Zusammenfassung
Hintergrund
Medizinisch-wissenschaftliche Evidenzen belegen eine Beteiligung der Darmbakterien an der Entstehung und dem Verlauf neurodegenerativer Erkrankungen (ndE).
Fragestellung
Aktueller Stand der Forschung zur Darm-Hirn Achse in Hinblick auf mögliche Diagnose und Therapieansätze.
Methoden
Auswertung der aktuellen Literatur, Resultate tierexperimenteller Studien und Erkenntnisse an Patienten hinsichtlich M. Parkinson und Alzheimer-Erkrankung, multipler Sklerose und Schlaganfall.
Ergebnisse
Gastrointestinale Störungen sind ein Risikofaktor für ndE. Im Verlauf ndE treten Barrierestörungen des Darms auf, welche in hohem Maße von der intestinalen Dysbiose initiiert sind, systemische Entzündungs- und Immunreaktionen zur Folge haben und die Blut-Hirn-Schranke (BHS) schädigen. Die aktuelle Forschung konzentriert sich v. a. auf die Zusammensetzung der Mikrobiota im Krankheitsverlauf, mit einem zunehmenden Fokus auf funktionelle Konsequenzen – mikrobielle Metaboliten eingeschlossen.
Schlussfolgerungen
Die funktionellen Auswirkungen einer Dysbiose inklusive der Mikroben-Mikroben- und Mikrobiota-Wirt-Interaktion sowie in Reaktion auf interne (z. B. Alterung) und externe Einflüsse (z. B. Ernährung) müssen noch besser verstanden werden. Dabei ist die Einbeziehung experimenteller Krankheits- sowie humanisierter Mausmodelle hilfreich. Um ein diagnostisches Tool zu entwickeln, ist die Generierung und Auswertung von longitudinalen Basisdaten essenziell, unter Einschluss von Kohorten mit einem Risiko für die jeweilige Erkrankung. Eine therapeutische Intervention sollte individuell angepasst werden.
Abstract
Background
Sound medical-scientific evidence shows an involvement of intestinal bacteria in the development and progression of neurodegenerative diseases.
Objectives
The goal of the work was to compile the current state of research on the gut–brain axis with regard to potential diagnostic and therapeutic approaches.
Methods
An evaluation of the current literature, results of experimental animal studies and findings on patients with regard to Parkinson’s and Alzheimer’s disease, multiple sclerosis and stroke is provided.
Results
Gastrointestinal disorders are a risk factor for neurodegenerative diseases. During the course of neurodegenerative diseases, dysbiosis occurs which often correlates with the severity of the disease. Neurodegenerative diseases are associated with gut barrier dysfunctions that are initiated by intestinal dysbiosis, cause systemic inflammatory and immune responses, and damage of the blood–brain barrier. Current research is mainly focused on the composition of the microbiota in the disease process, with an increasing focus on functional consequences—including microbial metabolites.
Conclusions
The functional effects of a dysbiosis including microbe–microbe and microbiota–host interactions as well as in response to internal (e.g. aging) and external influences (e.g. nutrition) need further study. The inclusion of data from experimental diseases and humanized mouse models will be useful. To develop a diagnostic tool, the generation and analysis of longitudinal baseline data will be necessary, including cohorts at risk for the specific disease. Therapeutic interventions should be individualized.
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Mikroben befinden sich aktuell im Brennpunkt der Forschung. Für die Medizin ist insbesondere das Mikrobiom im Darm von Interesse. Hintergrund dafür ist die vielfältig nachgewiesene Assoziation von Störungen der Darmflora mit einer Vielzahl von Erkrankungen, wobei auch neurodegenerative Erkrankungen durch eine mikrobielle Dysbiose begünstigt oder sogar initiiert werden können. Diese Tatsache hat Untersuchungen zur Darm-Hirn-Achse gefördert, um die Mechanismen der Kommunikation der Darmbakterien mit dem Gehirn zu verstehen, verbunden mit der Hoffnung auf völlig neue Therapiemöglichkeiten.
Mikrobiom im Darm
Der menschliche Darm beherbergt Trillionen von Mikroorganismen, die bisher etwa 1000 Spezies zugeordnet werden konnten, größtenteils Bakterien, aber auch Viren, Hefen und Pilze. Im Gegensatz zu einem häufig zitierten Verhältnis von 1:10 Körperzellen zu Mikroben ist eine Ratio von 1:1 realistischer [16]. Die Zusammensetzung der Mikrobengemeinschaft im Darm ist von vielen inneren und äußeren Faktoren abhängig und weist somit eine hohe – jedoch zeitlich relativ stabile – Individualität auf. Als wichtige Einflussfaktoren gelten die Ernährung, physische und soziale Aktivität (Lebensstil), Medikamente und das Alter. Für die Funktion des Mikrobioms sind sowohl die Zusammensetzung und Artenvielfalt der Mikroben entscheidend als auch die von ihnen freigesetzten Metaboliten.
Darm-Hirn-Achse
Die Mikroben im Darm sind in erster Linie für die Verdauung unserer Nahrung verantwortlich. Die spezifischen Mikroben, ihre Zusammensetzung und die von ihnen freigesetzten Stoffwechselprodukte beeinflussen jedoch auch in einem hohen Maß die Entwicklung und Funktion des Gehirns. Mäuse ohne Darmmikroben, geboren und aufgezogen in einer speziellen keimfreien Umgebung, weisen Defizite in der Mikrogliazellpopulation und ihres Reifezustands auf, verbunden mit einer beeinträchtigten Immunfunktion [6].
Mikroben im Darm werden für die Hirnfunktion benötigt
Eine intestinale Dysbiose wirkt sich ebenfalls schädigend auf das Gehirn aus. Konkret heißt das, Mikroben im Darm werden für die Hirnfunktion benötigt, jedoch entscheidet deren Zusammensetzung und Zusammenspiel über eine physiologische bzw. pathophysiologische Wirkung auf das Gehirn.
Die Mikroorganismen im Darm kommunizieren über verschiedene Wege mit dem zentralen Nervensystem (ZNS): Bakterielle Metaboliten, Hormone und Neurotransmitter passieren entweder direkt das Darmepithel, gelangen in den Blutkreislauf und über die Blut-Hirn-Schranke (BHS) in das Gehirn, oder sie aktivieren intestinale Nervenzellen, einhergehend mit einer Stimulation des Vagusnervs. Des Weiteren können Mikroben die Immunzellen im Darm stimulieren, und die daraufhin produzierten Zytokine gelangen in den Blutkreislauf. Eine Dysbiose führt darüber hinaus zu einer erhöhten Permeabilität der Darmbarriere, was einen unspezifischen Transport von Nahrungsbestandteilen, Bakterien und Toxinen sowie generell inflammatorischen Mediatoren in den Blutkreislauf zur Folge hat. Dies kann wiederum die Barrierefunktion der BHS negativ beeinflussen und die Darm-Hirn-Kommunikation in beide Richtungen nachhaltig stören.
Neurodegenerative Erkrankungen
M. Parkinson
Die Parkinson-Krankheit (M. Parkinson, MP) betrifft mehr als einen von 100 Erwachsenen in einem Alter über 60 Jahre, Tendenz steigend. Das idiopathische Parkinson-Syndrom ist durch motorische und kognitive Verhaltensänderungen charakterisiert, basierend auf einer Degeneration dopaminerger Neurone der Substantia nigra. Die symptomatische Therapie umfasst die Gabe von l-Dopa und Dopaminagonisten. Von den bekannten neurodegenerativen Erkrankungen ist bei MP die Evidenz einer Beteiligung des intestinalen Mikrobioms an der Entstehung und dem Krankheitsverlauf am stärksten. Dies passt auch zu der Tatsache, dass MP eine heterogene Ätiologie aufweist, eine multisystemische Störung verursacht und bei weniger als 10 % der MP-Patienten eine familiär vererbbare genetische Ursache nachgewiesen werden kann.
Bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen ist das Risiko, an MP zu erkranken, um 22 % höher als in der Normalbevölkerung [24]. Dysfunktionen des Gastrointestinal(GI)-Trakts beeinträchtigen die Mehrzahl der Patienten und gehen zeitlich dem Auftreten von klinischen Symptomen voraus, wobei Obstipation oft das erste Symptom darstellt und bis zu 15 Jahre vor den motorischen Defiziten auftritt [13]. Die Zusammensetzung der Mikroben im Stuhl von MP-Patienten ist signifikant verändert und korreliert mit dem Grad der Erkrankung. Butyratproduzierende Bakterien der Gattungen Blautia, Coprococcus und Roseburia sind reduziert, während proinflammatorische Bakterien der Gattung Ralstonia sich vermehren [11]. Eine veränderte Darmflora wirkt auch negativ auf die Barrierefunktion der Darmwand und erhöht die Konzentration von Entzündungsmediatoren in der Blutbahn. Eine erhöhte Darmpermeabilität wurde bereits bei Patienten nachgewiesen, bei denen neu ein MP diagnostiziert wurde [7].
Eine typische neuropathologische Veränderung bei MP ist die Ablagerung des Proteins α‑Synuclein (AS) in neuralen Zellen vulnerabler Hirnstrukturen. Dieses Phänomen tritt auch bei anderen ndE auf und wird als Synucleinopathie bezeichnet. Erst seit einigen Jahren ist bekannt, dass AS auch im GI-Trakt nachweisbar ist. In Tierversuchen zeigt sich, dass AS in der Lage ist, zwischen dem GI-Trakt und dem ZNS via Vagusnerv in beide Richtungen zu reisen [23]. Eine Beteiligung der Mikroben an der Verbreitung und Translokation des AS und damit an der Entstehung von MP liegt daher nahe.
Erstmalig wurde ein valider funktioneller Zusammenhang zwischen Mikrobiom und MP 2016 in der Zeitschrift Cell publiziert [15]. Die Forscher verwendeten für ihre Versuche Mäuse, welche ein Übermaß an AS produzieren. Diese Mäuse, unter keimfreien Bedingungen aufgezogen, zeigten geringere motorische Defizite, weniger AS-Ablagerungen im Gehirn und eine verminderte Aktivität der zerebralen Mikroglia im Vergleich zu nicht keimfreien Mäusen. Die Zugabe mikrobiell produzierter kurzkettiger Fettsäuren stellt die Erkrankungsmerkmale wieder her. Eine Antibiotikabehandlung der nicht keimfrei gehaltenen Mäuse reduzierte deren Symptome. In einem weiteren Versuch wurde Kot von MP-Patienten und gesunden Probanden in keimfreie AS-Mäuse implantiert (humanisierte Mäuse), woraufhin die Mäuse, denen Stuhl der Patienten transplantiert worden war, motorische Defizite aufwiesen. Zusammengefasst zeigen diese Untersuchungen den Zusammenhang einer genetischen Veranlagung mit MP sowie den Einfluss des Mikrobioms auf die Ausprägung des MP. Als Mechanismus werden die kurzkettigen Fettsäuren mit ihrer Wirkung auf die Mikroglia und deren Reaktivität diskutiert, welche Neuroinflammation und AS-Aggregation begünstigen.
Alzheimer-Krankheit
Die Alzheimer-Krankheit (AK) ist die häufigste Form der Demenz. Das Risiko, daran zu erkranken, steigt mit dem Alter – insbesondere ab 65 Jahren – signifikant an. In Deutschland sind aktuell 700.000 Menschen betroffen, in Europa schätzt man, dass es etwa 2 % Erkrankte gibt, weltweit geht man von 40 Mio. Betroffenen aus. Die klinischen Symptome sind sich progressiv verschlechternde kognitive Defizite, insbesondere Störungen des deklarativen (hippocampusabhängigen) Gedächtnisses, und Verhaltensänderungen. Die Ursachen sind der Verlust von Nervenzellen, einhergehend mit einer gestörten Zellkommunikation aufgrund eines Mangels an Acetylcholin. Neuropathologisch sind die extrazellulären Amyloid-beta(Aβ)-Protein-Plaques und die intrazellulären Tau-Protein-Fasern auffällig. Die AK ist nicht heilbar, und zugelassene Therapien zielen auf eine symptomatische Behandlung.
Das Risiko an AK zu erkranken ist bei entzündlichen Erkrankungen des GI-Trakts erhöht. Bei Vorliegen der AK ist eine Dysbiose im Darm nachweisbar, dabei zeigen sich Veränderungen im Stuhl von Patienten hinsichtlich Bacteroides, Actinobacteria, Ruminococcus, Lachnospiraceae, und Selenomonadales [30]. Ältere Patienten mit kognitiver Beeinträchtigung und Amyloidose weisen eine verminderte Abundanz von Eubacterium rectale und Bacteroides fragilis auf sowie eine Erhöhung an Escherichia/Shigella, was auf eine proinflammatorische Ausprägung hinweist [5].
Das Risiko an AK zu erkranken ist bei entzündlichen Erkrankungen des Gastrointestinaltrakts erhöht
Um AK im Tiermodell zu untersuchen, gibt es verschiedene transgene Mausmodellle. Im APP/PS1-Modell (Amyloid-Precursor-Protein/Presenilin 1) wurden Odoribacter und Helicobacter erhöht und Prevotella erniedrigt gefunden [18] sowie eine entzündungsfördernde Erhöhung an Proteobakterien (Gattung Sutterella) und Erysipelotrichaceae nachgewiesen [1]. Eine weitere Arbeit an diesem Modell zeigte eine Reduktion der Firmicutes, Verrucomicrobia, Proteobacteria und Actinobacteria mit einem gleichzeitigen Anstieg der Bacteroidetes und Tenericutes im Vergleich zu Wildtypmäusen [9].
An keimfreien APP/PS1-Mäusen wurde eine Reduktion der Aβ-Plaques nachgewiesen. Wurden diese Mäuse mit Mikrobiota herkömmlich gehaltener APP-Mäuse besiedelt, erhöhten sich die Aβ-Plaques weitaus stärker als infolge einer Besiedlung mit Mikrobiota normaler Wildtypmäuse [9], wodurch eine Beteiligung der Mikrobiota konkret auf die Ausprägung der Aβ-Plaques nachgewiesen wurde. Unterstützt wird diese Schlussfolgerung durch die Tatsache, dass etliche Bakterienstämme (u. a. Escherichia coli, Salmonella enterica serovar Typhimurium, Bacillus subtilis, Staphylococcus aureus und Mycobacterium tuberculosis) in der Lage sind, extrazelluläre Amyloide zu produzieren [10], und dass diese wie auch das Aβ-Protein membrangängig sind und somit die Darmbarriere und die BHS passieren können. Die Barrierefunktion des Gehirns und, wie neuere Studien zeigen, auch des Darms [26] ist im Alter beeinträchtigt und wird als eine weitere Ursache für das Auftreten der AK mit zunehmendem Alter diskutiert. Mikrobielle Dysbiosen, die sich während der AK manifestieren, führen zu einer weiteren Schädigung der Darmbarriere.
Als ein Risikofaktor für die Dysbiose, welche zur Entstehung der AK beiträgt, wird eine mangelhafte Ernährung insbesondere in Hinsicht auf die „Western diet“ (westliche Ernährungsweise) mit einem hohen Gehalt an Fetten und Cholesterin diskutiert. Eine fettreiche Ernährung („high-fat diet“) führt bei Mäusen zu einer ungünstigen Zusammensetzung der Mikrobiota, einhergehend mit erhöhter Darmpermeabilität und systemischer Entzündung [4]. Des Weiteren wurde Trimethylamin-N-Oxid (TMAO), welches in der Leber aus dem von Darmbakterien freigesetzten TMA bei der Verstoffwechselung u. a. von rotem Fleisch entsteht, als der „Topmetabolit“ von 171 mikrobenassoziierten humanen Metaboliten im Zusammenhang mit der AK identifiziert [27].
Multiple Sklerose
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Autoimmunerkrankung des Gehirns und des Rückenmarks, deren erste Symptome oft zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr bevorzugt bei Frauen auftreten und weltweit >2,5 Mio. junge Erwachsene betrifft. Aktivierte Immunzellen greifen die Myelinscheiden der Nervenzellen an und induzieren Läsionen. Die Symptome und der Verlauf unterscheiden sich stark zwischen den Patienten, u. a. aufgrund der multifaktoriellen MS-Ätiologie, die sowohl genetische als auch in starkem Maß Umweltfaktoren einschließt. Der genaue Mechanismus für diese destruktive Krankheit ist noch unbekannt. Es gibt vielfältige symptomatische Behandlungsmöglichkeiten, welche sich am MS-Verlauf orientieren.
Ein verändertes Darmmikrobiom stellt möglicherweise einen Umweltfaktor dar, der MS begünstigt oder sogar als der größte Risikofaktor angesehen wird. Trotzdem fehlen konkrete Mikrobiota assoziierte Biomarker mit diagnostischem Potenzial. Die bei MS-Patienten auftretende Dysbiose ist dagegen gut charakterisiert. Innerhalb der Bacteroidetes weisen Parabacteroides und Prevotella, welche an der Produktion kurzkettiger Fettsäuren beteiligt sind, bei Patienten mit rezidivierend-remittierender MS eine verminderte Häufigkeit auf, Firmicutes dagegen zeigten eine höhere Abundanz hinsichtlich Dorea und Blautia, denen eine proinflammatorische Rolle zugewiesen werden kann. Clostridium und Fecalibacterium wurden entweder unverändert oder herabreguliert gefunden. Eine verminderte Clostridium-assoziierte Synthese kurzkettiger Fettsäuren (Butyrat) könnte die Folge sein. Bezüglich Actinobakterien zeigten Adlercreutzia (equolifaciens) und Collinsella eine geringere Abundanz, während bei Proteobakterien eine Anreicherung von Mycoplana und Pseudomonas nachgewiesen wurde [17]. Des Weiteren ist eine Erhöhung proinflammatorischer Mikroorganismen wie Akkermansia, Acinetobacter und Methanobrevibacter bei MS-Patienten dokumentiert [3]. Neben der Dysbiose kommt es auch zum Auftreten von gastrointestinalen Dysfunktionen wie Darmbarrierestörungen und (oft alternierend) Obstipation und Stuhlinkontinenz. Verschiedene Bakterienstämme wie Lactobacillus, Bifidobacterium und Streptococcus wurden bereits erfolgreich an MS-Patienten getestet [21].
Die Induktion einer experimentellen Autoimmunenzephalomyelitis (EAE) – assoziiert mit Darmbarrierestörungen – ist das am häufigsten verwendete und der klinischen MS ähnlichste Tiermodell. In einem transgenen EAE-Mausmodell wurde gezeigt, dass die Darmflora für die Auslösung von Autoimmunprozessen notwendig ist, da die gleichen für EAE anfälligen Mäuse unter keimfreien Bedingungen vor dem Ausbruch der Krankheit geschützt waren [2]. Die Gabe verschiedener Bakterienstämme (u. a. Prevotella, Lactobacillus, Streptococcus, Bifidobacterium) schwächte die Ausprägung der EAE ab.
Schlaganfall
Der Schlaganfall rangiert unter den 3 häufigsten Todesursachen weltweit; er ist die häufigste Ursache für eine erworbene Behinderung im Erwachsenenalter. Etwa 80 % der Schlaganfälle sind auf eine Störung der Durchblutung des Gehirns zurückzuführen, und das Risiko steigt mit zunehmendem Alter. Die Therapieoption für die Behandlung eines akuten ischämischen Schlaganfalls ist auf die Gabe des rekombinanten Gewebeplasminogenaktivators (rtPA) bzw. eine mechanische Rekanalisation begrenzt. Dabei kann tPA die Perfusion des Gehirns durch Thrombolyse wiederherstellen. Nach einem therapeutischen Zeitfenster von 4,5 h überwiegen die Risiken einer hämorrhagischen Blutung jedoch die Vorteile einer tPA-Behandlung.
Infolge eines Schlaganfalls erleiden bis zu 50 % der Patienten gastrointestinale Komplikationen
Patienten mit einem Schlaganfall bzw. einer transienten ischämischen Attacke weisen eine Dysbiose auf, welche im Grad mit der Schwere des Infarkts korreliert. Opportunistische Bakterien der Gattungen Enterobacter, Megasphaera, Oscillibacter und Desulfovibrio treten vermehrt auf, während kommensale Bakterien wie Bacteroides, Prevotella und Fecalibacterium vermindert sind [28]. Als Ursachen für diese Dysbiose werden eine Vielzahl von Faktoren diskutiert, darunter eine Immunsuppression, die Freisetzung zerebraler Entzündungsmediatoren, die Aktivierung des sympathischen Nervensystems, Stressinduktion und eine beeinträchtigte intestinale Motilität [25]. Infolge eines Schlaganfalls erleiden bis zu 50 % der Patienten gastrointestinale Komplikationen, welche negativ mit der Genesung korrelieren [25].
Patienten, die akut einen Schlaganfall überleben, sterben oft infolge sekundärer Infektionen, insbesondere an einer bakteriellen Pneumonie. Die Tatsache, dass mikrobielle Kulturen dieser Patienten oft negative Resultate zeigten, dass weder eine präventive Antibiotikagabe noch die Behandlung mit Antibiotika zu einer signifikanten Verringerung der Mortalitätsrate führte [25], veranlasste ein Forscherteam aus Australien zu der Hypothese, dass (anaerobe) intestinale Bakterien ursächlich an einer schlaganfallinduzierten Pneumonie beteiligt sind [20]. Zunächst legten sie Kulturen aus verschiedenen Proben (Blut, Urin, Sputum) an und wiesen bei etwa 20 % der Schlaganfall‑/Pneumoniepatienten positive Resultate für intestinale Bakterien wie z. B. Enterococcus spp., Escherichia coli und Morganella morganii nach. Weitere Untersuchungen wurden am Mausmodell durchgeführt. Die Infarktinduktion erfolgte durch einen transienten 60-minütigen Verschluss der mittleren Zerebralarterie (MCAO, „middle cerebral artery occlusion“). Die Autoren wiesen eine sehr früh auftretende Störung der Darmbarriere nach, anschließend trat eine Reduktion der bakteriellen Biomasse im Ileum und Kolon auf. Kultivierbare Bakterien wurden dagegen in der Lunge, der bronchoalveolären Spülflüssigkeit, der Leber und der Milz nachgewiesen, was auf eine systemische Verbreitung von Darmbakterien hindeutet. Dies war nicht der Fall bei Mäusen, welche unter keimfreien Bedingungen aufgezogen wurden, was die Annahme einer endogenen Bakterienbesiedlung unterstützt. Mittels eines Source-Tracker-Algorithmus konnten die Bakterien in der Lunge dem Dünndarm als Ursprung zugeordnet werden [20].
Mikrobiombasierte Diagnose und Therapie
Obwohl die Gabe von Prä- und Probiotika momentan sehr beliebt ist und allgemein als nebenwirkungsfrei gilt, ist eine spezifische Therapie basierend auf einer individuellen Diagnostik wünschenswert. Zudem mehren sich wissenschaftliche Evidenzen für unerwünschte Wirkungen. Eine aktuelle Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Probiotika eine bakterielle Überwucherung des Dünndarms einhergehend mit leichtgradigen kognitiven Störungen auslösen können [14].
Bei einer bestehenden Dysbiose kann die Gabe von Antibiotika – meist verabreicht in Form einer Kombination an Breitbandspektrumantibiotika – sowohl im Tiermodell als auch beim Patienten zu einer Verbesserung des Verhaltens und zu einer Abschwächung der mit den pathologischen Veränderungen assoziierten neuromorphologischen Korrelate führen. So wurde in einem AK-Mausmodell infolge einer Antibiotikabehandlung eine veränderte Zusammensetzung der Darmbakterien nachgewiesen, die mit einer verringerten Aβ-Ablagerung im Gehirn einherging [12]. Außerdem wurde ein neuroprotektiver Effekt von Minocyclin in einem PD-Mausmodell erzielt [22]. Obwohl auch positive Auswirkungen von Antibiotika auf Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen beschrieben sind, u. a. die Reduktion der Aβ-Plaques [19], ist eine individuelle, auf den Stand der Erkrankung angepasste Antibiotikaempfehlung noch nicht in Sicht. Dies ist jedoch umso wichtiger, da von einer prophylaktischen Behandlung abzuraten ist. Eine Studie hat die negativen Auswirkungen einer Antibiotikagabe auf die Darmbakterien bei gesunden Probanden in Hinsicht auf Resistenzen und auf die gesundheitsförderlichen butyratproduzierenden Spezies aufgezeigt [29].
Die Stuhltransplantation erfolgt per Koloskopie, Magensonde oder oral mit Kapseln
Die fäkale Mikrobiotatransplantation oder Stuhltransplantation erfolgt über eine Koloskopie, über eine Magensonde oder aktuell über eine orale Therapie mit Kapseln. Dazu wird der Stuhl von gesunden Spendern entsprechend aufbereitet. Erfolge dieser Therapie sind insbesondere bei durch C. difficile induzierter Kolitis beschrieben. Aktuell wird die Wirksamkeit der Stuhltransplantation bei entzündlichen Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa), Diabetes mellitus, Adipositas sowie bei MS getestet. Trotz positiver Studienergebnisse sind die Standardisierung der Methode (auch hinsichtlich Wahl, Aufbereitung und Lagerung des Empfängerstuhls), die Abschätzung der Risiken (z. B. bei Vorliegen einer Barrierestörung der Darmwand) sowie die Langzeitfolgen noch nicht ausreichend untersucht.
Eine Alternative zur Transplantation wäre die gezielte Gabe von Stoffwechselprodukten der Darmbakterien. In diesem Zusammenhang sind die kurzkettigen Fettsäuren sowie deren positive immunmodulatorische Effekte aktuell von hohem Interesse. So wurde nachgewiesen, dass die kurzkettige Fettsäure Propionsäure und deren Salze die Differenzierung und Aktivierung von regulatorischen T‑Zellen des Immunsystems (Treg-Zellen) fördern und als Folge die Entzündungsreaktion abmildern können [8].
Ausblick
Bedingt durch einfach anzuwendende Sequenziertechniken existieren Patientendaten zu allen wichtigen ndE bezüglich krankheitsbedingter Veränderungen der Mikrobiota, während die Analyse Mikrobiota assoziierter Metaboliten und ihrer Nachweisbarkeit noch unzureichend ist. Neben Studien zur Funktion einzelner Spezies und ihrer Stoffwechselprodukte sind Kenntnisse erforderlich, wie sich diese in Gemeinschaft und in Interaktion mit dem Wirt modulieren. Darüber hinaus besteht die Aufgabe der systematischen Charakterisierung des Mikrobioms und des Metaboloms unter Berücksichtigung bereits vorhandener Datensätze zu ndE auch unter Berücksichtigung des Alters der Patienten, ihres Lebensstils und ihrer geografischen Herkunft. Die Diagnostik und Therapie werden erschwert durch die hohe interpersonelle Individualität des Mikrobioms. Mikrobiomassoziierte Biomarker für die Prognose und das Krankheitsstadium der ndE müssen identifiziert werden, um daraus eine auf den Patienten zugeschnittene Therapie bzw. eine frühzeitige positive Intervention zu entwickeln. Darüber hinaus existieren Mausmodelle zur Induktion von ndE und mit der Möglichkeit einer gezielten Modulierung der Mikrobiota. So können präklinisch Mechanismen untersucht und Therapien überprüft werden. Unter diesen Voraussetzungen kann das vielversprechende Potenzial des Mikrobioms in Zukunft einen hohen Stellenwert in der klinischen Praxis erhalten.
Einer gestörten – die Neurodegeneration fördernden – Kommunikation innerhalb der Darm-Hirn-Achse liegen oft Störungen der Integrität und Durchlässigkeit der Darmbarriere und der BHS zugrunde. Auch hier ist die Ursachenforschung am Anfang. Therapiemöglichkeiten sind noch nicht vorhanden.
Fazit für die Praxis
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Gastrointestinale Störungen bergen ein erhöhtes Risiko für neurodegenerative Erkrankungen (ndE).
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Neurodegenerative Erkrankungen sind mit einer gut charakterisierten intestinalen Dysbiose assoziiert, wobei das Ausmaß oft mit dem Grad der Erkrankung korreliert.
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Dysbiose führt zu Darmbarrierestörungen.
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Darmbarrierestörungen bedingen Störungen der Blut-Hirn-Schranke (BHS).
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Es gibt bisher weder konkrete – auf Mikrobiota basierende – klinische Tools, um ndE sicher zu prognostizieren oder um eine spezifische Therapieempfehlung abzugeben.
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Eine Therapie sollte individuell auf den Patienten abgestimmt werden.
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Interessenkonflikt
C. Frahm und O.W. Witte geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Frahm, C., Witte, O.W. Mikrobiom und neurodegenerative Erkrankungen. Gastroenterologe 14, 166–171 (2019). https://doi.org/10.1007/s11377-019-0345-2
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