Der Begriff der ‚Optimierungsgesellschaft‘ wird in jüngster Zeit immer wieder verwendet, um Schönheits- und Leistungsimperative zu beschreiben, denen sich Menschen scheinbar freiwillig unterwerfen. Dabei kann der Vorgang der Selbstoptimierung definiert werden als „kontinuierlicher Prozess der ständigen Verbesserung der persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten mittels Selbstthematisierung, rationaler Selbstkontrolle und permanenter Rückmeldungen hin zur bestmöglichen persönlichen Verfassung“ (Fenner, 2020, o.). Der in diesem Zusammenhang von Bröckling (2007) geprägte Begriff des „unternehmerischen Selbst“ deutet bereits auf das Eindringen neoliberaler Prinzipien in den privaten Lebensbereich hin. Die Selbstverbesserung muss jedoch nicht zwangsläufig auf eine ökonomische Optimierung abzielen, sondern kann durchaus die Gestalt eines zielgerichteten ästhetischen Distinktionsprozesses annehmen, der dann im Sinne Bourdieus als soziales oder symbolisches Kapital gesellschaftliche Anerkennung verfolgt. Im folgenden Aufsatz soll anhand von Kevin Kuhns Roman Hikikomori analysiert werden, wie der Geist jener Selbstoptimierung die Dynamik der Familie Tegetmeyer bestimmt und wie der Sohn Till, Protagonist des Romans, sich zusehends den Forderungen einer ständigen Selbsteffektivierung durch die Hikikomori-Existenz entzieht.

Als Hikikomori werden in Japan jene Personen bezeichnet, die sich für längere Zeit, meist mehr als sechs Monate, mit minimalen Sozialkontakten in ihr Zimmer zurückziehen. Dabei handelt es sich vorwiegend um jüngere Männer, die sich, oft nach Misserfolgen oder traumatischen Ereignissen, dem Schulbesuch oder der täglichen Arbeit verweigern und stattdessen durch das Elternhaus versorgt werden (Rosenthal & Zimmerman, 2012; S. 83). Als Hikikomori wird auch das soziologische Phänomen des sozialen Rückzugs bezeichnet, das in Japan vermehrt in der gesellschaftlichen Mittelschicht und oberen Mittelschicht beobachtet wird und häufig als eine Reaktion auf hohen gesellschaftlichen Leistungsdruck angesehen wird. Zunehmend wird das Hikikomori-Phänomen auch außerhalb Japans diagnostiziert, vor allem in jenen Ländern, in denen Kinder besonders lange im Elternhaus leben (Tamaki, 2013; S. 6).

Optimierungsnarrative

Kevin Kuhns Hikikomori ist ein postmoderner Entwicklungsroman. Erzählt wird ein Handlungsspielraum von rund neun Monaten, in dem der etwa 19-jährige Protagonist, Till Tegetmeyer, sich auf eine Selbsterfahrungsreise begibt, die selten die Grenzen des eigenen Zimmers oder der elterlichen Wohnung überschreitet. Ausgangspunkt der Handlung ist dabei eine geplante Weltreise, die Till mit dem besten Freund Jan gleich im Anschluss an das bestandene Abitur unternehmen möchte:

… obwohl wir schon vor Jahren fest ausgemacht hatten, dass wir gleich nach den Prüfungen in den erstbesten Flieger steigen, und erst dann zurückkommen würden, wenn wir uns so sehr verändert hätten, dass uns zu Hause keiner mehr erkennen würde (Kuhn, 2020; S. 25).

Selbsterfahrung und innere Entwicklung stehen im Mittelpunkt jener intendierten Reise, zu der es für Till nie kommt, da er nicht zum Abitur zugelassen wird. Mayerhofer spricht in diesem Zusammenhang vom Verpassen der „institutionell geregelten Initiation zum Erwachsenendasein.“ (Mayerhofer, 2015, S. 321) Während Jan planmäßig zur Reise um die Welt antritt, kappt Till zusehends die Kontakte mit der ihn umgebenden analogen Welt und zieht sich stattdessen in eine virtuelle Welt vor dem Computer im eigenen Zimmer zurück. Der Freundin Kim erklärt er vor dem Beginn seines Experiments: „ich habe etwas vor, Kim. ich will zeit und raum selbst bestimmen. das eine rinnt mir durch die finger, dem anderen rinne ich durch die finger. zumindest will ich selbst bestimmen, was da durchrinnt“ (Kuhn, 2020; S.41).Footnote 1

Die Gründe für diesen Rückzug müssen in Tills direktem Umfeld gesucht werden. Kevin Kuhn zeichnet eine Elterngeneration, in deren Lebensmittelpunkt die Selbstoptimierung steht. Die Tegetmeyers gehören einer urbanen gehobenen Mittelschicht an, die, finanziell abgesichert, ihre soziale Distinktion durch die Zurschaustellung von gutem Geschmack und Individualität weiter konsolidiert. Ausgesuchte Möbelstücke, hochpreisige Delikatessen und ein affektiertes Auftreten (Tills Mutter ist auch im Abstellkeller mit einem Sektglas anzutreffen), prägen die Beschreibungen einer Wohnkultur, in der selbst das Alltägliche zur Formvollendung gebracht werden soll:

Für Mutter sind wir eine hochwertige Familie. Man könne aus jedem von uns Einzelteile herauslösen, sagt sie, und als High-End-Produkte irgendwelchen Forschern oder Karosseriebauern anbieten. […] Und hochwertige Familien bräuchten ein hochwertiges Umfeld, so ihr Credo. Das Innere des Menschen müsse sich im Außen der Umgebung spiegeln können, oder mehr noch: Das Außen müsse das im Innern Verborgene hervorrufen, evozieren. „Humanize!“ prangt als Leitmotiv über dem Eingang ihrer Wirkungsstätte (Kuhn, 2020; S.92).

Die Selbstoptimierung des Elternhauses steht im Spannungsfeld zwischen Leistungssteigerung und Ästhetik. Für Tills Mutter Karola ist die Optimierung des familiären Lebens durch die Ästhetik ins Zentrum einer ansonsten wenig ausgefüllten Existenz gerückt. Als Zeitvertreib betreibt sie eine Boutique, in der kostbare Möbelunikate aus aller Welt kuratiert und verkauft werden und ansonsten der „ästhetisch wenig ausgefeilte Lebensstil der anderen Leute“ kritisiert wird (Kuhn, 2020; S. 91). Der Name der Boutique, der SchauRaum, kann gemäß dem bekannten Diktum von Andrei Tarkowski – „wir schauen nur, aber wir sehen nicht“ (Benatzky, 2021; S. 29) – als Hinweis auf die fast obsessive Faszination der Familie mit der Oberfläche verstanden werden. Besonders bei der Mutter wird das Exotische und Außergewöhnliche zelebriert, ohne es in seiner tieferen Verankerung wahrzunehmen. Die ästhetische Optimierung der Familie ist hier lediglich der Versuch, das eigene Sozialprestige zu steigern. Bourdieu hat für diese symbolische, nur nach außen gerichtete Aneignung von Eigentum den Begriff des „symbolischen Ersatzes“ geprägt:

sich ein Kunstwerk aneignen heißt, sich erweisen als exklusiver Inhaber des Gegenstandes ebenso wie des wahrhaften Geschmacks an ihm, der sich damit verwandelt in die dingliche Negation all derer, die nicht wert sind, ihn zu besitzen, weil ihnen die materiellen oder symbolischen Mittel zur Aneignung fehlen (Bourdieu, 1998; S. 438).

Verbunden ist dies bei der Mutter mit sozialen Aufstiegsambitionen. Karolas Buhlen, erst um den Mäzenensohn Joachim und dann um den Schönheitschirurgen Oskar, tragen gleichfalls die Zeichen einer symbolischen Aneignung. Dass besondere Bewusstsein der Mutter für die Außenwirkung ihrer Existenz, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie anderen Menschen gesellschaftliche Rollen zuschreibt: „Und Mutter ist ein erstaunliches Gewächs, weil sie den Leuten Rollen zuweist und sie diese spielen lässt, ohne sie davon etwas mitbekommen zu lassen“ (Kuhn, 2020; S. 17). Welche Rolle Till dabei zufällt, wird ihm erst gegen Ende des Romans klar, als er aufgrund seiner Hikikomori-Existenz vom familiären Weihnachtsfest ausgeschlossen wird, bei dem er „traditionell die Wünsche aller in sich bündelt“ und die Familie „vollendet“ (Kuhn, 2020; S. 197). Till ist demnach auch Projektionsfläche des elterlichen Wunsches nach stetiger Arbeit an einem zur Schau gestellten Selbst.

Ästhetische Selbstoptimierung steht auch bei der Tätigkeit des Vaters im Vordergrund. Als erfolgreicher Schönheitschirurg versteht er es als seine Aufgabe, die individuellen Charakterzüge seiner Klienten im Äußeren zum Ausdruck zu bringen:

[Vater] scannt Körperpartien nach charakterbildenden Furchen und Kanten, für deren Freilegung sein Handwerk sich erst eigentlich lohnt […] Es ist das besondere und individuelle Ich, nach dem er sucht. […] Und so bestürmen sie ihn, den Arzt mit den markanten Zügen, und bitten um seine legendären Tegetmeyer-Tinkturen, zur Linderung von Tränensäcken und zur Optimierung des Charakters eigens entwickelt“ (Kuhn, 2020; S. 61).

Das Weltbild des Vaters ist dabei von einem Machbarkeitsdenken geprägt, welches das körperliche Erscheinungsbild nicht mehr wie Freud als Schicksal ansieht, sondern als Resultat eines bewusst gesteuerten, fortwährenden Optimierungsprozesses: „In Vaters Philosophie sind Dicke träge und träge Menschen krank und erfolglos. So einfach sei das“ (Kuhn, 2020; S. 87). Mit dieser starken Betonung der Eigenverantwortlichkeit des Individuums präsentiert sich Oskar Tegetmeyers Philosophie als Produkt einer neoliberal geprägten Weltsicht. Denn dort

gilt der schlanke Körper als Ausdruck von Disziplin, Ehrgeiz, Zielorientierung, Selbstverantwortung und Durchsetzungsvermögen. Dieser symbolische Mehrwert steigert den eigenen Marktwert sowie die persönliche Wettbewerbsfähigkeit am Arbeits- und Beziehungsmarkt drastisch und verspricht Erfolg und Karriere (Gnedt, 2018; S. 11).

Dass Oskar diese Art der Selbstoptimierung auch für den Sohn vorgesehen hat, befürchtet Till bereits zum Beginn der Romanhandlung: „Ich wachse noch bis einundzwanzig, sagt Vater, dann müsse er ran und einen gescheiten Mann aus mir herausschnippeln. Er lacht, wenn er das sagt, aber ich bin mir sicher, er meint es ernst“ (Kuhn, 2020; S. 16). Dem Vater geht es allerdings weniger um einen kosmetischen Eingriff, als um den symbolischen Versuch, einen Reifungsprozess zu forcieren, zu dem die geplante Weltreise hätte beitragen sollen:

Es ist gut, dass du das machst, da wird es sich formen, das Ich. Das wird es lernen zu sagen: Das mag ich, und das mag ich nicht. Kantig wird es da, verstehst du?“ […] So um 21 muss es kantig werden, sonst lümmelt es das Leben lang wie ein glibberiges Etwas herum, passt sich hier und da an, nimmt mal die, mal jene Form an; und geht dabei verloren, weil es nicht auf das Eigene zurückgreifen kann (Kuhn, 2020; S. 99).

Dabei können Tills Eltern keineswegs als strenge Zuchtmeister ihres Sohnes bezeichnet werden, die den Selbstoptimierungsprozess aktiv forcieren. Als Waldorfschüler erhält er „privilegierte Möglichkeiten der Entfaltung“ (Kuhn, 2020; S.14), jedes noch so flüchtige Interesse des Heranwachsenden wird unmittelbar finanziell gefördert, bleibt aber immer nur eine vorübergehende Beschäftigung. Vielmehr ist es die Faszination mit der Oberfläche einer Überflusskultur, vorgelebt von der Elterngeneration, die auch der junge Till bereits imitiert.

So ist auch die Bruchstelle in Tills Biographie nicht unbedingt in der Nichtzulassung zum Abitur zu suchen, denn die oberflächliche Beschäftigung mit der Welt scheint sich als logische Folge auch auf die schulischen Leistungen niederzuschlagen. Anstatt Eigeninitiative von ihm einzufordern, ersetzen die Eltern Tills eigenes Engagement durch juristische Schritte gegen die Schule, indem sie ihn durch das Abitur klagen. Die Romanhandlung setzt daher mit Tills Entrümpelung seines Kinderzimmers ein, dem Moment, als er sich entscheidet, die Lebenskonzepte der Elterngeneration zurückzuweisen. Während die Eltern sich mit immer exotischerem Luxus umgeben um damit ihren Platz im aufstrebenden gehobenen Bürgertum zu konsolidieren, distanziert sich Till durch spartanische Einfachheit – im Zimmer verbleiben nur Matratze und Computer – von seiner früheren RolleFootnote 2:

Solange ich noch unter ihnen bin und diese meine alte Rolle spiele, auch wenn es die Rolle ist, sich gegen alle Beeinflussung zu wehren, werde ich nie ein anderer sein. Doch diesen anderen gibt es. Es ist etwas in mir, das Raum braucht, einen großen, etwas, das niemals in vorgefertigte Boxen passen wird. Und ich muss es sein, der diesen Raum erschafft, nicht Jan, nicht Vater, ich allein (Kuhn, 2020; S. 27).

Der basale Bruch des Familienkontraktes besteht demnach darin, dass Till nicht mehr bereit ist, für ihn vorgesehene Rollen zu spielen, auch wenn diese Rollen ihm Freiheiten, materiellen Überfluss und weitgehende Verantwortungslosigkeit zugestehen. Die anfängliche Enttäuschung, nicht auf die lange geplante Reise mit Jan zu gehen, weicht der Einsicht, dass es sich auch hier um einen vorgefertigten Lebensabschnittsentwurf handelt, den der Vater ihm zur Formung des Charakters ausdrücklich empfiehlt. Denn die geplante Route um die Welt ist gerade jene Strecke, die der Vater in der eigenen Jugend bereist hatte: es handelt sich also um eine Abarbeitung väterlicher statt eigener Lebensträume. Die Fotos, die Jans Reise in den folgenden Monaten auf sozialen Medien dokumentieren, bestätigen ihm zudem, dass es sich hier lediglich um eine zeitgemäße Inszenierung des Selbst handelt, wie er es bereits aus dem Elternhaus kennt: „was täglich hier eintrifft, sind fotos von jan: jan auf dem sitz eines jet-skis, gischt hinter sich aufwirbelnd, jan am bungeeseil baumelnd, jan mit einer russin im arm. Ich aktualisiere: jan beim aussteigen aus einer propellermaschine, „buddha air“, vor watteartigen nebelfeldern“ (Kuhn, 2020; S. 108). Jan betreibt durch die sorgsam inszenierte mediale Dokumentation seiner Reise eine ähnliche Arbeit am eigenen Sozialprestige, wie Tills Mutter. Tiefere, gar transformatorische Erkenntnisgewinne einer solchen Reise erscheinen damit zumindest fraglich.

Um Jans Weltreise von Tills virtueller Reise im eigenen Zimmer zu differenzieren, bietet sich die von Meißner vorgeschlagene begriffliche Unterscheidung zwischen Selbsteffektivierung und Selbststeigerung an (Meißner, 2016; S. 240). Während beide Begriffe Formen der Selbstoptimierung darstellen, zielt die Selbsteffektivierung auf eine Steigerung der Leistung oder des Aussehens ab, mit dem Ziel, die soziale oder ökonomische Situation zu verbessern. Der Selbststeigerung geht es dagegen um die Selbsterfahrung bzw. die Selbstkenntnis, die von sozialen und wirtschaftlichen Zielsetzungen weitgehend befreit ist.

Dass Tills Rückzug von einem radikalen Wunsch nach Erkenntnisgewinn geprägt ist, zeigt sich nicht zuletzt an der Beziehung mit seiner Freundin Kim. Bereits äußerlich als direktes Gegenbild zur elterlichen Selbstoptimierungsphilosophie erkennbar („Till, der charismatische Schönheitschirurgensohn, Kim, die nachlässig Gekleidete aus einfachen Verhältnissen“ (Kuhn, 2020; S. 38), ist die Beziehung gleichzeitig ein Ausdruck des Protests gegen die elterlichen Wertvorstellungen: „[Kims] Versuche, sich für die neusten Trends zu begeistern […] wirkten wie fremd, wie von außen aufgesetzt. […] Die trendigen Klamotten machten nicht Kim cool. Kim machte die trendigen Klamotten uncool“ (Kuhn, 2020; S. 37). Kims mangelnde Zugehörigkeit zu jener Welt erlaubt ihr einen kritischen Blick, der die glatte Oberflächenästhetik der Selbstoptimierung durchdringt und sich auch in ihrer künstlerischen Tätigkeit manifestiert:

ein permanenter, auf alles gerichteter Zweifel. So entstanden Bilder, die sie […] regelrecht versteckte. Auf den ersten Blick glückliche Familien im Gruppenportät vor idyllischen Küstenlandschaften, die bei näherem Betrachten sich in ihr Gegenteil verkehren, das Meer sich als ein trüber Sumpf entpuppt, die Hand des Vaters dann nicht mehr zufällig den Körper der Tochter umarmt (Kuhn, 2020; S. 38).

Obwohl er in Kim eigentlich eine Verbündete gegen den elterlichen Lebensstil der ästhetischen Selbstthematisierung gefunden hat, bricht er die Beziehung vor dem Antritt seiner Reise ab, in der Hoffnung, alle Verbindungen und Rollen der analogen Welt hinter sich zu lassen.

Verwandlungen

Schon die erste Lektüre von Hikikomori legt nahe, dass Franz Kafkas Novelle Die Verwandlung Anregungen zur Gestaltung von Kevin Kuhns Roman gegeben hat. So lässt sich in beiden Texten der Rückzug des Protagonisten in das eigene Zimmer ebenso konstatieren, wie die (bei Kafka plötzliche, bei Kuhn sukzessive) Verwandlung eines Menschen und Familienmitglieds in ein fremdes Wesen, das aufgrund seiner Andersartigkeit anfangs zwar noch toleriert, später aber aus dem Familienverbund ausgeschlossen wird. Hinzu kommt bei Kuhn noch der Erwerb eines Leguans, der als ‚Ungeziefer‘ und Alter Ego des Protagonisten den Verwandlungsprozess zusammen mit und – wie sich herausstellen wird – bisweilen stellvertretend für Till durchlebt. Die intendierte Parallelführung der Texte lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass der Protagonist Till in einem vorab veröffentlichten Auszug des Romans noch Gregor hieß (Kuhn, 2010).

Bei näherer Betrachtung eröffnen sich weitere Verbindungen zwischen den Texten, deren Wurzeln in den ökonomischen Verhältnissen und der damit verbundenen Familiendynamik gesucht werden müssen. Gregor Samsa ist als gutverdienender Handlungsreisender der wirtschaftliche Versorger der Familie. Sowohl Vater, Mutter als auch Schwester gehen keiner Erwerbstätigkeit nach und sind demnach von ihm finanziell abhängig. Gregor trägt eine finanzielle Schuld seiner Eltern ab, für die er selbst nicht verantwortlich ist. Zudem handelt es sich bei Gregors Arbeit keineswegs um eine für ihn erfüllende Tätigkeit, sondern um eine familiäre Pflichterfüllung, unter der er persönlich leidet:

Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst gekündigt, ich wäre vor den Chef hingetreten und hätte ihm meine Meinung von Grund des Herzens aus gesagt. Vom Pult hätte er fallen müssen! Es ist auch eine sonderbare Art, sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muß. Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben, habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn abzuzahlen – es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern –, mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig allerdings muß ich aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf (Kafka, 1986; S. 10).

Der auf Gregor ausgeübte Druck ist unmittelbar: bereits ein verpasster Arbeitstag nach vielen Jahren beanstandungsloser Tätigkeit führt hier potenziell zum finanziellen Ruin der Familie. Schon wenige Stunden nach der Verwandlung klopfen der Vater und der Prokurist als Vertreter des kapitalistischen Systems an Gregors Tür und verlangen die Wiederherstellung des alten Zustands. Walter Sokel weist in diesem Zusammenhang auf die von Marx diagnostizierte Abtrennung von Menschsein und Kapitalproduktion hin. Gesellschaftliche Achtung ist hier direkt mit profitproduzierender Arbeit verbunden (Sokel, 1981; S. 15). Die Profitfunktion, in der Gregor von der Firma und dem Vater gesehen wird, führt schließlich zur Entfremdung und Spaltung seiner Existenz in Mensch und Ungeziefer.

Das spätkapitalistische System in Hikikomori trägt auf den ersten Blick ein freundlicheres Gesicht, die Situation Tills erscheint 100 Jahre später zunächst ungleich besser als die Gregors. Nicht nur trägt er keine finanzielle Verantwortung für die Familie, vielmehr ist es die Familie, die ihm durch die anhaltende Versorgung im verschlossenen Zimmer „das parasitäre Leben erst ermöglicht“ (Kuhn, 2020; S. 142). Till lebt in einer Gesellschaft, deren Ethos die größtmögliche Freiheit, Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung des Individuums ist. Dennoch spürt auch Till das „Gefühl eines permanenten, sich nur langsam lösenden Drucks“ (Kuhn, 2020; S. 16), der nicht aus gegenwärtigen wirtschaftlichen Verpflichtungen erwächst, sondern aus den schier unendlich scheinenden Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens. Bei aller Offenheit steht als Zielsetzung, zumindest im familiären Erwartungshorizont, eine wirtschaftlich und ästhetisch optimierte Existenz.Footnote 3 Mit der Nichtzulassung zum Abitur sind diese elterlichen Zukunftspläne und ein weiterer gesellschaftlicher Aufstieg erstmals infrage gestellt.

Sowohl Gregor als auch Till folgen anfangs widerstandslos dem von den Eltern vorgegebenen Weg. In beiden Texten ist es die Vaterfigur, die als Vollstrecker vorgefertigter Lebensentwürfe angesehen werden kann. Wie Anne Fuchs bemerkt, geht es in der Verwandlung unter anderem um das Versäumnis des Sohnes, die väterlichen Autoritätsansprüche zu internalisieren, wofür er später durch den Apfelbewurf bestraft und letztendlich getötet wird (Fuchs, 2002; S. 35). Die Verwandlung in ein Insekt kann in diesem Kontext als eine Verweigerung der vom Vater zugewiesenen Rolle des ‚Homo Oeconomicus‘ angesehen werden, die jedoch nicht von Erfolg gekrönt ist und mit einer Wiederherstellung der sozialen Hierarchie endet. In Hikikomori wird die von unterschwelligen Autoritätskämpfen geprägte Vater-Sohn-Beziehung bereits im ersten Kapitel angedeutet. Oskar inspiziert Tills leergeräumtes Zimmer, während dieser mit dem Ego-Shooter-Spiel Medal of Honor am Computer beschäftigt ist. „[Oskars] Gesichtszüge wirken wie geschliffen, die Hände groß wie Schaufeln“ (Kuhn, 2020; S. 10). Als übergroße Vaterfigur, versucht er auf die Lebensplanung des Sohnes einzuwirken: „Bist du dafür nicht zu alt? […] jede Zeit hat ihre spezielle Aufgabe, der man entgegentreten soll, um kantig zu werden“ (Kuhn, 2020; S. 10). Der immer wieder verwendete Begriff des „Kantigwerden“ steht dabei für Oskars Lebensentwurf, durch stetige Selbstoptimierung größtmögliche Distinktion zu erreichen. Dass es sich hier um einen für Till ernstzunehmenden Angriff auf die eigene Freiheit handelt, lässt sich symbolisch am Ausgang des Computerspiels ablesen, in das Till vertieft ist:

In den Spiegelungen des Fensters sieht er Oskar sich weiter behutsam durchs Zimmer bewegen, als suche er auch nach versteckten Feinden. Über dem ersten t von Bett bleibt Oskar stehen und reibt mit der Fußspitze über das B. „Sauklaue“, murmelt er. Unter dem Leuchter tippt er gegen die Matratze: „Till.“ Till reagiert nicht. „Hey Till, ist das bequem?“ Till sinkt erschossen zu Boden (Kuhn, 2020; S. 11).

Während Gregor Samsa als grundlegend verändertes, dem Vater fremdes Wesen erwacht, fasst Till selbst den Entschluss, sich dem väterlichen Einfluss zu entziehen. Motto ist ihm dabei eine Strophe aus dem Lied „Mut“ aus der Feder von Wilhelm Müller, die durch Franz Schubert Liedzyklus Winterreise Bekanntheit erlangte:

Lustig in die Welt hinein.

Gegen Wind und Wetter!

Will kein Gott auf Erden sein,

Sind wir selber Götter (Kuhn, 2020; S. 22–23).

Der Aufbruch des jungen in die Welt geworfenen Wanderers in der Winterreise geht hier Hand in Hand mit der Zurückweisung der väterlichen Autorität und dem Wunsch nach einer autonomen Weltgestaltung. Bei Kafka wird dieser Aufbruch bereits im Keim erstickt. Da Gregor nicht mehr seine Arbeitskraft gegen Geld eintauschen kann, wird er nicht nur vom wirtschaftlichen System ausgeschlossen, sondern verliert auch zunehmend sein Ansehen in der Familie. Das erscheint besonders deswegen problematisch, weil Gregors Tätigkeit eine selbstlose Aufopferung für die Familie darstellte, an die man sich „gewöhnt“ hatte und für die sich „eine besondere Wärme nicht mehr ergeben wollte“ (Kafka, 1986; S. 35). Zudem erfährt Gregor, dass die finanzielle Situation der Samsas weniger prekär als angenommen und dass alle anderen Familienmitglieder keineswegs arbeitsunfähig waren, sondern nach Gregors Verwandlung problemlos zurück in das Erwerbsleben finden konnten. Es handelt sich also um ein familiäres Machtgefälle, durch das Gregors Pflichtgefühl ausgenützt wird. Das gleiche Pflichtgefühl für ihn besteht weder seitens der Familie noch des Arbeitgebers. Vielmehr kann man mit Rhodes und Westwood von einer umgekehrten ödipalen Dynamik sprechen, die auf einem gänzlich ökonomischen Verständnis des familiären Austauschs besteht. Denn der Vater erlangt durch den Niedergang des Sohnes neue Bedeutung und tötet letztendlich den Sohn (Rhodes & Westwood, 2016; S. 244). Selbst die Schwester, die anfangs versucht, sich mit Gregors Verwandlung zu arrangieren und ihn mit Würde behandelt, stellt schließlich wirtschaftliche Bedenken in den Vordergrund und fasst durch gewollte Depersonalisierung ihres Bruders den Mut, ihn aus dem Familienverbund auszuschließen:

»Weg muß er,« rief die Schwester, »das ist das einzige Mittel, Vater. Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden suchen, daß es Gregor ist. Daß wir es so lange geglaubt haben, das ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, daß ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen. Wir hätten dann keinen Bruder, aber könnten weiter leben und sein Andenken in Ehren halten. So aber verfolgt uns dieses Tier, vertreibt die Zimmerherren, will offenbar die ganze Wohnung einnehmen und uns auf der Gasse übernachten lassen (Kafka, 1986; S. 53–54).Footnote 4

Die Tegetmeyers reagieren anfänglich verständnisvoll auf Tills Rückzug. Man betrachtet die Hikikomori-Existenz als willkommene Arbeit am Selbst, ähnlich wie Tills frühere, von kurzer Dauer geprägte Interessen. Tills Mutter versorgt den Sohn mit den haushaltsüblichen Delikatessen, der Vater sieht sich in der geplanten Entwicklungsreise für den Sohn bestätigt: „Es müssen Brocken herausbrechen, genau wie Till es gerade macht“ (Kuhn, 2020; S. 100). Der von Till bestellte Leguan ist dabei in doppelter Weise an Tills Entwicklungsprozess gekoppelt. Für die Außenwelt stellt er, ähnlich wie das Ungeziefer für die Samsas, den zunehmenden Prozess von Tills Entmenschlichung dar. Blidy weist mit Blick auf Kafka etwa auf die fortgeführte Parasiten-Metaphorik in Hikikomori hin (Blidy, 2022; S. 114). Für Till ist das Tier nicht nur Wegbegleiter, sein körperlicher Zustand lässt auch Rückschlüsse auf den Zustand des Protagonisten zu. So blüht das anfangs fast reglose Tier auf, als sich Till dazu entscheidet, mit dem Spiel Minecraft „selbst zum Schöpfer [seiner] Welten“ (Kuhn, 2020; S. 129) zu werden und damit eine endgültige Ablösung von den Vorgaben der Erwachsenenwelt versucht: „Erst führte ich ihn auf das gebrochene Sonnenlicht zurück, als er im Tagesverlauf jedoch nicht zurückging, eher noch ins Orange kippte, wusste ich, dass eine Verwandlung stattfand. […] So begann es, sich gemächlich von innen heraus zu transformieren“ (Kuhn, 2020; S. 130).

Als sich Tills Rückzug jedoch über Monate hinweg fortsetzt, wird die Hikikomori-Existenz von den Eltern zunehmend als Infragestellung der eigenen Lebenskonzepte empfunden und dementsprechend sanktioniert. Indem man Till die Heizung abdreht, will man ihn zur Aufgabe seiner Selbsterfahrungsreise zwingen. Ausgetragen wird dieser Machtkampf stellvertretend über den Leguan, der in der Familie nur als „das Tier“ bezeichnet wird. So gibt Till den Eltern die Schuld am vermeintlichen Erfrierungstod des Leguans („Ihr habt ihm die Heizung abgestellt […] er ist erfroren“) (Kuhn, 2020; S. 168), weist aber damit gleichzeitig auf den eigenen Zustand hin. Ähnlich wie bei den Samsas, herrscht in der Familie Tegetmeyer Verunsicherung darüber, wo die Grenze zwischen Mensch und dem nun präsenten Anderen zu verorten ist. Mal wird der Leguan als „er“ bezeichnet und eine Aufnahme in die Familie angedeutet, mal wird seine Existenz durch Depersonalisierung bereits sprachlich infrage gestellt: „Das sieht ja echt tot aus. Was war denn das? […] Nichts war das“ (Kuhn, 2020; S. 169). Bezeichnenderweise ist es der Vater, der den Leguan durch eine medizinische Behandlung vor dem Tod rettet und damit auch stellvertretend die anfängliche Prophezeiung wahr zu machen scheint, den Sohn durch die eigenen Hände in einen „gescheiten Mann“ zu verwandeln.

In Die Verwandlung bedeutet Gregors Tod eine Befreiung der Familie. So erscheinen, nachdem Gregors ‚parasitäre‘ Existenz beendet ist und eine emotionale und ethische Rücksichtnahme nicht weiter geleistet werden muss, die wirtschaftlichen Aussichten der Familie durchaus positiv. Der Abstieg aus der bürgerlichen Gesellschaft ist abgewendet. Dabei gilt der Blick besonders der Tochter, die nun, frei von Pflegeverpflichtungen und wirtschaftlich abgesichert, die Suche nach einem geeigneten Partner beginnen kann:

Stiller werdend und fast unbewußt durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, daß es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen. Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte (Kafka, 1986; S. 59).

In Hikikomori kommt der Schwesterfigur eine ähnlich vermittelnde Funktion wie Grete zu. Bereits in kindlichen Rollenspielen pflegt Anna-Marie den älteren Bruder und führt stellvertretend für den Vater ‚Operationen‘ an Till aus: „Ich war damals meistens schwer krank. Oder tödlich verletzt. Ich war ein angefahrener Igel oder ein erfrierender Hund, auf dessen Pfoten sich vor lauter Kälte brennende Blasen gebildet hatten. […] Anna-Marie hatte mich aufzuspüren und zu heilen (Kuhn, 2020; S. 20).“ Als Tills Hikikomori-Existenz andauert, beginnt der allmähliche Ausschlussprozess des Sohnes aus dem Familienverbund. Tills Platz am Esstisch hat nun Kilian, Anna-Marias neuer Freund eingenommen, der mit einem „markanten“ Gesicht bereits äußerlich den väterlichen Vorstellungen entspricht und als Anwaltssohn die Hoffnung auf eine wirtschaftlich optimierte Existenz verkörpert. Am Weihnachtsabend kommt Till aus seinem Zimmer, in der Hoffnung, an den bis ins Detail choreographierten Festlichkeiten teilzunehmen, er wird von der Familie jedoch nicht mehr als Sohn, sondern als Ungeziefer wahrgenommen:

Er sieht um Jahre gealtert aus, sein Gang ist unsicher und schwankend, ab und an muss er sich an einem Möbelstück festhalten. Die Haare sind lang und von dicken filzigen Strähnen durchzogen, die Augen zu einem schmalen geröteten Schlitz verkümmert, die Wangen hohl und mit borstigem Flaum übersät, am Kinn hängt ein zotteliger Ziegenbart. Till trägt wieder den dicken Wollpullover, die Boxershorts ist fleckig, die Füße sind mit Lederlappen umwickelt. Anna-Marie hält sich die Nase zu. In Karolas Gesicht ist […] Entsetzen geschrieben (Kuhn, 2020; S. 197).

Wie dem verwandelten Gregor Samsa ist es ihm unmöglich, sich der Familie verständlich zu machen, seine Sprechversuche resultieren lediglich in einem „heisernen Säuseln.“ Tills Entmenschlichung findet schließlich ihre symbolische Entsprechung im Reichen der Hände vor dem Weihnachtsmahl: „Als sie sich die Hand reichen und sich ein frohes Weihnachtsessen wünschen, Till danebensteht und nicht in den Kreis aufgenommen wird, schwankt er, den Kopf gesenkt, in sein Zimmer zurück“ (Kuhn, 2020; S. 200). Mit Tills Ausschluss aus der Familie, beschleunigt die nun verfügbare elterliche Aufmerksamkeit den Reifeprozess der Tochter. Während sie in den Adventwochen ostentativ sexuelle Erfahrungen mit Kilian im Nebenzimmer auslebt und damit Till verstört, erhält sie von den Eltern als Weihnachtsgeschenk einen Gutschein für eine aufwendige Silvesterparty in der elterlichen Wohnung. Hier kann sie den üppigen Lebensstils der Tegetmeyers zur Schau stellen und für die eigene Arbeit am Sozialprestige inszenieren. Sie kann die Distinktionspraktiken der Eltern fortführen, denen sich Till verweigert. Wie bei Gregors Schwester Grete in Die Verwandlung ermöglicht erst das Verschwinden des Bruders eine volle Entfaltung der Persönlichkeit.

Neugeburt

Der von Kuhn gewählte, neun Monate umfassende Handlungsablauf, der an einem Silvesterabend endet, unterstreicht auf formaler Ebene die erzählte (Neu)Geburt des Protagonisten. Das Ausräumen des Kinderzimmers, der Rückzug in die Welt der vernetzten Ego-Shooter-Spiele, das Beobachten anderer Selbsterfahrungsreisen über die sozialen Medien: all dies sind Meilensteine in Tills Selbstfindungsreise. Als eigentlicher Wendepunkt muss jedoch das Eintauchen in Welt des Online-Spiels Minecraft angesehen werden:

Wir suchten nach Welten, die nicht von irgendjemandem, der uns nicht kannte, entwickelt werden! Wir wollten selbst zu Schöpfern unserer Welten werden! Wir hörten von einem Programm in Beta-Version namens Minecraft, das dem Spieler lediglich Bausteine zur Verfügung stellte, mit denen man alle nur erdenklichen Szenarien konstruieren konnte (Kuhn, 2020; S. 129–130).

Hier beginnt sich zu erfüllen, was anfangs durch den Liedtext von Wilhelm Müller angedeutet wurde: die Möglichkeit, gottgleich die Welt nach den eigenen Vorgaben zu formen. Das bekannte Open-World-Spiel Minecraft, das sich während der Romanniederschrift noch in der Testphase befand, zeichnet sich durch die großen Gestaltungsfreiräume aus, die es den Nutzern einräumt. Till ist somit in der Lage, sich weitgehend autonom eine virtuelle Welt zu erschaffen, in der er alle grundlegenden Parameter selbst bestimmt. Der von ihm gewählte Name für diese Welt – Welt 0 – deutet bereits auf einen radikalen Neuanfang hin: „Von oben gesehen ähnelt Welt 0 einem weißen Papier. Ein weißes Nichts, das ich in gottgleicher Vogelperspektive überfliege. So muss jeder Anfang sein“ (Kuhn, 2020; S. 149). Das Gestalten und Überleben in einer völlig neuen Welt, in der weder elterliche Vorgaben noch elterlicher Schutz zu erwarten sind, wird für Till zur Offenbarung. Seine virtuelle Welt wird schnell zum Anlaufpunkt für eine Gemeinde Gleichgesinnter, die den von ihm erschaffenen Mikrokosmos bevölkern möchten. Es ist eine Anerkennung, die auf der Verwirklichung eigener Lebensentwürfe beruht und nicht denen anderer Personen. Während neue Bewohner der Welt 0 sich mit virtuellem Luxus umgeben, wird die gewählte Einfachheit des analogen Lebens auch im digitalen Raum zur Maxime für Till. Es geht ihm gerade nicht darum, in der Online-Existenz soziale Dominanz zur Schau zu stellen oder, wie er es aus dem Elternhaus gewöhnt ist, eine Steigerung des Sozialprestiges zu erreichen:

Ich habe den Eindruck, dass Whirlpools und dergleichen zum Standard eines idealen Lebens zu gehören scheinen, wohingegen ich mich mit Schafswolle, einem Brunnen, ein paar Stückchen Brot jeden Tag zufriedengebe. Während die anderen nach Luxus streben, erfreue ich mich der Schlichtheit der Armut (Kuhn, 2020; S. 181).

Die fast unbegrenzte Gestaltungsfreiheit bringt jedoch auch problematische Aspekte von Tills Persönlichkeit ans Tageslicht und die Frage, inwieweit ein Abstreifen der Persönlichkeit in der virtuellen Welt überhaupt möglich ist. In der aufblühenden virtuellen Welt 0 treten zunehmend Personen aus der analogen Welt als Avatare auf. So wird erscheint Anna-Marie als Leiterin einer Krankenstation unter dem Namen Piddybaby und versucht Till Nachrichten aus dem Nebenzimmer zu übermitteln. Auch die Freundin Kim tritt vermutlich als Girl No.1 in die Welt 0 ein und begleitet Till letztendlich doch auf seiner Selbsterfahrungsreise. Als gottgleicher Erschaffer seiner Welt, dem alle Gestaltungsfreiräume gegeben sind, beginnt Till jedoch damit, den Avatar Girl No.1 nach seinem Belieben zu formen:

Als wäre ihr Gesicht ein Klumpen Ton, drücke ich meine Daumen in das Fleisch. Sie zuckt, vielleicht vor Schmerzen, vielleicht, weil es sich befreiend anfühlt. Zuerst forme ich ihr Gesicht neu, gebe ihr eine gleichmäßig gewölbte Stirn, die in eine kleine Nase mündet. Zwei schmale Striche graviere ich als Augenbrauen in den Ton. Hautfarbe und Sommersprossen belasse ich, wie sie sind. Die Augen schmücke ich mit fasanlangen Wimpern, die mir beim Blinzeln Luft zufächern sollen. Als letztes nehme ich ihre Ohren und ziehe sie leicht vom Kopf ab, so dass jeder weiß: Sie soll es sein (Kuhn, 2020; S. 192).

Till betätigt sich als Pygmalion, der eine bereits virtuelle Figur in eine virtuelle Kunstfigur nach seinen Vorgaben umgestaltet, um sich so erneut in sie zu verlieben. Hier stellt sich die Frage, inwieweit die väterlichen Versuche, durch chirurgische Eingriffe „das individuelle Ich“ zur Schau zu stellen, bereits den Habitus des Sohnes beeinflusst haben, insbesondere, weil Till sich gegen genau jene Fremdeinwirkung zu verwehren versuchte.

Das Aufgehen in einer immer komplexeren virtuellen Welt entwickelt sich parallel zur Entfremdung von der analogen Welt. Tills Eltern stellen nicht nur Heizung und Essenversorgung ein, mit dem Ausschluss aus dem Familienverbund am Weihnachtsabend wird dem Sohn auch der Strom abgestellt, der für die Welt 0 unerlässliche „Grundstoff“. Tills Experiment scheint gescheitert. So wird Anna-Marie für Ihre Erfüllung der elterlichen Wünsche mit einer Silvesterparty belohnt, bei der sie erstmals im gesellschaftlichen Mittelpunkt steht. Durch sein unerwünschtes Benehmen und den Ausschluss aus der Familie ist Till endgültig zum Anderen geworden. Daher erscheint es nur schlüssig, dass er in der abschließenden Party-Szene, ohne jeglichen familiären Schutz wie ein Tier zur Jagd durch die betrunkenen Partybesucher freigegeben ist: „In gezackten Bewegungen trommeln sie nun auf die Tür ein, lachen dabei und machen Geräusche, als wollten sie ein ängstliches Tier aufscheuchen, das sich in einer Höhle vor ihnen versteckt. […] „Komm raus, du Freak!“ ruft der Junge. Die anderen lachen“ (Kuhn, 2020; S. 212–213). Till rettet sich durch einen Sprung aus dem Fenster vor der Menge, verletzt sich, seine Zukunft ist ungewiss.

Die scheinbare Offenheit des Romanendes wird jedoch durch eine Gegenüberstellung der Selbsterfahrungsmodelle gebrochen. Jan kehrt von seiner Reise zurück ohne sich, bis auf Bartansatz, längere Haare und gebräunte Haut, von jener Person zu unterscheiden, die acht Monate zuvor auf die Weltreise aufgebrochen ist. Er ist nun für den Antritt des Architekturstudiums und die Beibehaltung des ökonomischen Status quo bereit. Das gemeinsame Versprechen, erst dann zurückzukommen, „wenn wir uns so sehr verändert hätten, dass uns zu Hause keiner mehr erkennen würde“, hat er jedoch nicht eingelöst. Till dagegen hat durch seine Metamorphose jenes anfängliche Versprechen zumindest teilweise gehalten. Als Jan zurückkehrt ist er kaum mehr als sein altes Selbst erkennbar, hat virtuell bereits ganze Welten erschaffen und dabei ein Wertesystem hinter sich gelassen, das seine gesamte Kindheit und Jugend prägte. Vor allem aber entlarvt Till als aus dem Haus getriebenes ‚Ungeziefer‘ die elterlichen Ästhetisierungsbemühungen, in deren Mittelpunkt der Mensch stehen soll (‚Humanize!‘), als gescheiterten Versuch, eigene gesellschaftliche Ambitionen auf die nächste Generation zu übertragen.