Hintergrund und Fragestellung

Die Vereinbarkeit von Beruf, Privatleben und gleichzeitig steigender Pflegeverantwortung ist gerade in Zeiten demographischer Veränderungen eine Herausforderung für die Organisationsstruktur und Wirtschaftlichkeit von Unternehmen [1, 19]. Nicht nur führt das Altern der Bevölkerung perspektivisch zu einer alternden Belegschaft, auch werden viele jüngere und gesunde Menschen in Zukunft in die Pflege und Unterstützung ihrer Angehörigen eingebunden sein. Nicht umsonst werden informell Pflegende bereits jetzt als „größter Pflegedienst der Nation“ bezeichnet [12]. Im Jahr 2014 haben etwa 16 % der 40- bis 85-Jährigen in Deutschland mindestens eine andere Person regelmäßig gepflegt oder anderweitig unterstützt [21]. Eine nach Altersgruppen getrennte Betrachtung von pflegenden Angehörigen ergibt, dass ein Großteil von ihnen zwischen 55 und 69 Jahre alt ist – 11,9 % der Frauen und 6 % der Männer dieses Alters unterstützen pflegebedürftige Angehörige regelmäßig und in unterschiedlichem Umfang [21]. Jüngere Menschen mit Pflegeverantwortung werden in der Berichterstattung nur selten fokussiert oder sogar ignoriert [15, 22] und das, obwohl der Anteil der informell Pflegenden zwischen 18 und 24 Jahren ebenfalls bei etwa 5 % liegt [21]. Seit einigen Jahren rückt in Deutschland zwar die Thematik der „young carers“, d. h. der Kinder und Jugendlichen mit Pflegeverantwortung, stärker in den Fokus (z. B. [22]), die bereits erwähnte Altersgruppe der jungen Erwachsenen fällt aber auch aus diesen Betrachtungen heraus, wenngleich vermutet wird, dass sie sich mit ganz spezifischen Belastungen und Herausforderungen konfrontiert sehen [8, 22]. Verglichen mit anderen Altersgruppen ist einer der charakteristischen Unterschiede die Schwierigkeit, die eigene Ausbildung – sei es die klassische Berufsausbildung oder ein Studium – mit der Pflege eines Elternteils oder einer anderen nahestehenden Person zu vereinbaren. Erste Studien zeigen, dass Überlastung in ihrer Folge zu hohen Fehlzeiten und Leistungseinbußen führt, die wiederum Auswirkungen auf die weitere berufliche Zukunft haben können [8]. Hochschulen und Universitäten bieten in diesem Kontext ein relevantes Forschungsfeld [7], da Studierende als größte vertretene Statusgruppe mit dieser Mehrfachbelastung konfrontiert sein können. Der aktuelle Bericht zur Lage der Studierenden in Deutschland (2017) zeigt, dass immerhin 5 % aller Studienabbrüche der Überlastung durch die Pflege Angehöriger geschuldet sind [16]. Zwar bieten bereits einige Hochschulen Möglichkeiten zur Unterstützung von Studierenden mit Pflegeverantwortung an, jedoch ermittelten beispielsweise Müller et al. (2016), dass viele dieser Angebote bisweilen kaum zielgerichtet kommuniziert werden und daher von Studierenden ungenutzt bleiben [18]. Die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg) ist mit fast 17.000 Studierenden die drittgrößte Fachhochschule in Deutschland [10]. Um vor dem Hintergrund der aufgezeigten Zusammenhänge die Situation von Studierenden mit regelmäßiger Pflegeverantwortung zu erfassen und Hinweise für eine – nicht nur hochschulinterne – zielgruppengerechte Unterstützung von Betroffenen zu generieren, wurde im Januar 2017 im Rahmen einer Untersuchung des Competence Centers Gesundheit der HAW Hamburg eine standardisierte und anonymisierte Onlinebefragung durchgeführt. Hinsichtlich des Wissensstands über und die Ausgestaltung von zielgruppengerechter Unterstützung waren folgende Forschungsfragen handlungsleitend: In welchem Umfang sind Studierende der HAW Hamburg in häusliche Pflege und Unterstützung eingebunden? Welche Belastungen sind mit der regelmäßigen Pflege und Unterstützung verbunden und wie wirkt sich die Gesamtsituation auf das Studium der betroffenen Studierenden aus? Nutzen Studierende mit Pflegeverantwortung das Entlastungsangebot der Hochschule und lassen sich Potenziale für weiterführende Entlastungsangebote identifizieren?

Studiendesign und Methoden

Um die Situation von Studierenden mit regelmäßigen Pflege- und Unterstützungsaufgaben abzubilden, wurde ein standardisierter Fragebogen entwickelt und im Januar 2017 an Studierende der Hochschule versandt. Nachstehend werden die Inhalte der Befragung und die Methoden der Datenerhebung und -auswertung dargestellt.

Entwicklung des Befragungsinstruments und Datenerhebung

Es erfolgte die Entwicklung eines standardisierten Befragungsinstruments, welches die in Tab. 1 aufgeführten sechs Dimensionen inklusive der dargestellten Inhalte umfasst. Die überwiegend geschlossenen Fragen wurden partiell um offene Fragen ergänzt, wenn ein zusätzlicher Informationsgewinn von Seiten der Befragten zu erwarten war [6]. Die Angaben zum Studium beinhalten neben hochschulbezogenen Informationen zur Fakultät oder angestrebtem Studienabschluss auch zwei Fragen in Anlehnung an die Erhebung des Deutschen Studierendenwerks (2013), die zum einen den wöchentlichen zeitlichen Aufwand (beispielsweise für Lehrveranstaltungen) und zum anderen die relevante zeitliche Belastung durch die benannten Tätigkeiten erheben [17]. Die Angaben zur Person schließen mit einer Filterfrage zu regelmäßigen Pflege- oder Unterstützungstätigkeiten, weshalb die weitere Befragung ausschließlich von Studierenden mit Pflege- oder Unterstützungsverantwortung beantwortet wurde (Tab. 1).

Tab. 1 Dimensionen des Erhebungsinstruments (eigene Darstellung)

Die für die Abfrage zur Gestaltung der Pflege- und Unterstützungssituation entwickelte Skala „Aufgaben pflegender Studierender“ bildet Art und Umfang regelmäßig übernommener Tätigkeiten (täglich, wöchentlich, monatlich, jährlich) ab. Die Items sind dabei zum einen angelehnt an die Tätigkeiten der Grundpflege des elften Sozialgesetzbuches (SGB XI, soziale Pflegeversicherung) – Körperpflege, Mobilität und Ernährung – und beinhalten zudem Items zur Unterstützung im Haushalt, bei Arztbesuchen, bei Verwaltungstätigkeiten, Freizeitbeschäftigungen und der Begleitung im Falle akut-stationärer Aufenthalte. Die interne Konsistenz der Skala liegt mit einem Cronbachs α von 0,78 in einem annähernd annehmbaren Bereich (>0,80; [6]). Die Skala zu den mit der Unterstützung verbundenen Emotionen („Emotionsskala“) besteht aus drei Subskalen und beinhaltet neben ausgewählten Items in Anlehnung an die Häusliche Pflegeskala nach Gräßel (2001; [5]) auch Items, die insbesondere mit dem Studium verbundene Empfindungen abbilden. Das Cronbachs α der Subskalen liegt zwischen 0,74 und 0,92 (Tab. 1). Mit der Dimension „Information und Unterstützung“ wurden neben der generellen Kenntnis bzw. Nutzung von Informationsangeboten zum Thema Angehörigenpflege und der Bewertung des Elder-care-Programms der Hochschule auch Vorstellungen der Studierenden zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Studium, Privatleben und Pflege an der HAW Hamburg erfasst.

Nach einem Pretest mit Expertinnen und Experten des Departments Pflege & Management der HAW Hamburg wurde das finalisierte Erhebungsinstrument im Januar 2017 mittels eines Links und über einen hochschulinternen E‑Mail-Verteiler an alle zum Befragungszeitpunkt – Wintersemester 2016/2017 (WiSe 16/17) – an der Hochschule immatrikulierte Studierende (N = 16.964) versandt. Der Befragungszeitraum betrug vier Wochen. Zum Schutz betroffener Personen wurden keine personenbezogenen Daten wie Namen und (Wohn‑, IP- und E‑Mail‑)Adressen erhoben oder gespeichert.

Methoden der Datenauswertung

Die anschließende Auswertung der quantitativen Befragungsdaten erfolgte mithilfe von Methoden der uni- und bivariaten deskriptiven Statistik. Für die Berechnung von Gruppenunterschieden bei ordinalskalierten Daten wurde zusätzlich der Mann-Whitney-U-Test als nicht-parametrisches inferenzstatistisches Verfahren verwendet. Der für die Ermittlung der Effektstärke relevante Korrelationskoeffizient nach Pearson (r) berechnet sich entsprechend Fritz et al. (2012) mit folgender Gleichung [4]:

$$\left| r\right| =\frac{Z}{\sqrt{n}}$$

Zur Beurteilung der Effektstärke von r dient die Einschätzung nach Cohen (1988), welcher r = 0,10 als schwache, r = 0,30 als mittlere und r = 0,50 als starke Korrelation interpretiert [2]. Die offenen Antworten der Studierenden zu Wünschen und Vorstellungen zur Vereinbarkeit von Studium, Privatleben und Pflege wurden in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) über die induktive Bildung von Kategorien strukturiert, kodiert und mit Beispielzitaten belegt [14].

Ergebnisdarstellung

Nach 4 Wochen konnten mithilfe des aufgezeigten Vorgehens n = 859 Studierende befragt werden. Die Rücklaufquote liegt somit bei etwa 5,1 % (5,06 %). Zirka 15 % der Studierenden (14,7 %, n = 126) sind dabei in noch nicht näher beschriebenem Ausmaß regelmäßig in die Pflege oder Unterstützung von ihnen nahestehenden Personen eingebunden. Die nachfolgend dargestellte Auswertung der quantitativen Daten fokussiert ausschließlich letztere Teilgruppe (n = 126).

Stichprobenmerkmale

Relevante soziodemografische Merkmale der untersuchten Stichprobe sind in Tab. 2 dargestellt. Im Vergleich zur Grundgesamtheit der im WiSe 16/17 an der HAW Hamburg Studierenden mit einer Verteilung von 40,8 % weiblichen und 59,2 % männlichen Studierenden, ist der Großteil der pflegenden Studierenden in der Stichprobe weiblich (60,8 %) und rund 28 Jahre alt (MW = 28,26 ± 7,17). Das Durchschnittsalter der Stichprobe ist dabei fast übereinstimmend mit dem der Grundgesamtheit (MW = 28,55 ± 5,97). Die meisten Studierenden mit Pflegeverantwortung streben einen Bachelorabschluss an (84,1 %) und studieren in Vollzeit (84,9 %). Der Anteil Teilzeitstudierender in der Stichprobe ist mit 6,3 % deutlich höher als in der Grundgesamtheit aller Studierender (0,7 %) im Wintersemester 2016/2017Footnote 1. Die Betrachtung der Verteilung der Studierenden auf die vier Fakultäten der Hochschule – Design, Medien und Informatik (DMI), Life Sciences (LS), Technik & Informatik (TI), Wirtschaft & Soziales (W&S) – zeigt, dass Studierende mit Pflegeverantwortung v. a. an den Fakultäten mit sozial- bzw. gesundheitsbezogenen Studiengängen, bei LS (30,4 %) und W&S (32,0 %), zu finden sind.

Tab. 2 Stichprobenmerkmale (eigene Darstellung)

Die Pflege‑/Unterstützungssituation von Studierenden und ihren Angehörigen

Studierende mit Pflegeaufgaben unterstützen überwiegend 1–2 Personen (MW = 1,55 ± 0,82), zumeist zählt dazuFootnote 2 ein Eltern- bzw. Schwiegerelternteil (54,8 %, n = 69) oder die Großmutter bzw. der Großvater (34,1 %, n = 43). Um das eigene Kind (2 %, n = 2) oder die jeweiligen Ehe- oder Lebenspartnerinnen und -partner (0,8 %, n = 1) kümmern sich hingegen nur wenige. Dementsprechend sind die meisten unterstützungsbedürftigen Angehörigen mit etwa 67 Jahren (MW = 66,95 ± 21,25) eher höheren Alters. Knapp die Hälfte (n = 50) hatte zum Zeitpunkt der Befragung eine Pflegestufe: Der Anteil von Menschen mit Pflegestufe I und II lag bei 28 (n = 14) bzw. 26 % (n = 13), der Großteil der Angehörigen hatte Pflegestufe III (36 %, n = 18); 10 % (10,9 %, n = 13) der Befragten kannten die genaue Pflegestufe ihrer Angehörigen zum Befragungszeitpunkt nicht.

Die Betrachtung der Wohnsituation der unterstützungsbedürftigen Angehörigen zeigt, dass 15 % (n = 18) in derselben Häuslichkeit wie die betroffenen Studierenden leben. Leben Studierende und Pflegebedürftige an unterschiedlichen Standorten, dann beträgt die durchschnittliche Zeit für eine einfache Wegstrecke etwa 45 min und reicht dabei von Kurzstrecken bis zu einer Fahrzeit von 4 h (MW = 47,48 ± 51,66, min. = 1, max. = 240). Ein Großteil (58,3 %, n = 70) der Pflegebedürftigen lebt in diesen Fällen in der eigenen Häuslichkeit, 13,3 % (n = 16) in der Häuslichkeit von anderen Verwandten oder Bekannten. In einer stationären (Wohn‑/Pflege‑) Einrichtung sind nur knapp 8 % (7,5 %, n = 9) untergebracht.

Gestaltung der Pflege- und Unterstützungsarrangements

Einen unterstützungsbedürftigen Menschen zu pflegen kann mehr umfassen als die eigentliche Körperpflege – 34,4 % (n = 33) der Studierenden mit einer regelmäßigen Pflege- oder Unterstützungsverantwortung begleiten ihre Angehörigen dementsprechend v. a. ein- bis 2‑mal in der Woche in deren Freizeit, dazu gehören z. B. Spaziergänge oder gemeinsame Besuche von Freunden. 31,4 % (n = 32) unterstützen durch regelmäßige Einkäufe, Kochen oder Reinigen der Wohnung etwa ein- bis 2‑mal in der Woche im jeweiligen Haushalt. Außerdem begleiten Studierende ihre pflegebedürftigen Angehörigen mehrmals monatlich zu Ärzt_innen, Therapeut_innen oder Heil- und Hilfsmittelerbringer_innen (38,8 %, n = 40) oder unterstützen administrativ z. B. bei der Kommunikation mit Krankenkassen oder durch Hilfe bei Abrechnungstätigkeiten (25,8 %, n = 24). Unterstützung in den „klassischen“ Bereichen der Grundpflege, z. B. Körperpflege, Mobilität oder der Unterstützung bei der Ernährung bzw. Nahrungsaufnahme, leisten jeweils nur zwischen 3 % (n = 3) und 12 % (n = 13) der Befragten in regelmäßiger Form. Unterstützt werden sie dabei zumeistFootnote 3 von weiteren Angehörigen (74,6 %, n = 91), privat finanzierten Haushalts- oder Reinigungshilfen (11,1 %, n = 14), ambulanten Pflegediensten (10,3 %, n = 13), Bekannten oder Freunden (8,7 %, n = 11), einer Tagespflege (6,3 %, n = 8) oder einer 24h-Pflegekraft (4,8 %, n = 6). Obgleich nur wenige der Befragten in die Verrichtung von (klassischen) Pflegetätigkeiten involviert sind, identifizieren sich 36 % (n = 41) der Studierenden als für die Organisation und Umsetzung der Pflegetätigkeiten hauptverantwortliche Person.

Zeitbudget von pflegenden Studierenden

Werden Studierende mit Pflegeverantwortung nach ihrer Einschätzung des Zeitaufwands für Lehrveranstaltungen, sonstigen studienbezogenen Aufwand und Tätigkeiten gegen Bezahlung während einer typischen VorlesungswocheFootnote 4 gefragt, dann zeigt sich, dass sie täglich im Durchschnitt 5 h (MW=4,52) für Lehrveranstaltungen und zusätzlich jeweils etwa 3 h (MW=3,03) für sonstigen studienbezogenen Aufwand wie z. B. die Vor- und Nachbereitung oder das Verfassen von Studien‑, Haus- oder Abschlussarbeiten aufwenden. Hinzu kommen abhängige Beschäftigungen und freiberufliche oder selbstständige Tätigkeiten mit durchschnittlich 5 h (MW = 5,25) pro Tag. In Abb. 1 ist der durchschnittlicheFootnote 5 Zeitaufwand für die zuvor dargestellten Tätigkeiten in einer üblichen Arbeits- bzw. Vorlesungswoche dargestellt. Der Zeitaufwand für die Pflege oder Unterstützung einer angehörigen Person ist in diese Einschätzungen noch nicht einbezogen.

Abb. 1
figure 1

Zeitaufwand von Studierenden mit Pflegeverantwortung (eigene Darstellung)

Die subjektive Bewertung der zeitlichen Belastung von Studierenden mit Pflegeverantwortung wurde mithilfe der drei im Methodenteil dargestellten fünfstufigen Likert-Skalen erhoben. Für die Auswertung erfolgte eine getrennte Betrachtung der haupt- (n = 41) und nicht-hauptverantwortlich (n = 71) pflegenden Studierenden und eine Überprüfung der zentralen Tendenzen der beiden Stichproben anhand des Mann-Whitney-U-Tests. Während nicht-hauptverantwortlich Pflegende ihre zeitliche Belastung durch das Studium während der Vorlesungszeit als überwiegend hoch einschätzen (46,60 %, n = 34), bewerten hauptverantwortlich Pflegende ihre Belastung überwiegend mit „sehr hoch“ (36,60 %, n = 15). Der U-Test ergibt hier keine signifikant unterschiedlichen zentralen Tendenzen zwischen den beiden Stichproben (U = 1313, Z = −1,135 p = 0,256, r = 0,106). Deutlichere und statistisch signifikante Gruppenunterschiede mit moderatem Effekt (U = 817, Z = −4,034 p < 0,001, r = 0,381) lassen sich hingegen bei der Betrachtung der zeitlichen Belastung durch regelmäßige familiäre Verpflichtungen oder Tätigkeiten innerhalb der Familie wie z. B. der Pflege identifizieren. Wie in Abb. 2 dargestellt, schätzen etwa 3‑mal so viele hauptverantwortlich Pflegende (41,5 %, n = 17) ihre Belastung hier als „sehr hoch“ ein.

Abb. 2
figure 2

Zeitliche Belastung durch familiäre Verpflichtungen/Familientätigkeiten (eigene Darstellung)

Emotionen von Studierenden mit Pflegeverantwortung

Für die Abbildung der mit der Unterstützungssituation verbundenen Emotionen fand die eingangs beschriebene Emotionsskala Verwendung. Erneut wurde das Antwortverhalten getrennt für die beiden Gruppen der haupt- und nicht-hauptverantwortlich Pflegenden betrachtet und die zentralen Tendenzen unter Zuhilfenahme des Mann-Whitney-U-Tests überprüft. Die Auswertung deutet darauf hin, dass sich v. a. die Gruppe der hauptverantwortlich Pflegenden signifikant stärker (U = 957,5, Z = −2,993 p = 0,003, r = 0,277) körperlich und psychisch durch die Pflege von Angehörigen belastet fühlt – fast die Hälfte der Befragten (41 %, n = 16) stimmen der Aussage „Ich fühle mich durch die Pflege/Unterstützung stark belastet“ vollständig oder eher zu, in der Gruppe der nicht hauptverantwortlich Pflegenden sind es 23,2 % (n = 17). Hauptverantwortlich pflegende Studierende fühlen sich ebenfalls häufiger (51,3 %, n = 20) hin- und hergerissen zwischen den Anforderungen ihres Studiums, Tätigkeiten der Einkommenserzielung und den Anforderungen durch die Pflege bzw. Unterstützung. Das zeigen ebenfalls signifikante Gruppenunterschiede und ein Korrelationskoeffizient mit einer mittleren Effektstärke (U = 813, Z = −3,845, p < 0,001, r = 0,363). Verglichen mit Studierenden, die nicht hauptverantwortlich für die Pflege ihrer Angehörigen sind (7 %, n = 5), empfinden Studierende mit viel Verantwortung nicht nur häufiger (23,1 %, n = 9), dass sich ihr Studienalltag – z. B. die Anzahl der Vorlesungsbesuche oder die Vorbereitung von bzw. die Teilnahme an Prüfungen – durch die Pflegetätigkeiten in nicht näher definiertem Ausmaß verändert. Die Effektstärke des Korrelationskoeffizienten r liegt hier in einem nach Cohen (1988) annähernd starken Bereich (U = 659,5, Z = −4,684, p < 0,001, r = 0,446; [2]). Abb. 3 verdeutlicht auch, dass sie das Gefühl haben, dass ihr Studium durch die regelmäßige Pflege oder Unterstützung einer angehörigen Person leidet. Der U-Test zeigt erneut signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen mit mittlerem bis starkem Effekt auf (U = 719, Z = −4,373, p < 0,001, r = 0,444).

Abb. 3
figure 3

Emotionen pflegender Studierender (eigene Darstellung)

Neben einem erhöhten Belastungsempfinden lassen sich auch positive Emotionen mit der regelmäßigen Pflege und Unterstützung verbinden: Obwohl es anstrengend ist, freuen sich Studierende über die Nähe zu ihren Angehörigen in der täglichen Pflege/Unterstützung. Über 70 % (71,8 %, n = 28) der hauptverantwortlich Pflegenden stimmen dieser AussageFootnote 6 vollständig oder teilweise zu. Die zentralen Tendenzen der beiden Gruppen unterscheiden sich signifikant (U = 1097,5, Z = −1,769, p = 0,077, r = 0,169).

Information und Unterstützung

Keine/r der befragten Studierenden nutzt das Elder-care-Angebot der Hochschule zur Unterstützung und Beratung pflegender Angehöriger, die Mehrheit von ihnen (92,4 %, n = 109) kennt es nicht. Von den Studierenden, die das Angebot kennen (7,6 %, n = 9) wird als Hauptgrund für die Nichtnutzung „fehlender Bedarf“ angegeben, der sich jedoch auf unterschiedliche Weise begründet: „[Weil] ich es zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebraucht habe“ (ID89). ID59 schreibt: „[Weil] ich niemanden pflege, ich unterstütze nur. Ich weiß nicht, ob ich dann auch unter dieselbe Kategorie falle.“ Es zeigt sich zudem, dass einige Studierende zum Befragungszeitpunkt individuelle Strategien entwickeln, um Studium und Pflege zu vereinbaren: „Ich habe mich dazu entschieden, nicht alle Kurse im Semester zu belegen, sondern dafür Semester hinten ran zu hängen. Dadurch ist es möglich beides miteinander zu vereinbaren […]“ (ID38). Die weiteren Wünsche und Vorstellungen hinsichtlich weiterführender Unterstützungspotenziale seitens der Hochschule wurden zu zwei übergeordneten Kategorien zusammengefasst, die mit ihren entsprechenden Inhalten und Unterkategorien in Tab. 3 dargestellt sind.

Tab. 3 Vorstellung von Studierenden zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Studium und Pflegetätigkeit (eigene Darstellung)

Bei der Analyse der weiteren Antworten wird deutlich, dass Studierende insbesondere die inhaltliche Anpassung und auch Flexibilisierung der Prüfungsordnungen als sinnvoll erachten: Neben der Möglichkeit, die Prüfungsphase (Nachschreibeklausuren, Prüfungs- und Abgabetermine) flexibler zu gestalten – „Sonderregelungen in Prüfungssituationen“ (ID87) – wünschen sich viele eine Lockerung der Anwesenheitspflicht. ID83 schreibt dazu: „Keine anwesenheitsverpflichtende Kurse mehr, die einen zeitlich unter Druck setzen: Gehe ich mit meiner Mutter zum Arzttermin oder gehe ich zu dem Unikurs, weil ich sonst vielleicht durchfalle?“. Weitere Wünsche sind zum einen die Möglichkeit zur Reduzierung oder Flexibilisierung des Studienumfangs bzw. des Stundenplans in Form flexibler Seminarauswahl, einer Lockerung der Regelstudienzeit oder einen Ausbau des Teilzeitmodells sowie eine generelle Reduzierung des bürokratischen Aufwands hinsichtlich verschiedener Beantragungszeiträume im Rahmen des Studiums. „Reduktion der Bürokratie und Ausweitung des Beantragungszeitraums bei Beantragung von Urlaubssemestern, Teilzeitstudium und Rückerstattung des unnützen teuren Semestertickets. […]“ (ID78). Viele wünschen außerdem mehr Ansprechpartner_innen an den einzelnen Studienstandorten, den Ausbau (psychologischer) Beratungsangebote und Hilfe bei Antragstellungen im Pflegefall.

Limitationen

Aufgrund der Überrepräsentation von pflegenden Studierenden an den Fakultäten Wirtschaft & Soziales und Life Sciences kann von Selektivitätseffekten ausgegangen werden. Im gleichen Zuge muss die Repräsentativität der Stichprobe für die Grundgesamtheit diskutiert werden: Es ist davon auszugehen, dass v. a. Studierende mit Interesse an den Themen Gesundheit und Pflege oder eigener Betroffenheit an der Befragung teilgenommen haben, was einen Erklärungsansatz für die fakultätsinterne Verteilung und die geringe Rücklaufquote von 5,1 % darstellen kann. Die Bereitstellung der Befragung als Online-Survey setzt zudem Internetzugang und eine regelmäßige Nutzung des internen E‑Mail-Kontos voraus. Außerdem kann ausschlaggebend sein, dass der Zeitraum der Befragung aus administrativen Gründen parallel zur Prüfungsphase der Hochschule verlaufen ist. Im Rahmen der Zeitbudgeterhebung ist hervorzuheben, dass der geschätzte Zeitaufwand für Lehrveranstaltungen, sonstigen studienbezogenen Aufwand und Tätigkeiten gegen Bezahlung jeweils auf volle Stunden aufgerundet wurde, weshalb sich z. B. auch ein Aufwand von wenigen Minuten mit einer vollen Stunde niederschlägt. Trotz ausreichender Anonymisierung kann sozial erwünschtes Antwortverhalten nicht ausgeschlossen werden [6].

Diskussion

Trotz der aufgezeigten Limitationen zeigen die Ergebnisse der Studie, dass die Pflege von Angehörigen einen nicht zu unterschätzenden Anteil in der Statusgruppe der Studierenden betrifft. Frauen scheinen, ähnlich wie bereits vielfach belegt, häufiger in die Pflege eingebunden zu sein (z. B. [3, 20, 21]). Ansonsten erweist sich die Zielgruppe als heterogen. Das Alter von Studierenden mit Pflegeverantwortung liegt etwa 28 Jahren und ist damit höher als z. B. in den Ergebnissen der Erhebung des Studierendenwerks (2016) mit 24,7 Jahren [16]. Die Altersspanne reicht von 20 bis hin zu 56 Jahren und auch Art und Umfang der regelmäßigen Unterstützung ist nur selten vergleichbar. Aus den Ergebnissen geht hervor, dass sich ein Drittel der Befragten als für die Pflege hauptverantwortlich identifiziert. Alle anderen Studierenden sind demnach zwar ebenfalls eingebunden, scheinen aber nicht primär für die Organisation und Umsetzung verantwortlich. Diese Einschätzung spiegelt sich auch in der Erkenntnis wider, dass nur wenige regelmäßig „klassische“ Körperpflege verrichten, obwohl die Anzahl der schwerstpflegebedürftigen Angehörigen in der Stichprobe mit >30 % relativ hoch ist. Da viele Studierende sich um Eltern oder Großeltern kümmern, liegt die Vermutung nahe, dass deren jeweilige Ehe- oder Lebenspartner die Hauptverantwortung für die Organisation und Bereitstellung von Pflege übernehmen und dementsprechend bspw. auch in Statistiken als pflegende Angehörige zu finden sind (z. B. [3, 20, 21]). Nicht hauptverantwortlich für Pflege zu sein bedeutet jedoch nicht, dass Studierende nicht auch intensiv in die Unterstützung ihrer Angehörigen eingebunden oder durch die Situation belastet sein können, dies wird in den Ergebnissen ebenfalls deutlich. Ähnlich wie Kinder und junge Erwachsene mit Pflegeverantwortung übernimmt ein Großteil der pflegenden Studierenden regelmäßig die Freizeitbegleitung der Verwandten oder Bekannten, erledigt Einkäufe oder unterstützt im Haushalt (z. B. [22]). Bezieht man zusätzlich das Zeitbudget von Studierenden während der Vorlesungszeit ein und berücksichtigt, dass sie wochentags und am Wochenende mehrere Stunden für Vorlesungen, Vor- und Nachbereitung, Prüfungen und in vielen Fällen zusätzlich für nebenberufliche Tätigkeiten aufwenden und sollten dazu wöchentlich auch nur wenige Stunden Unterstützung für Angehörige mit Pflegebedarf kommen, dann ist wenig verwunderlich, dass die zeitliche Belastung durch familiäre Verpflichtungen als sehr hoch empfunden wird. Obwohl durch das Studiendesign keine eindeutigen Kausalzusammenhänge herausgestellt werden können, deutet das subjektive Belastungsempfinden auf ähnliche Tendenzen hin. Pflegende Studierende schätzen sich durch ihre Pflege- und Unterstützungstätigkeiten als stark belastet ein. Die Belastung hat dabei einen negativen Einfluss auf die Anzahl der Vorlesungsbesuche, die Vor- und Nachbereitung von Seminaren und Vorlesungen sowie die Prüfungsvorbereitung und kann letztendlich sogar zum Abbruch des Studiums führen. Mithilfe des Mann-Whitney-U-Tests berechnete Gruppenunterschiede zwischen für die Organisation haupt- und nicht-hauptverantwortlichen Studierenden zeigen signifikante Unterschiede mit schwacher bis moderater Effektstärke bei der zeitlichen Belastung und den mit der Unterstützungssituation verbundenen Emotionen auf. Hauptverantwortlich Pflegende sind demnach nicht nur zeitlich stärker in familiäre Aufgaben eingebunden, sie haben auch häufiger den Eindruck, dass ihr Studium oder Privatleben unter der Situation leidet. Nicht zu vergessen ist, dass ein kleiner Prozentsatz von Studierenden besonders intensiv in die (Körper‑)Pflege ihrer Angehörigen eingebunden ist. Es ist davon auszugehen, dass sowohl die psychische als auch die physische (Mehrfach‑)Belastung in dieser Personengruppe deutlich verstärkt ausfällt [20].

Hinsichtlich der Nutzung von Unterstützungsangeboten der Hochschule ist nur auf den ersten Blick überraschend, dass die Mehrheit der Befragten das Elder-care-Programm nicht zu Rate zieht. Auf den zweiten Blick liegt die Vermutung nahe, dass das bestehende Angebot für den Großteil der Studierenden mit Pflegeverantwortung nicht relevant ist und sie andere Formen der (selbstorganisierten) Entlastung nutzen. Auch der verhältnismäßig hohe Anteil Teilzeitstudierender kann einen Versuch darstellen, Studium, Privatleben und Pflege zu vereinbaren. Da die Befragten mehrheitlich eher unterstützende Tätigkeiten übernehmen, ist z. B. die Vermittlung von Diensten zur Verrichtung häuslicher Pflege nur in Ausnahmefällen notwendig, kann aber wiederrum für tatsächlich Pflegende (Studierende oder auch Mitarbeitende) hilfreich sein. Das allerdings auch die intensiv in die Pflege Eingebundenen das Angebot der Hochschule nicht nutzen und sich z. T. Beratung in einem konkreten Pflegefall wünschen – was einen Inhalt des Beratungsangebots darstellt – ist ein Indiz dafür, dass zum Zeitpunkt der Befragung keine ausreichende hochschulinterne Kommunikation stattfand und stützt damit die einleitend genannte Erkenntnis von Müller et al. (2016; [18]). Die Studie identifiziert strukturelle Ansätze, um der Doppelbelastung durch Studium und Pflege zu begegnen: Flexiblere (curriculare) Rahmenbedingungen ermöglichen es Studierenden, auch auf kurzfristige Situationen wie z. B. einen plötzlichen Krankenhausaufenthalt eines unterstützungsbedürftigen Elternteils zu reagieren, ohne dadurch einen Nachteil im Studium davonzutragen. Im Sinne der Gesundheitsförderung und Prävention ist die frühzeitige Entwicklung von – in erster Linie – bedarfsgerechten Angeboten notwendig, um Betroffenen nicht nur das Studium, sondern auch den Einstieg in das weitere Berufsleben zu erleichtern. Einige Hochschulen bieten bereits verschiedene Formen der individuellen Unterstützung und Begleitung Betroffener an (z. B. [11, 13]). An der HAW Hamburg startete Anfang 2020 ein Projekt zur Implementierung eines studentischen Gesundheitsmanagements (SGM) mit dem Ziel, die Ressourcen der Hochschule langfristig gesundheitsfördernd zu gestalten und die unterschiedlichen Belastungen von Studierenden gemeinsam mit der Statusgruppe zu identifizieren und abzubauen [7, 9]. Auch die Übernahme von Pflegetätigkeiten wird hier von Bedeutung sein müssen.

Fazit für die Praxis

  • Ein nicht zu unterschätzender Anteil Studierender pflegt oder unterstützt regelmäßig eine nahestehende Person.

  • Individuelle Merkmale der Zielgruppe variieren genauso wie das Ausmaß der geleisteten Unterstützung; letztere reicht von Unterstützung im Haushalt und gemeinsamen Freizeitaktivitäten bis zu intensiver Begleitung und Verrichtung von Körperpflege.

  • Vor allem für die Organisation der Unterstützung/Pflege hauptverantwortliche Studierende empfinden negative Auswirkungen auf Studium und Privatleben.

  • Langfristige (Mehrfach‑)Belastung kann zu hohen Fehlzeiten oder Studienabbruch führen.

  • Für die Gewährleistung bedarfsgerechter Unterstützung und die Vereinbarkeit von Studium, Pflege und Privatleben ist eine Anerkennung der Situation pflegender Studierender auch i.S. der Gesundheitsförderung und Prävention notwendig.

  • Neben der Entwicklung und Kommunikation von zielgruppengerechten Beratungsangeboten wünschen sich Studierende eine Flexibilisierung der Studien- und Prüfungsrahmung, die Ansätze für individualisierte Entlastungsmöglichkeiten schafft.