgenommen (Tab. 1).

Tab. 1 Studien zur Inanspruchnahme von präventiven Angeboten durch Migrantinnen und Migranten mit glücksspielbedingten Problemen

Ergebnisse

Zugangsbarrieren

Generell sind die Raten der Inanspruchnahme von Präventions- und Behandlungsangeboten bei pathologischen Spielenden niedrig [4, 17, 19, 27]. Die Gründe dafür sind vielfältig: Scham, die Angst vor Stigmatisierung, das Leugnen des Problems, die Überzeugung, es selber lösen zu können, und die Angst vor hohen Behandlungskosten scheinen die wesentlichen Barrieren darzustellen [11]. Mehrere Studien legen nahe, dass die Angst vor Stigmatisierung bei Personen mit Migrationshintergrund besonders ausgeprägt ist [5,6,7,8,9,10, 18, 20, 22, 24, 29]. In der Migrationssituation steigt die Bedeutung direkter – insbesondere familiärer – Kontakte. Die Angst, das Gesicht zu verlieren oder die Familie in ein schlechtes Licht zu rücken, kann daher ausgeprägter sein [5,6,7,8, 18, 20]. Dies kann dazu führen, dass Betroffene es vorziehen, die Probleme selber oder familienintern zu lösen [5, 7,8,9, 18, 22, 29].

Eng mit dem Problem der Scham und Stigmatisierung verbunden ist die Befürchtung, als „psychisch krank“ abgestempelt zu werden [20]. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Migrantinnen und Migranten die glücksspielbedingte Störung nicht mit einer Sucht assoziieren [2, 6, 9, 20, 22]. Aufgrund der in der in der Regel kurzen Verweildauer bekunden Migrantinnen und Migranten zudem oftmals Schwierigkeiten, sich im Sozial- und Gesundheitswesen der Aufnahmegesellschaft zu orientieren bzw. wissen nicht, dass es solche Angebote gibt [2, 5,6,7,8, 20, 22, 25, 28, 29]. Informationsdefizite können dazu führen, dass das Verständnis für „westliche“ psychologische Beratungs- und Behandlungskonzepte fehlt [2, 6, 8, 18, 22, 28, 29]. Dies wiederum kann zur Folge haben, dass sich Betroffene nicht in den Behandlungsprozess einbringen. Der Mangel an Vertrauen in die Konzepte führt dazu, dass Betroffene sehr zurückhaltend sind, im Rahmen einer Selbsthilfegruppe oder einer Beratungssituation mit Dritten über persönliche Probleme zu sprechen [8, 18, 20]. Skepsis kommt nicht nur gegenüber den Beratungs- und Behandlungskonzepten zum Ausdruck, sondern auch in Bezug auf Bedenken hinsichtlich Privatsphäre und Vertraulichkeit [5,6,7, 20]. Beratungs- und Behandlungsangebote werden möglicherweise auch deshalb nicht genutzt, weil die Betroffenen negative Konsequenzen für sich und ihre Familie befürchten. Das Misstrauen gegenüber Fachpersonen kann auch Ausdruck von erlebten Diskriminierungen sein [18]. Sprachliche Probleme und soziokulturell bedingte Missverständnisse sind ebenfalls Zugangsbarrieren [2, 6,7,8,9, 20, 22]. Die Gründe für die geringe Inanspruchnahme der präventiven Angebote durch Migrantinnen und Migranten dürfen jedoch keineswegs einseitig bei der betroffenen Bevölkerungsgruppe gesucht werden. Vielerorts lässt sich eine mangelhafte Abstimmung des Gesundheitssystems auf die Bedürfnisse und den kulturellen Bezugsrahmen von Menschen mit Migrationshintergrund feststellen [2, 8, 9, 22, 29].

Ansätze und Strategien für eine erhöhte Inanspruchnahme der präventiven Angebote

Ansätze, welche auf die Minimierung von Scham und Angst vor Stigmatisierung abzielen, empfehlen die Zusammenarbeit mit Multiplikatoren aus Migrationsgesellschaften, in denen die Prävalenz an glücksspielbedingten Problemen nachweislich besonders hoch ist. Die Strategie zielt darauf ab, dass diese Personen oder Institutionen die anvisierten Zielgruppen über die mit dem Glücksspiel verbundenen Risiken informieren und das Thema der Suchterkrankung ansprechen [6, 8, 9, 28]. Die Beratungs- und Behandlungsangebote sollen bekannt gemacht und insbesondere entstigmatisiert werden [6, 8, 9, 20]. Weitere operative Empfehlungen legen nahe, dass Informationsbroschüren für pathologisch Glücksspielende abseits der Spielstätten und möglichst im öffentlichen Raum aufgelegt werden sollten, da diese von den Betroffenen aus Scham vor Ort nur selten mitgenommen würden [20]. Ferner sollten spezifischen Informationen die Zugangswege zu entsprechenden Stellen erleichtern [18, 28]. Für das Bekanntmachen der präventiven Angebote muss aktiv auf die jeweiligen Migrationsgemeinden zugegangen werden [6, 7, 18, 22, 28].

Für die Vermittlung von präventiven Botschaften darf der Zugang über die konventionellen Kanäle wie beispielsweise Informationsbroschüren nicht außer Acht gelassen werden. Am einfachsten erscheint es, Informationsmaterial zu übersetzen. Allerdings kann die reine sprachliche Übersetzung ohne inhaltliche Anpassung an Normen und Werte dazu führen, dass das Angebot als kulturell unangemessen wahrgenommen wird [3]. Dieses Problem stellt sich in besonderem Maße, weil Glücksspiele unterschiedlich konnotiert werden. Es empfiehlt sich daher, mit Mediatoren zusammenzuarbeiten, welche die Inhalte nicht „nur“ sprachlich, sondern auch in Bezug auf den soziokulturellen Bedeutungsgehalt vermitteln können [6, 9, 18, 22, 28]. Wird eine größere Reichweite angestrebt, müssen die Botschaften über spezifische Kanäle vermittelt werden. Dabei sollten die von den jeweiligen Migrationsgemeinden genutzten Medien berücksichtigt werden, etwa spezielle Radiosendungen, Zeitungen oder Social Media. Außerdem sind Settings wie Imbissstuben, Kulturlokale, aber auch Wartezimmer von ärztlichen Praxen für die Verbreitung von präventionsrelevanten Informationen zu nutzen [8, 9, 18, 22, 28].

Neben Maßnahmen, welche der primären Prävention und der Gesundheitsförderung zugeordnet werden können, bedarf es für Personen mit einer subklinischen Symptomatik Maßnahmen der sekundären Prävention. Viele Migrantinnen und Migranten sind eher bereit, mit Allgemeinpraktikerinnen und -praktikern über ihre Probleme zu sprechen [2, 8, 22, 24]. Daher ist es wichtig, dass diese für die Thematik rund um das problematische Glücksspiel sensibilisiert sind. Neben Hausärztinnen und -ärzten sollten Fachpersonen der Sozialen Arbeit, aber auch Lehrpersonen für die Früherkennung von glücksspielbedingten Problemen geschult werden [15].

Neben der interkulturellen Kompetenz der Fachperson [8, 18, 29], welche unabdingbar ist, besteht das Bedürfnis nach muttersprachlicher Beratung und Behandlung [5,6,7,8,9, 18, 20, 29]. Es ist grundsätzlich erstrebenswert, dass Fachpersonen mit Migrationserfahrung für Präventions- und Behandlungsangebote qualifiziert werden. Ein solcher Hintergrund ist an und für sich ohne Zweifel bereits eine Ressource; das gezielte Einsetzen dieser Ressource muss aber ebenfalls gelernt sein [6,7,8,9, 18, 22]. Steht kein muttersprachliches Personal zur Verfügung, sollten Dolmetscher zur Verfügung gestellt werden. Angehörige oder nähere Bekannte mit dieser Aufgabe zu betrauen, gilt gemeinhin als kritisch [20]. Da die Familie in Migrationssituationen eine wichtige Rolle spielen kann, müssen Behandlungskonzepte entwickelt werden, die auf Wunsch der Betroffenen Familienmitglieder einbeziehen [7, 9, 18, 22].

Es gibt Behandlungsansätze, welche sich explizit für die Anwendung in diversen Settings gut eignen. Kurze und kompakte Interventionen wie „motivational interviewing“ oder die kognitive Verhaltenstherapie erweisen sich gerade auch vor dem Hintergrund, dass Migrantinnen und Migranten möglichweise einen niedrigeren sozioökonomischen Status haben als die einheimische Bevölkerung, als zielführend [24]. In Anbetracht dessen, dass sich Migrantinnen und Migranten in einem höheren Ausmaß vor Stigmatisierungen fürchten, erweisen sich online verfügbare Selbsthilfeprogramme als zielführend ([8]; Tab. 2).

Tab. 2 Ansätze und Strategien zur Reduktion von Zugangsbarrieren im Präventionsbereich

Diskussion

Die Sichtweise, dass aktiv auf die Migrationsbevölkerung zugegangen werden und mit Multiplikatoren zusammengearbeitet werden muss, hat sich in Theorie und Praxis durchgesetzt. Nichtsdestotrotz fällt auf, dass die in den Ergebnissen vorgeschlagenen Konzepte weitgehend von qualifizierten Expertinnen und Experten entwickelt wurden und damit mehrheitlich der Top-down-Sichtweise folgen. Ansätze, die der Bottom-up-Strategie folgen, sollten in der Prävention gleichberechtigt verankert werden. Je frühzeitiger die Zielgruppen an der Problemdefinition und Angebotsgestaltung partizipieren, desto niedriger sind die Barrieren der Inanspruchnahme und Veränderung von gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen [1]. Menschen können ihr Gesundheitspotenzial nur dann weitgehend selbst entfalten, wenn sie auf Faktoren, die ihre Gesundheit beeinflussen, auch Einfluss nehmen können [23].

In methodischer Hinsicht muss auf einige Begrenzungen hingewiesen werden. Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Migrationshintergrund und glücksspielbedingten Problemen erweist sich als schwierig, weil die fundierte Analyse aller Verursachungsfaktoren von glückspielbedingten Problemen aufgrund ihrer Vielfältigkeit, auch ohne die Berücksichtigung von Migration, nahezu unüberschaubar erscheint [26]. Außerdem sind die Gründe, weshalb Betroffene Unterstützung annehmen bzw. nicht annehmen, in der Realität viel komplexer und vielfältiger. Die im Rahmen der analytischen Epidemiologie behandelte Frage, ob eine Assoziation besteht zwischen einem vermuteten Risikofaktor – z. B. Sprache als Zugangsbarriere – und dem Outcome – (k)eine Inanspruchnahme einer Behandlung – und ob diese Assoziation kausal ist, kann mit den gängigen sozialwissenschaftlichen Methoden nicht überprüft werden. Die Ergebnisse müssen aus dieser Perspektive diskutiert und mit Vorsicht interpretiert werden.

Fazit für die Praxis

Prävention und Gesundheitsförderung:

  • Einbezug der anvisierten Zielgruppe bei der Problemdefinition, der Bedürfnisartikulation und bei der Angebotsentwicklung,

  • direkte Ansprache der Zielgruppe und Information über bestehende Beratungs- und Behandlungsangebote,

  • Zusammenarbeit mit Personen oder Institutionen, die die präventiven Botschaften an die Zielgruppe weiterleiten und dadurch multiplizieren,

  • Förderung der Qualifikation von Fachpersonen mit Migrationserfahrung aus dem Gesundheitssystem.

Früherkennung:

  • Der Zugang zur Regelversorgung ist einfacher; die Barrieren sind niedriger. Daher sollte diese Berufsgruppen für die Thematik des problematischen Glücksspiels sensibilisiert werden.

Beratung und Behandlung:

  • muttersprachliche Behandlungsangebote,

  • Behandlungskonzepte, die den Einbezug von Familienmitgliedern miteinschließen,

  • Interventionen wie „motivational interviewing“ oder die kognitive Verhaltenstherapie.