Einführung

Der populäre Dichter und Prosaist Joachim Ringelnatz (Hans Georg Bötticher, 1883–1934) schrieb nicht nur mehrere Märchen, auch sein nicht märchenhaftes Werk enthält zahlreiche Märchenmotive. Dennoch fehlt bis heute eine Betrachtung der Spezifik seiner Neigung zur Märchengattung im Gesamtzusammenhang der Entwicklung seiner Poetik. Schuld daran ist das in der Literaturgeschichtsschreibung etablierte stereotype Bild Ringelnatz’ als ‘trivialer’ und gegenüber dem Zeitgeschehen gleichgültiger Unterhalter, dessen Werk keinen Gegenstand noetischen Werts darstellt (Duleba, 2022; Möbus, 2000; Schmidt-Möbus, 2000). Entgegen der Popularität seiner Werke beim Lesepublikum bleibt Ringelnatz in der Literaturwissenschaft ein immer noch marginalisierter Autor und die wenigen Forschungen seiner experimentellen Märchen (Antimärchen) erläutern nur deren partielle, autobiographische (Pape, 1974) oder parodistische (Detken, 2000; Monk, 1998; Zipes, 1993) Kontexte.

Dieser Beitrag erläutert Ringelnatz’ berühmteste Antimärchen nicht als Parodien oder implizite autobiographische Berichte, sondern als Aussagen über die Unverfügbarkeit des Glücks, denn Märchen sind unter dem Einfluss der Gattung Grimm, in der Glück und Unglück “zu den relevantesten Themen und Motiven” gehören (Rölleke, 2005, 6), zu “Wunschmodellen” geworden, die subjektive “Glücksmöglichkeiten menschlicher Existenz zur Darstellung bringen” (Boothe, 2008, 90; auch Moser, 2005; Oesterle, 2005). Durch die Analyse von Ringelnatz’ Suche nach dem Glück auf der Plattform der Märchengattung versucht dieser Beitrag, das primär konstitutive Moment von Ringelnatz’ Märchentexten sowie seinen poetologischen Wandel von innerer Heiterkeit zu dekonstruktiver Skepsis in der Nachkriegszeit, in der Hans Bötticher das Pseudonym ‘Ringelnatz’ annimmt und zum berühmten subversiven Antiidealisten wird, zu ermitteln. Erst im Kontrast zum bislang unerforschten ontologischen Optimismus seiner Vorkriegsmärchen erweist sich Ringelnatz’ Zerstörung der romantischen Märchenkonventionen nach dem Krieg als Ausdruck einer Unerreichbarkeit der im klassischen (Grimm’schen) Märchen suggerierten Glücksmöglichkeiten bzw. als desillusionierte Absage an die neoromantische Selbstharmonisierung mit der inhärent ethischen (theistischen) Welt durch Durchdringung der Innerlichkeit.

Herder, der das Grimm’sche und das gesamte romantische Paradigma stark beeinflusste, stellte eine Analogie zwischen dem Märchen und dem Traum her, da beide Phänomene seiner Ansicht nach eine vergleichbare Genese haben und somit beide einen inneren Wahrheitsgehalt offenbaren, der über den Wachzustand hinausgeht (Pöge-Alder, 2016, 132). Dementsprechend attestierte die Romantik der Märchengattung nicht nur eine ethische, sondern auch eine darüberhinausgehende, ontologische Funktion bzw. einen aktiven Wirklichkeitsbezug, wonach ein Märchen dem Subjekt einen existenziell wertvollen Kontakt mit der rational nicht fassbaren, über die Seelenwelt zu erreichenden höheren Wirklichkeit vermittelt (Orosz, 2001). Im literaturgeschichtlichen Kontext von Ringelnatz erhält diese (neo)romantische Verknüpfung von Märchen und Traum wieder Aktualität (Schmitz, 2013): Der Märchen- und Mythologiepopularisator Friedrich von der Leyen reproduziert in seinem Aufsatz Traum und Märchen (1901) die romantische Konzeptualisierung des Märchens als “erste[r], echte[r] Wirklichkeit” (Leyen, 1969, 8) bzw. als ontologisch eminent relevant aufgrund dessen vermeintlicher Widerspiegelung des geistigen Wesens wie auch als überrationale Plattform potenzieller Selbstharmonisierung mit der Welt bis hin zu “Stätten himmlischen Glanzes” (9).

Grimms Märchen, wie religiöse und romantische Intentionaten (Pecher, 2013; Uther, 2013, 491), versuchen nicht nur im Sinne einer herzzentrierten Theologie (cor amantis non angustum) den Rezipienten zu einem innerseelischen Vorgang anzuregen (Murphy, 2000; Pecher, 2013), sondern auch die Existenz eines transzendenzvermittelnden, gottesnahen, ‘kindlichen’ und angeblich ‘wiederentdeckten’ seelischen Idealzustandes innerhalb der Wirklichkeit des Lesers zu belegen. Das Volksmärchen wird im Einklang mit der romantischen Vorstellung von Kindlichkeit als einem dem rationalen Erwachsenenbewusstsein überlegenen Seelenzustand verstanden bzw. als Ausdruck jener inneren “Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen” (Grimm & Grimm, 2017, 12; siehe Ewers, 2013; Murayama, 2005, 239–259; Spinner, 2012), zu der das durch den Rationalismus der Aufklärung verdorbene Subjekt wie zu einer “göttliche[n] Offenbarung” und “heilige[n] Poesie” aufschauen soll (Ewers, 2013, 17). Dementsprechend weisen die Grimm’schen Märchen ein stilisiertes Simulacrum der ‘Kinderseele’ bzw. einer naiven und damit moralisch vollkommenen kindlichen Anschauung auf, die textintern als Annäherungsmodus an die transzendentale Idealität und den Schutz Gottes (finales Equlibrium) suggeriert wird (Spinner, 1992): Der inhärent ethische (theistische) Märchenraum harmoniert mit der kindlichen Innerlichkeit des handelnden Subjekts und beginnt ihm zu helfen, sobald es ‘reinen Herzens’ ist.

Damit das Märchen einer Nachahmung der Kinderseele nahe kommt, muss es sich direkt auf das seelische Sein beziehen. So suggerieren Märchen ein innerseelisches oder traumhaftes Erleben, indem sie die Grenze zwischen Materiellem und Geistigem, Traum und Wachen verwischen: Die materiellen Phänomene “enthüllten sich […] zum Teil als Bilder innerer und psychischer Verhältnisse”, während “[u]mgekehrt wurden innerseelische Vorgänge, wie z. B. der Traum, im Märchen als Wirklichkeit behandelt” (Röhrich, 1964, 242), wodurch ein seelischer Projektionsraum entsteht, der eine “innere Wirklichkeit” (241) zum Ausdruck bringt.

Dieses seelenverweisende Potenzial ist untrennbar mit der raumzeitlichen Konstellation des Märchentextes verbunden. Der Märchenmodus zeichnet sich durch Zeit- und Raumentrückung und damit auch durch Zeit- und Raumenthobenheit aus (Wienker-Piepho, 2019; Kujundžić, 2020, 160–189; Lipovetsky, 1992, 28): in klassischen (Grimm-)Märchen wird “eine gewollte Fiktionalität des Märchengeschehens […] durch fehlende Orts- und Zeitangaben [unterstützt]” (Pöge-Alder, 2016, 32). Diese konventionalisierte textinterne Autonomie gegenüber historischer Zeit und konkretisierbarem Raum stellt das primäre Merkmal des Märchenchronotopos (bzw. der Gesamtheit der konventionellen raumzeitlichen Merkmale des Zaubermärchens [Lipovetsky, 1992, 28–40]) dar, auf das sich ein Märchentext sicut regula auf eine selektive Störung oder Beibehaltung bezieht (156).Footnote 1 Paradoxerweise dient die romantische Verortung der Märchenhandlung in einer ‘Unzeit’ und einem ‘Unraum’ dazu, den Bezug des Märchentextes zur (inneren) Wirklichkeit des Lesers herzustellen: Gerade durch die abstrakte Qualität des ‘anderen’ (Un-)Raumes, der ebenso wie Träume und Seelenprojektionen nicht in der geographischen Realität des Lesers verankert ist, wird eine verstärkte Referenzialität auf Innerlichkeit als Gegenpol zur zeitlich und räumlich konkretisierbaren äußeren Wirklichkeit vermittelt (Matuschek, 2014; Orosz, 2001; Pöge-Alder, 2016, 132; Röhrich, 1964).

Entsprechend diesem gattungsspezifischen Verweisungspotential auf den innerseelischen Aspekt des Seins wird die Märchengattung seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer heteroglossischen Plattform des Oszillierens zwischen den “Möglichkeiten märchenhafter Erkenntnis und rationaler Auflösung des Märchens” (Mayer & Tismar, 2003, 139) bzw. zwischen dem Glauben an das synkretistisch-transzendentale Potential der Durchdringung der Seelenwelt und der Resignation vor diesem.Footnote 2

Der poetologische Wandel bei Ringelnatz stellt eine Verschiebung von einem Pol dieser Oszillation zum anderen dar: Das erste Kapitel erläutert Ringelnatz’ Vorkriegsmärchen als Kontinuität der abstrakten, romantischen und innerlichkeitsbezogenen Märchenchronotopik bzw. sein Bestreben, Seelenräume zu schaffen, die eine synkretistische Verbindung von Seele und göttlicher Welt erahnen lassen und damit ein Streben nach innerer Harmonie zum Ausdruck bringen. Das zweite Kapitel illustriert Ringelnatz’ Abkehr von seinen neoromantischen Idealen während des Krieges und expliziert anschließend seine experimentellen Nachkriegsmärchen als gewollte Diskontinuität der romantischen Märchenchronotopik bzw. seine Ersetzung des abstrakten Seelenraums durch die (Außen) Räume zerstörerischer und harmonieaufhebender räumlicher Konkretheit, die auf keine erreichbaren transzendentalen Glücksmöglichkeiten verweisen.

Hans Böttichers Märchenpoetik der Vorkriegszeit

Das Märchen als innerer Traumraum im Gedicht Ein Traum

Das Gedicht Ein Traum (1906 geschrieben [Pape, 1974, 115]) aus Böttichers Debütband Die Gedichte (Erstausgabe 1910, Hans Sachs Verlag, München) zeigt unkritische Übernahmen der romantischen Konzeptualisierung des Märchens als einer Spiegelung der Traum- und Seelenwelt.Footnote 3 Das Märchen wird hier mit dem Traum analogisiert und damit als Eingang in einen inneren Seelenraum verherrlicht.

Zuerst wird das Märchen in dem Traum situiert, von welchem das lyrische Subjekt nach dem Erwachen berichtet (“Es war nur ein Traum, doch es war eine Pracht!” [Ringelnatz, 2015, 44]), und anschließend im Traum eines schlafenden Mädchens, welches “von kindlichen Träumen belogen [schlief]” (44). Die Beziehung des Märchens zur Kindlichkeit wird im Traum des Erzählers durch das Vorhandensein des ‘Märchenkindes’ als einer romantischen Metonymie für Märchen angedeutet:

Ein glänzendes Schloß erhob sich kühn,

Und ich sah aus dem Fenster epheugrün

Ein Märchenkind lauschend sich biegen. (44)


Darüber hinaus begegnet uns das für die Grimm’sche Poetik typische Rosenmotiv: “[das Mädchen in seiner Jugendpracht] Hat eine Rose verwelkt am Boden gelegen/Eine Knospe, die sie im Garten gepflückt” [44]). Wie das Gartenmotiv hat auch das Rosenmotiv religiöse Konnotationen—im KHM symbolisiert es das ewige Leben (Pecher, 2013, 106).

Die Motive Garten und Schloss spielen auf die Spannungsräume der Grimm’schen Märchenpoetik an, die das Aufeinanderprallen von Glück und Unglück zum Ausdruck bringen: Der Garten stellt (nach Lüthi) “Paradies und Gefängnis zugleich” dar, in dem “[d]aß Kinder einem dämonischen Wesen überantwortet werden, um selbst aus einer lebensbedrohlichen Situation wieder herauszukommen […]” (Uther, 2013, 115). Ebenso stellt das Schloss einen Märchentopos der Spannung zwischen Wohlstand und Bosheit dar: Es “ist ein Ort der Ruhe und Beschaulichkeit, ein Platz für besondere Feiern und Begegnungen, aber auch ein Ort, dessen Bewohner dem Menschen feindlich gegenüber stehen und seine Schädigung beabsichtigen” (116). Böttichers Aneignung der märchenhaften Räume des Leidens beinhaltet auch eine Anspielung auf eines der zentralen Themen der Gattung, die das Leben als Spannungsfeld zwischen Glück und Unglück in den Fokus rückt (Hohr, 2012, 208; Pöge-Alder, 2016, 36; Röhrich, 1964, 236). Als Korrektiv dieser Spannung fungiert sowohl bei den Grimms (Spinner, 1992) als auch bei Ringelnatz die Kindlichkeit, die den Übergang zu Wunscherfüllung und Harmonie vermittelt. Das leidende Kind verwandelt hier den Spannungsraum durch seine Reinheit in einen harmonischeren Zustand: in seiner Gegenwart weht durch den Garten “süßer, berauschender Duft/Vom Holunderbusch” als heilender Pflanze (Ringelnatz, 2015, 43).

In diesem von kindlicher Reinheit geprägten Traumraum entsteht eine harmonische Beziehung zwischen dem Subjekt und der göttlichen Natur: Die singende Nachtigall fügt sich dem Gesang eines singenden Reisenden, wodurch eine synthetisierende Verflechtung zwischen dem intrinsisch motivierten Handeln (dem Inneren) und der umgebenden Natur (dem inhärent-transzendentalen Äußeren) entsteht. Es ist diese synthetisierende Verbindung zwischen dem Subjekt und der Natur, die im Traum und durch die Präsenz der kindlichen Reinheit erreicht wird, die das Glück vermittelt: “Da war es, als fiele auf meine Brust/Das Glück wie ein Morgentau nieder” (43).

Der mit dem Märchen analogisierte Traumraum wird dem Leser als ein harmonisierender Raum sowie ein Objekt angemessener Neigung vorgestellt—als ein Seelenraum, der trotz widersprüchlicher Spannungen eine kindliche und sinngemäß transzendentale-reinigende Qualität besitzt, die durch das Bedauern des Erzählers über sein Erwachen betont wird: “Zerronnen war alles, was ich im Traum/So selig geschaut und empfunden” (43).

Im Einklang mit der Darstellung des Märchens als ontologisch relevant für die Wirklichkeit, wird das anfängliche Bedauern des Erzählers über sein Verlassen des Traumraums durch Freude über die Erkenntnis des Märchens als Teil seiner inneren Welt ersetzt: “Doch wie ein Trost kam’s über mich dann:/O glücklich, wer noch so träumen kann!” (43). Diese transformative Erkenntniss beeinflusst folglich seine Anschauung im Wachsein: Er betrachtet das schlafende Mädchen als “ein Wunder aus einer Zaubernacht” (43) und begint somit die Anwesenheit des Märchens in der wachen Wirklichkeit zu sehen. Als er das “kindliche Träume” träumende Mädchen beobachtet, wird der Traum wieder als Glück vermittelnder Seelenraum hervorgebracht: “[Träume] ein Lächeln auf ihre Lippen hauchten” (43). Das träumende Subjekt wird aufgrund der Wirkung der Kindlichkeit in einer synthetisierenden Verbindung mit Natur gestellt: dem träumenden Mädchen “die Sonnenstrahlen in flimmernden Wogen/Spielend ihr Kraushaar in goldene Lava tauchten” (43).

Neben dem schlafenden Mädchen begegnen wir einer aus dem “Garten” gepflückten “Rose” (43), womit die Grenze zwischen dem geträumten Märchenraum und dem Außenraum relativiert wird: Während der vorangegangene Traum des Erzählers im Garten stattgefunden hat, finden wir in seiner wachen (äußeren) Wirklichkeit ein auf den Garten wie auf seinen Traum zurückverweisendes Motiv. Damit verwischt Bötticher die Grenze zwischen Traum als Wirklichkeit und Wirklichkeit als Traum und spielt genau auf jenes Element der Grimm’schen Poetik an, welche Märchen als Spiegel der Seelenwelt erscheinen lassen—die Darstellung innerseelischer Vorgänge als materiell-wirkliche und die materiell-wirklichen als innerlich-seelische (Röhrich, 1964, 241).

Der Erzähler analogisiert zum Schluss den wachen Außenraum mit dem Märchen: “Und mir war, als hätt ich ein Märchen gelesen” (Ringelnatz, 2015, 45). Der Märchenraum wird also im Gedicht als geträumter Teil der realen Lebenserfahrung angedeutet—als ein innerlicher Raum, der das Numinose jenseits der Rationalität zugänglich macht und dessen Erkennen wirkliches (waches) Sein aufwertet. Die ‘märchenhafte Erkenntnis’ stellt hier eine verfügbare Glücksmöglichkeit dar.

Das Märchen als innerer Traumraum im Märchen Der ehrliche Seemann

1908 veröffentlichte Bötticher sein erstes selbständig und im erwachsenen Alter geschriebenes Märchen Der Ehrliche Seemann (Erstdruck in der Wochenzeitschrift Grobian). Ebenso wie in Ein Traum wird auch hier das Märchen als innerer Raum durch dessen Verortung im Traum vorgestellt: Die Entdeckung, dass das Märchen im Traum stattgefunden hat, stellt die abschließende überraschende Pointe des Textes dar.

Bötticher deutet eine paradigmatische Handlungsstruktur an—die Gegenüberstellung der Prinzessin, eines Helden, dessen moralische Qualitäten die seiner Rivalen übertreffen, und einer Prüfung, deren Bestehen üblicherweise in einer Heirat des Helden mit einer Prinzessin und dessen entsprechender sozialer Aufwertung mündet. In klassischen Märchen ermöglicht diese Struktur die herkömmliche ‘Wunscherfüllung’. Besonders die Hochzeit ist nach Meletinsky der “höchste Märchenwert”, dem die phantastischen Ereignisse des Märchens dienen (Hohr, 2012, 104). Die Komik von Böttichers Märchen besteht gerade in der Nichtverfügbarkeit der Hochzeit beziehungsweise aus der Nichtvollendung der angedeuteten paradigmatischen Struktur und der sich daraus ergebenden Nichterfüllung der Leseerwartungen (vgl. Detken, 2000, 74).

Eine Fee, die sich als Prinzessin verkleidet hat, will den aufrichtigsten Bewerber heiraten. Mittels ihrer magischen Brille erkennt sie jedoch alle Bewerber als unaufrichtig, bis ein Seemann auftaucht, der durch seine Eigenschaften (seine Aufrichtigkeit) ihrer Prüfung standhält. Der Seemann erfüllt zwar die Kriterien der Prinzessin, aber sie lehnt ihn trotzdem ab, weil sie bemerkt, dass er Tabak kaut. Analog zu dieser Ablehnung wirft der märchenhafte Traumraum den Seemann in die materielle Wirklichkeit: “‘Pfui Teufel, du priemst ja!’ und damit verschwand sie mitsamt ihrem Schlosse, den Dienern, Wagen und Pferden, und der Seemann erwachte in seiner Hängematte” (Ringelnatz, 1982, 284).

Entsprechend der neoromantischen Intention, das Märchen dem Traum anzunähern, geht diesem abrupten Bruch des konventionellen Märchenablaufs bewusst ein höchst stereotyper Märchenraum der dichten Überlagerung ikonischer Märchenmotive voraus. Die herkömmliche Märchenformel “Es lebte einmal” (261) wird von zahlreichen Motiven gefolgt, die auch für die Grimm’sche Märchen symptomatisch sind: die Fee, die attraktive Prinzessin, die Verkündigung einer Prüfung, der magische Gegenstand, ein Königreich, der materielle Wohlstand und ein Schloss. Indem Bötticher stereotype Märchenmotive übereinanderstellt und eine paradigmatische Struktur entwirft, die in den KHM stark vertreten ist (z. B. KHM 64, KHM 114, KHM 133), geht es ihm nicht um eine Innovation der Märchenform, sondern um die Konfrontation des Lesers mit einem exemplarischen Märchenklischee und damit um die Sensibilisierung für das Märchen als mentales und gattungsspezifisches Phänomen: Wesentlich ist hier nicht die Märchenhandlung an sich, sondern die Thematisierung des Verhältnisses zwischen dem Märchen und der Wirklichkeit, welche im Text durch das plötzliche Erwachen des Helden aus dem positiven Märchentraum sowie durch die endgültige realistische Unverfügbarkeit des utopischen Märchenglücks vertreten wird. Die Wunscherfüllung findet nicht statt, weil die äußere Wirklichkeit das Märchen durchdringt.

Doch trotz der Entdeckung, dass das Märchen im Traum stattgefunden hat, lässt sich der Märchenraum nicht als eine in Bezug auf die Wirklichkeit autonome Illusion bezeichnen: Der Seemann erwacht genau in dem Moment, in welchem er von der Prinzessin zurückgewiesen wird. Daher entspricht sein Erwachen völlig dem Geschehen im märchenhaften Traumraum, welches ihn wegen seiner Unzulänglichkeiten zurückweist und in die Wirklichkeit hinauswirft. Der phantastische Märchenraum unterliegt keiner rationalen Negation, d.h. er wird nicht als unwichtig oder nichtig abgetan, sondern im Gegenteil als Trauminstanz vorgestellt, die die Wirklichkeit beeinflusst. Wegen der ausgedrückten Verwobenheit des Märchens mit der inneren Welt dringt hier nicht nur die Wirklichkeit ins Märchen ein, sondern auch umgekehrt: Denn die Verortung des Märchens im Traum des Seemanns bedeutet auch dessen Verortung in der realen Erfahrung des ebenfalls träumenden Lesers und unterstreicht damit die ontologische Relevanz der Märchengattung.

Es ist eine positive kindliche Eigenschaft—Aufrichtigkeit—die den Seemann von anderen Bewerbern um die Hand der Prinzessin unterscheidet. Doch ganz im Einklang mit dem romantischen Kindheitskult ist Böttichers Matrose nicht kindlich genug, um von der Märchenwelt als der Spiegelung der kindlichen inneren Reinheit akzeptiert zu werden und deren befreiende Harmonie zu erlangen: Sein Kauen des Tabaks, auf Grund dessen er von der Prinzessin und folglich auch von der traumhaften Märchenwelt abgewiesen wird, stellt ein erwachsenes Attribut dar.

Die Wunscherfüllung der angedeuteten paradigmatischen Struktur—das Erreichen des Glücks in Form des Reichtums, der Dienerschaft und der Heirat mit einem Vertreter des hohen sozialen Status—ist im Einklang mit der romantischen Überlegenheit des kindlichen Bewusstseins in Böttichers Vorkriegswerken nur einem Kind zugänglich.

Die Apotheose der Kindlichkeit in der Märchenerzählung Phantasie


Die 1912 erschienene Sammlung Ein jeder lebt’s (Erstausgabe Albert Langen, München) veröffentlichte die Märchenerzählung Phantasie, die mit der romantischen dichotomischen Differenzierung zwischen dem rationalen Erwachsensein und der übergeordneten naiven Kindlichkeit beginnt. Daja ist nur “ein achtjähriges Kind” (Ringelnatz, 1982, 71), doch ihr Vater verzeiht ihr ihre kindliche Verspieltheit nicht (71). Die Erwachsenen versuchen Daja streng zu disziplinieren, während sie viel lieber zum Spielen in den Wald geht, womit die romantische Verwobenheit des Kindes mit der göttlichen Natur hervorgehoben wird. Anstatt zu lernen, widmet sie sich lieber Folgendem:

Entweder [sie] zeichnet [...] unter der Bank Schwäne in die Schulbücher [...], lungert stundenlang heimlich mit dem Forstgehilfen im Walde herum, [...]. Oder sie schwänzt die Schulstunden, um Blumenhochzeit und ähnliche Kindereien im herzoglichen Park zu spielen. (72)

Daja ist eine Reminiszenz an den romantischen kindlichen Idealtypus wie ihn Schneeweißchen und Rosenrot im gleichnamigen Märchen (KHM 161) verkörpern, deren Naturverbundenheit nicht nur durch ihre Ähnlichkeit zu Bäumen (“Kinder […] glichen den beiden Rosenbäumchen” [Grimm & Grimm, 2017, 644]), sondern auch im Prozess des Kinderspiels betont wird. Wie Daja hat auch Rosenrot eine Vorliebe für Pflanzen (“Rosenrot sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher, suchte Blumen und fing Sommervögel” [72]). Wie bei Rosenrot manifestiert sich Dajas Naturverbundenheit im Akt des Blumenschenkens (Grimm & Grimm, 2017, 645; Ringelnatz, 1982, 85).

Wie bei den Grimms ist auch hier die ideale Kindlichkeit immer wieder mit Naturmotiven überlagert: Daja “zog […] durch den Frühling” (Ringelnatz, 1982, 83) oder “[holperte] über Moos und Wurzeln vorwärts[…]” (84). In der Tasche trägt sie “Tannenzapfen, ein Fasanenei, eine Nachtigallfeder, auch kleine Steinchen” (84), und wie ein moralisch ideales Kind verbleibt sie bei der Pflege eines Kaninchens “blühend in Glückseligkeit” (79).

Ihr Akt des Kinderspiels wird wie bei Rosenrot und Schneeweißchen durch eine natürliche Blumenidylle ergänzt. Ringelnatz verweist auf das Märchen als Ausdruck kindlicher Weltbetrachtung, indem er das Motiv der Hochzeit, das als höchster “Märchenwert” metonymisch auf die gesamte Gattung anspielt (Hohr, 2012, 104), in Dajas Spiel einsetzt:

Vogelnester und Blumen: Margariten, Jasmin, Heckenrosen, Kornblumen; blaue, gelbe, weiße, lila Blüten. Bald vermochten die jungen Fingerchen kaum noch die Stengelbündel zu umklammern, einen Kranz wollte sich Daja flechten und auf den Kopf setzen und die übrigen Pflanzen allmählich vor sich hinstreuen und ganz langsam und ganz feierlich darüberwandeln, welches Spiel sie Blumenhochzeit nannte. (1982, 84)

Da Daja den idealen Grimm’schen Kindertypus verkörpert, hat sie blondes Haar wie es für positive Mädchenfiguren üblich ist (Uther, 1998, 87). Ihre Beschreibungen werden von den für Märchen charakteristischen Diminutiven begleitet (Mikulová, 2012, 127): Sie “hielt ihr Röckchen im Schoße zusammengefaltet, wodurch die weißen Höschen über den nackten prallen Beinchen sichtbar wurden, und ihr Blondhaar hing lose vornüber”, also insgesamt sah sie “niedlich” aus (Ringelnatz, 1982, 84). Sie verkörpert die kindliche Naivität, die in der Grimm’schen Konzeption als Idealanschauung und konstitutiver Moment des Märchens vorkommt: “Daja sah völlig naiv aus. Diesem rührenden Blicke konnte man nicht böse sein” (80).

Das Kinderbewusstsein ist hier dem Erwachsenenbewusstsein nicht nur in dessen Naturverbundenheit und moralischen Vollkommenheit (Demonstration der Empathie) überlegen, sondern auch in dessen Nichtunterscheiden zwischen rationaler Wirklichkeit und Phantasie. Dem gegenüber weisen erwachsenen Figuren die Phantasie als Innenwelt ab: “‘Das Kind hat allerdings reiche Phantasie.’/‘Phantasie ist Quatsch!’ brüllte Herr Scholz. ‘Und ich will ihr den schon austreiben.’” (72).

Entgegen dieser Sublimierung der Innerlichkeit gilt die ontologische Relevanz des innerlichen Raums auch für erwachsene Subjekte. Mademoiselle erlebt einen potentiellen Traum (“Ob ich am Ende das alles nur träumte? dachte sie” [75]), aber wie ein phantasiesublimierendes erwachsenes Subjekt dringt sie nicht in ihre Innenwelt ein. Die Anwesenheit der Kinderfigur hat jedoch eine transformierende Wirkung auf die erwachsene Figur: Dajas löst bei ihrem Lehrer einen abrupten Übergang in den inneren Raum aus, der ihn “traumtrunken” (84) macht und eine für das innere Wesen empfindliche Lebenswahrnehmung auslöst. Während die erwachsene Figur das wirkliche Leben als “Zauberhaft!” und “Märchenseltsam!” bezeichnet, stellt auch Daja eine implizite Analogie zwischen Märchen und Wirklichkeit her, indem sie die Notlage des Lebens als “Abenteuer” bezeichnet (80), denn im Märchen ist eine optimistische Abenteuerreise oft der Beginn einer Glücksfindung, die durch die kindliche Naivität des Helden erreicht wird (Ette, 2019, 114).

Das binäre Verhältnis von Kindlichkeit und Erwachsensein wird nach dem Ertrinken Dajas beim Spielen im Park besonders unterstrichen. Während die erwachsenen Figuren die Welt in tödlicher Tragik ansehen, dringt Dajas Kinderbewusstsein in eine märchenhafte Utopie ein, in welcher sie zuerst von einem “Herzog” mit “goldene[r] Krone auf dem Haupte” vor einem Schwanenflügel gerettet wird und anschließend im Beisein der Dienerschaft ihren Retter heiratet (Ringelnatz, 1982, 85). Das Märchen (der märchenhafte Teil des Textes) entsteht in dem Moment, in dem durch die Wirkung der Kinderfigur ein Projektionsraum entsteht und der Leser beginnt, den Raum, der Daja umgibt, durch eine kindliche Anschauung zu betrachten, in der die Grenze zwischen dem Äußeren und dem Inneren verschwindet: Dajas innere Phantasien werden quasi als wirklich dargestellt, denn der Text lässt offen, ob die märchenhaften Ereignisse in der Textwelt den Status einer objektiven (äußeren) Realität erlangen oder ob sie lediglich einen Raum der kindlichen Seelenwelt darstellen. Diese Ambivalenz porträtiert die Märchengattung als Produkt des kindlichen Bewusstseins: Dajas Nichtunterscheidung zwischen Imaginärem und Realem entspricht dem romantischen Ideal des kindlichen Glaubens an das Wunderbare, das die Fähigkeit impliziert, Gott durch den unbedingten Glauben an die biblischen Wunder näher zu kommen (Ewers, 2013, 18; Pöge-Alder, 2016, 150). Dementsprechend wird Dajas Hochzeit von Rosen begleitet (Ringelnatz, 1982, 85), die bei den Grimms als Symbol für das ewige Leben gelten (Pecher, 2013, 106).

Ähnlich wie in Der ehrliche Seemann geht es Bötticher auch hier nicht darum, eine originäre Märchenform zu schaffen, sondern durch die Überlagerung stereotyper Märchenmotive (der König, die Diener, der Schwanenflügel, das gerettete Mädchen, die Wunscherfüllung, die Hochzeit) auf das Märchen als Gattungs- und Seelenphänomen aufmerksam zu machen.

Das Märchen produzierende Kinderbewusstsein erlangt zum letzten Mal eine Verherrlichung: Während der Herzog Daja eine Wunscherfüllung anbietet, denkt sie in ihrer selbstlosen moralischen Vollkommenheit an die anderen: “Vati und Mutti, entschied Daja rasch, mußt du hunderttausend Taler schenken” (Ringelnatz, 1982, 86). Parallel wird wieder dessen Bezug zur Natur hervorgehoben. Das Glück des Kindes ist von Natur aus untrennbar mit der Welt Gottes verbunden: “Sie wünschte, […] Herr Herzog möge sie heiraten. Aber es müßten Blumen gestreut werden […]” (86). Das kindliche Bewusstsein besitzt hier keine rationale (erwachsene) Sprache—es kommuniziert durch die Natur:

Nun fühlte sich Daja mit eins wieder so froh, so selig und so dankesvoll für ihren Retter, nur wußte sie nicht recht, wie sie es ausdrücken möchte. Nach langem Entschließen reichte sie endlich dem Herzog das Mohnbukett. (85)

Auch der Märchenraum verweist hier auf das kindliche Bewusstsein als von Gott geschützte Instanz—er suggeriert wie bei den Grimms durch ein plötzliches helfendes Eingreifen, “dass das Kind letztlich unverletzlich ist” (Spinner, 1992, 145). Daja gerät in Gefahr (“[…] hundert Schwäne […] wollten Daja totbeißen” [Ringelnatz, 1982, 85]), doch die transzendentale Verbindung des ‘reinen Herzens’ mit der göttlichen Außenwelt ruft sofortige Hilfe herbei: Wie bei Rotkäppchen plötzlich der Bergmann erscheint, so kommt auch bei Daja “gerade der Herzog des Wegs” (85).

Nicht das von dem erwachsenen Seemann geträumte Märchen, sondern das Märchen, welches von dem romantischen Kindertypus projiziert wird, ermöglicht ein harmonisierendes Eindringen in die Innerlichkeit und eine Märchenutopie in Form einer wunscherfüllenden Ehe. Das gottesnahe Kind tritt in ein selbst projiziertes Märchen als befreiende und allegorisch ausgedrückte höhere Wirklichkeit des ewigen Lebens (angedeutet durch die Rosen) ein: “Unzählige Diener und Dienerinnen in blausilbernen Uniformen schwärmten herbei und streuten Rosen aus; und Daja als Herzogin wandelte Arm in Arm mit dem Herzog durch den Park […]” (86). Während die Utopie des Märchens als der kindliche Seelenraum nur einem Kind zugänglich ist, wird der naive Seelenraum als bewundernswertes Objekt eines theistischen Wertes präsentiert—als real präsenter innerer Raum der empfundenen Reinheit in einer tragischen Erwachsenenwelt.

Die religiöse Harmonisierung der Innenwelt im Märchen Der Wunderbrunnen


Während in Phantasie die märchenhafte Harmonie durch die Wirkung der Kindlichkeit entsteht, erfolgt in dem 1913 geschriebenen Märchen (Pape, 1974, 232) Der Wunderbrunnen (Erstdruck im Jahrbuch Jugendblätter, 1914) die Harmonisierung der Welt durch die Hinwendung des Helden zu Gott. Das Märchen stellt insgesamt einen allegorischen innerlichen Raum dar, denn die äußeren räumlichen Attribute entsprechen hier jeweils dem inneren psychologischen Zustand des Helden: Wenn der “Kobold Unzufried” (Ringelnatz, 1982, 288) sein Haus betritt, verliert plötzlich der äußere Raum dessen positive Eigenschaften. Zusätzlich wird der Märchenraum als innerlichen Raum durch Traummotivik angedeutet. Parallel zum Verfall der räumlichen Qualitäten wird in diesem Raum auch “unruhig” geträumt:

[…] das grün-weiß-rote Haus und die bunten Blumen im Garten sich trübselig grau färbten, kein Sonnenschein mehr zu bemerken war, die Speisen und Getränke ihren Wohlgeschmack verloren, die Menschen das Lachen und Singen verlernten, nachts unruhig träumten und darüber mißmutig und schweigsam wurden. (288)

Die Benennung der einzelnen Räume nach psychischen Zuständen, sowie der Übergang des Helden vom Dunkelraum (materielles Phänomen) zur “Erlechtung” (innerer Zustand), korrespondieren ebenfalls mit der Grenzvermischung zwischen dem Inneren (geistigen) und Äußeren (räumlichen). Die weise alte Frau weist den Protagonisten auf folgenden Weg hin:

Mache dich abends allein auf den Weg, bis du das Tal Einsamkeit erreichst. Das Tal ist dunkel, aber du mußt warten, bis die Erleuchtung kommt; dann wirst du das Schloß Sehnsucht, den Demutsbrunnen und die weiße Frau Gnadenlieb erblicken. (288)

Der Held verirrt sich im Wald, also gerät in eine stereotype märchenhafte Problemsituation (Solms, 2021). Während dem Kind (Daja) der Märchenraum selbst in Form eines göttlichen Zufalls zu Hilfe kommt, muss der erwachsene und dementsprechend unvollkommene Protagonist ein Gebet initiieren, das die Lösung der gefährlichen Situation vermittelt. Die christlich-numinose Transzendenz wird durch die märchenhafte Ästhetik zum Ausdruck gebracht:

In solcher Not blieb er stehen und tat, was er seit dem Tode seiner Mutter nie wieder getan hatte, nämlich er betete. Kaum waren die ersten Worte über seine Lippen gekommen, so ward es hell und heller im Walde. Der Mond und die Sterne traten hervor. Das Moos und die Blüten der Bäume erfunkelten, und in der Ferne tauchte ein zauberhaftes silbernes Schloß auf. (Ringelnatz, 1982, 288)

Das Harmonisieren des Raumes wird in Gang gebracht, nachdem die tote Mutter des Helden ihn aus dem Wunderbrunnen auf die Existenz Gottes aufmerksam macht: “[D]u musst auch anderen Menschen Gutes erweisen und demütig dich vor deinem Gott neigen, dem du alles verdankst” (288).

Das Brunnenmotiv ist ein biblisches Symbol für “Leben und Unsterblichkeit” (Pecher, 2013, 108), das in Grimms Märchen als Quelle transrationaler, theistischer Weisheit und Lebenskraft erscheint (KHM 92, KHM 97): Nachdem Böttichers Held das Wasser des Lebens getrunken hat, durchströmt ihn “ein nie gekanntes, seliges Gefühl” (Ringelnatz, 1982, 288). Besonders deutlich wird die Anspielung auf Das Wasser des Lebens (KHM 97) durch das Schloßmotiv: Während nach dem Gebet von Böttichers Helden “in der Ferne […] ein zauberhaftes silbernes Schloß auf[tauchte]” (288), sprudelt bei den Grimms das Lebenswasser “aus einem Brunnen in dem Hofe eines verwünschten Schlosses” (2017, 452).

Das Grimmsche Brunnenwasser wird in der Märchenforschung meist als Erinnerung an das verlorene biblische Paradies gedeutet (Heindrichs, 1998, 128). Bötticher macht die religiösen Implikationen des Grimmschen Brunnens viel expliziter, indem er das von den Grimms allegorisch ausgedrückte Heilungspotential des Glaubens (des Trinkens aus dem biblischen Paradies) durch Traummotivik in einen explizit seelischen Zustand überführt. Während der Grimmsche König nach dem Trinken des Wassers “fühlte […] seine Krankheit verschwinden” (Grimm & Grimm, 2017, 454), fand sich Böttichers Bauer “richtig heim und fiel in einen tiefen, gesunden Schlaf” (Ringelnatz, 1982, 289).

Nach dem Schlaf, der den Kontakt mit der Traumwelt symbolisiert, findet die Harmonisierung des Raumes parallel auf der inneren und äußeren Ebene statt: Der Protagonist fällt in einen friedlichen Schlaf, also in einen positiven seelischen Zustand als religiöses Korrektiv seiner vorherigen Ruhelosigkeit. Entsprechend dieser seelischen Wandlung von unruhigen Träumen zu “gesunde[m] Schlaf” wird auch der äußere Raum harmonisch verändert:

Das Haus und die Blumen leuchteten wieder in bunten Farben. Die Sonne schien freundlich und warm. Die Speisen schmeckten vortrefflich. Die Mägde und Knechte lachten und sangen bei ihrer Arbeit, und allen war leicht und wohl zu Mut wie dem Stumpf, welcher sie anhielt, dankbar und demütig zu Gott zu beten, […]. (289)

Der Glaube als innerseelischer Vorgang wird durch den materiell-räumlichen Brunnen symbolisiert, der die überrationale, theistische Glücksquelle umschließt: Der Held wandert “allabendlich nach dem stillen Tale […], um sich an dem Wunderquell zu erlaben” und lebt “glücklich” gemäß seiner erworbenen Frömmigkeit (289). Die konzentrierte Überhöhung des impliziten Seelenraumes des Grimm’schen Märchens und dessen religiösen Untertönen zeigt, mit welch ernsthaftem ontologischen Anspruch Bötticher vor dem Krieg auf die Märchengattung zurückgriff: als Quelle einer überrationalen ‘Wahrheit’, die das Seelenleben mit der christlich numinosen Welt in Einklang bringt. Während die Kinderseele (in Böttichers Werk) von Natur aus rein ist, bedarf die Seele des Erwachsenen der Hinwendung zum Glauben, um in einen Harmoniezustand zu gelangen, ist aber mit einer inhärenten Seelengüte ausgestattet, die der Harmonie förderlich ist.

Veränderung der Märchenpoetik: Von Hans Bötticher zum Joachim Ringelnatz


Während des Krieges und Autors Dienst in deutscher Marine zeigten sich erste Anzeichen seiner Wandlung vom idealistischen und sentimentalen Bötticher zum apathischen, zynischen und subversiven Ringelnatz, welchen der zeitgenössische Kritiker Bernhard Diebold als “de[n] ehrliche[n] Prophet[en] seines absoluten Desinteressements” markierte (nach Pape, 1974, 191). An die Stelle der Kriegsbegeisterung, mit der Bötticher in den Dienst eingetreten war, trat bald die erschütternde Erkenntnis einer schmerzhaften, ideologiefreien und körperlichen Existenz, begleitet von einem Gefühl apathischer Sachlichkeit (vgl. Schwarnowski, 2000; siehe Ringelnatz, 1988, 71–73). Seine autobiographische Prosa Als Mariner im Krieg (Erstausgabe 1928, Rowohlt, Berlin) verbindet die aufkommende Resignation gegenüber seiner Umwelt mit dem Bruch von Idealen, die in der romantischen Kindheit-Kategorie angesiedelt sind und eine ‘verzauberte’, optimistische Weltsicht voraussetzen:

Wir [Matrosen] steckten alle günstigen wie ungünstigen, alle wahren und unwahren Nachrichten mit einer gleichmäßigen Sachlichkeit ein. Auch mir kam das Merkwürdige unserer Lage nur in einsamen Stunden, etwa des Nachts auf Wache, zum Bewußtsein. Dann schwoll in mir die romantische Abenteuerlust, die mich seit meiner frühesten Kindheit begleitet und vielleicht allzuoft geleitet hatte. (Ringelnatz, 1955, 35)

Vor dem Krieg verfolgte Bötticher die neromantische Haltung zur Kunst als eminent wichtige und transzendentale Angelegenheit der Vermittlung einer wesensverändernden Anschauung—er versuchte zu zeigen, “[w]ie das alles so wunderbar ist” (Ringelnatz, 1988, 16) und bewunderte die Möglichkeit den “Triumpf des Geistes über das Materielle [zu] spüren” (16).

Mit dem Ende des Krieges enden auch die Bemühungen um eine ontologisch anspruchsvolle Textproduktion, d.h. die Resignation vor dem, was er selbst als “Reinkunst” bezeichnet (101). Das Drama Der Flieger von 1918 (Erstdruck in Dramen, Henssel, Berlin, 1984) stellt zusammen mit weiteren verlorenen Manuskripten aus dem Jahr 1919, in denen er sein berühmtes Pseudonym annahm, “einen der letzten Versuche [dar], als Hans Bötticher durch ‘hohe’ und ‘ernste’ Dichtung berühmt zu werden” (Pape, 1974, 144). Daneben entstehen in Briefen aus den Jahren 1916 und 1918 Gedichte, die Ringelnatz’ berühmten, grotesken Still vorwegnehmen, beobachtbar in Versen wie “Ob auch das Wesens Schein verloren bleibt./Ich wünsche, dass sich Otto Ernst entleibt./In diesem Sinne resigniert Prosit Ihr B” (1988, 80).

In der persönlichen Korrespondenz dieser Jahre finden sich auch Äußerungen, die auf eine Resignation vor der ‘Reinkunst’ schließen lassen: “Die Wahrheit ist tot in unserer Zeit und deshalb ist diese keine Große” (74), oder “Mein ganzer Künstler erstirbt in mir” (92). Der Brief vom Dezember 1918 zeigt eine Idealisierung der “glücklichen Kindheit” und eine neoromantische Affinität zu “Worte[n] aus Kindermund” (94), aber als einen knappen Monat später zur Kriegsmüdigkeit der Tod des Vaters hinzukommt, wird vom Verlust der Ideale berichtet: “Das Leben qualmt dahin wie Schornsteinrauch und räuchert unsere schillernden Ideale wie Sprotten” (95).

In der Textproduktion der Kriegszeit zeigt sich die Abkehr von der auf Harmonie zielenden Kunst am deutlichsten. Die Seelenspiegelung tritt hier deutlich hinter die Tragik des äußeren, realistischen Geschehens zurück. Die Erzählung Lichter im Schnee (Erstdruck in der Wochenzeitschrift Simplicissimus, 1917) schildert einen Marsch von Soldaten und endet mit einer plötzlichen Explosion, nach welcher “drei von den acht sprachen nicht mehr, nie mehr” (Ringelnatz, 1982, 159). Das Motiv des Märchens—der romantischen Metonymie für Kunst—wird hier nicht mehr dem Glücksmotiv gegenübergestellt, sondern, im Gegenteil, einer Traurigkeit, die aus der materiellen Kriegsrealität entsteht: “Dieses Land, wo wir sind, ist schön und ergreifend wie ein trauriges Kindermärchen. Und wir zanken hier und hassen einander, als könnte nicht morgen, heute noch der eine oder andere von uns hops gehen” (159). In diesem glücksfernen Raum zeugt ein Matrose von der Vergeblichkeit der Kunst in Kriegszeiten:

Daß wir einst mit fremdländischen Mädchen tanzten und nun schon zwei Jahre Krieg erleben, leben, daß Dichter und Maler töten, und heute Bilder und Verse nicht viel mehr als wie Spielzeug gelten; daß gerade ich hier bin, – – – wie sehr sonderbar! (158)

Der Verzicht auf die Kategorie des inneren Seins findet auf der Ebene des Herz-Motivs statt. KHM 1 entfaltet das Bild vom ‘Wohnen im Herzen’, das das Herz als Symbol für das geistig-innere Wesen und sinngemäß als “Wohnort irdischer und himmlischer Liebe” darstellt (Pecher, 2013, 100). In Anlehnung an das Grimm’sche Verständnis des Herzens als Symbol der Seelengüte, die eine Gottverbundenheit einschließt (Murphy, 2000, 7), wird das Herzmotiv von Ringelnatz auch in seiner persönlichen Korrespondenz als ‘Wohnort’ der himmlischen Liebe gesehen (siehe 1988, 76, 79, 81, 88, 91, 109, 110, 113). Zur Veranschaulichung werden im Brief an seine zukünftige Frau aus dem Jahr 1920 Aussagen wie “ [m]ir ist warm und wohl ums Herz” oder “erwidere ihr so, wie Dir ums Herz ist” (133–134) durch einen Ausdruck der Gottergebenheit ergänzt: “[D]ann gehe nun unser Plan mit Gott in Erfüllung” (133). In der Erzählung Nach zwei Jahren (Erstdruck in der Wochenzeitschrift Jugend, 1916) drückt ein seemännischer Held eine Abkehr von den “Märchenbildern” aus (Ringelnatz, 1982, 152). Die Absage an das Märchen impliziert hier zugleich die Absage an den Wunsch, sich der Kategorie der Innerlichkeit zuzuwenden, denn der Protagonist resigniert: “Aber meine Sinne gleiten ab von den Märchenbildern. Ich habe kein Herz mehr, ich habe eine Kasernenuhr in der Brust–Herzersatz” (152). Komplementär zu dieser Abwesenheit des ‘Herzens’ als positivem Seelenzustand thematisiert Bötticher in einem Brief, in dem er die Erzählung erwähnt, die Vergänglichkeit des Glücks: “Sei […] nie übermäßig und stolz vor Glück, denn der Mensch vermag plötzlich aus solchem Glück ins tiefste Elend zu stürzen […]” (Ringelnatz, 1988, 86).

Parallel zur Abkehr von der Einstellung zur Kunst als Mittel zur Glückssuche entsteht während des Krieges sein erstes Anti-Märchen Fahrensleute (Erstdruck in der Wochenzeitschrift Simplicissimus, 1920), das seine späteren Märchenparodien unter dem Namen Ringelnatz voraussagt (vgl. Pape, 1974, 139). Die bisherige Orientierung am abstrakten Seelenraum wird hier durch eine Hinwendung zur geographischen und zeitlichen Konkretheit ersetzt (“man hört den Mississippi rauschen”; “Odessa”; “Melbourne”; “in der vierten Minute des 29. Novembers 1915—geschah es”), in dessen Epizentrum das historische Ereignis des Krieges steht: “[…] das alle Übelstände des Krieges herauszerrte und kleinlich beleuchtete, über gesteigerte, Lebensmittelpreise, über Tote, Verwundete und Vermißte klagte […] – Krieg, – Krieg –” (Ringelnatz, 1982, 164–168). Zur Verankerung in der historischen Zeitlichkeit gehört die Betonung der hohen Sterblichkeit (“Simon Fels sei gestorben”; “da ist die elfjährige Tochter gestorben”), die zermürbende Realität eines Seemannslebens, in der das “Herz” als Sinnbild des inneren Wesens leidet (der Seemann weiß “von mannigfachen Momenten, da sich einem das Herz zusammenschnürt” zu berichten), sowie deren explizite Kommentierung: “Ja.—Eine traurige, niedrige, armselige, verlogene Zeit herrscht in der Welt” (161–165).

Während Lichter im Schnee die Zwecklosigkeit der Kunst explizit artikuliert, wird hier die ontologische Relevanz der Kunst implizit verneint, indem Traum und Kindheit als Schlüsselkategorien von Böttichers Vorkriegspoetik umfunktioniert werden. Vor dem Hintergrund der schmerzhaften historischen Wirklichkeit sind diese nicht mehr eine Quelle der Freude, sondern des Leidens: “Wenn mich [einen Seemann] jemals schlimme Träume foltern, so vollzieht sich das nie anders, als daß sie mich entweder in meine Schulzeit oder eben in jene Jahre der Seefahrt einsperren” (162).

Das Märchenmotiv der Wunscherfüllung fügt sich in die realistische Umgebung ein: Die Dame, die sich mit den Matrosen unterhält, präsentiert den märchenhaften “Talisman”, den sie von dem “abergläubischen” und “gottesfürchtigen” Matrosen erhalten hat, d.h. von der Figur, die die von den Brüdern Grimm gepriesenen Tugenden verkörpert: “Er sagte: Wenn ich einmal im tiefsten Herzbunker einen Wunsch hätte, dann möchte ich nur dies Appendix über Stag gehen lassen, d.h. beseitigen, und mein Wunsch werde sich alsbald erfüllen” (163). Bötticher unterläuft die Märchengattung in ihrem optimistischen thematischen Epizentrum – der Frage nach dem Glück (Pöge-Alder, 2016, 200; Röhrich, 1964, 235). Die Wunscherfüllung einer der Figuren führt nicht zur Harmonie, sondern in einen scherzhaft-grotesken und konzentrisch-diskordanten Zerstörungsraum. Diese negative Wirkung des Wünschens als innerer Prozess des “tiefsten Herzbunker[s]” bringt die Negativität der menschlichen Seele zum Ausdruck:

Unterdessen wuchs die Bark weiter in die Länge, Höhe und Breite, die Stühle, die beladenen Tische mit Getöse umkippend und beiseite schiebend. Schon stießen die Masten in die Decke, daß Kalkstücke herabprasselten. Der Besan hatte die Mißgeburt gespießt. Jetzt zerbrachen die schwellenden Schiffsplanken das Möblement an den Stubenwänden und preßten die dicke, quietschende Wirtin fest, platt. Ein Zivilist entging nur knapp dem gleichen Schicksal, indem er noch im kritischsten Moment aus der Tür schlüpfte. [...] Die Raanocken zertrümmerten vorbeistreifend Fenster, Spiegel und Bilder und hauten die ausgestopften Tiere von den Wänden. [...] Das rasende Schiff überrannte schreiende Menschen und durchgehende Pferde, teilte zermalmend eine Marschkolonne wahnsinnig erschrockener Trainsoldaten, jumpte über die Kaimauer platschend ins Wasser, [...]. (Ringelnatz, 1982, 169)

Am Ende der Erzählung steht die für Bötticher wie für Ringelnatz charakteristische Kindheitsaffinität—die groteske Explosion und das treibende Boot führen dorthin, “wo wir alle einmal gewesen sind, in den süßesten Stunden unbewußter Kindheit” (169). Das ‘Kindliche’ entspricht hier jedoch nicht mehr dem romantischen Zustand paradiesischer Unschuld, sondern einer spielerischen Zerstörungslust, sei es gegenüber der optimistischen Gattung, sei es gegenüber der Außenwelt. Der abschließende Zerstörungsraum lässt Ringelnatz’ spätere Antimärchen erahnen, etwa das explosive Ende von Vom Baumzampf aus der Märchensammlung Nervosipopel: Elf Angelegenheiten (geschrieben im 1921 [Pape, 1974, 233], Erstausgabe 1924, Gunther Langes, München), in dem die künstlerische Schöpfung ebenfalls zum weltzerstörenden ‘Spielzeug’ wird:

Bum – Kladdera – Bumms –. Mit den tausenden von Büchern mischten sich plötzlich Akten, Schreibmaschinen, junge Mädchen und Tintenfässer. – Nack Nack Nack – Nicks – Pracks – Drucks – Uhüiihh – Bum – Kladdera – Bumms –. Mit den Büchern, Mädchen, Akten, Tintenmaschinen und Schreibfässern vermengten sich plötzlich tausende von Korsetts – lila, weiß, rosa. Krrr – Uiehks – schlitterteklitterte huihhh Bumms. Intimes Interieur. Ganz flüchtig. Ein Arzt schrie auf. Die Geburt eines Zwillings war abgebrochen. Knacks – Huih – Bumms – Bumms – –. Stille – –. (Ringelnatz, 1982, 242)

Im Sinne einer solchen grotesken Zerstörungswut weisen die Märchen der Sammlung keine Wunscherfüllung, kein Eintreten in die Innenwelt auf, sondern stellen eine Zerstörung solcher utopischen Gattungskonventionen dar: Eine Annäherung der verfeindeten Königreiche wird durch eine plötzliche und alles vernichtende Flut verhindert (Eheren und Holzeren) oder die Märchenhelden töten sich gegenseitig (Vom Zwiebelzahl, Das schlagende Wetter). Das Abenteuer des positiven Helden endet nicht mit herkömmlichem Erlangen des Glücks, sondern mit dessen Unfalltod (Vom Tabarz). Statt Glück erleben Ringelnatz’ Märchenhelden nur Trauer und Enttäuschung (Abseits der Geographie, Diplingens Abwesenheit). Während die Protagonisten eines Grimm’schen Märchens am Schluss “[…] zusammen in Glückseligkeit [lebten]” (Grimm & Grimm, 2017, 54), verbleibt Ringelnatz’ Wal “[…] einsam seine Furchen ziehend, traurig schaukelnd und nachdenklich blinzelnd” (Ringelnatz, 1982, 239).

Kuttel Daddeldu erzählt seinen Kindern das Märchen vom Rotkäppchen und zeichnet ihnen sogar was dazu (1923 geschrieben [Pape, 1974, 289], Erstausgabe 1935, Karl Schönberg, in Form eines Faksimiles, Ohne Ort) ist ein konzentrierter Seitenhieb auf die von Bötticher einst so verherrlichte Kindlichkeit, denn für Ringelnatz’ Erzähler sind kindliche Leser “klein und […] dumm” (1982, 298) und “überflüssige Fischbrut” (300), die “fünf Minuten lang das Maul halten” sollen (298) und denen er eine Bedrohung zukommen lässt (“Aber schert euch jetzt mal aus dem Wind, sonst mach ich euch Beine” [300]). Die Subversion der Kinder-Affinität findet ebenso im Rahmen der Handlung statt: Ringelnatz’ Rotkäppchen ist kein moralisch ideales Kind der Grimm’schen Romantik, sondern ein “pissdumme[s] Mädel” und ein sexualisiertes Objekt, genauer “eine verflucht schöne, wunderbare, saubere Dirn”, die sich, wie mit einer sexuellen Anspielung angedeutet wird, möglicherweise mit dem Bergmann einlässt (298–299).

Darüber hinaus zerstört Ringelnatz die Märchendichotomie zwischen dem Guten und dem Bösen, die von den Grimms als moralischer Kompass kindlicher Reinheit suggeriert wird (Ewers, 2013, 18). Die Großmutter ist hier überhaupt keine wehrlose Grimm’sche Oma, denn sie frisst sowohl den Wolf, den Bergmann als auch das Rotkäppchen. Im Akt ihres Verzehrs kulminiert Ringelnatz’ Zerstörung der romantischen Kinderaffinität. Das Mädchen wird gefressen, weil es kindliche Fragen stellt:

‘Nun ist das ja auch nicht recht, wenn Kinder so was zu einer erwachsenen Großmutter sagen.’ Also da wurde die Alte fuchsteufelswild und brachte kein Wort mehr heraus, sondern fraß das arme Rotkäppchen mit Haut und Haar auf. (Ringelnatz, 1982, 300)

Nach Pape zerstört Ringelnatz mit der Subversion des kinderfreundlichen Grimm’schen Märchenstils absichtlich die Lektüre, mit welcher er seine eigene Kindheit assoziiert (1974, 290). Jack Zipes liest den Text als eine Bemühung, den kindlichen Leser nicht zu schützen und mit der harten Realität der Nachkriegszeit zu konfrontieren (1993, 51). Antke Detken überlegt, ob der Text dem kindlichen oder dem erwachsenen Leser gewidmet ist und schlussfolgert, dass “jeder bei der Lektüre andere Elemente dominant setzten wird” (2000, 76). Craig Monk liest die Subversion der Kinder-Affinität als Ringelnatz’ Kritik der Grimm'schen Lüge, dass ihre Texte unkontaminierte Produkte mündlicher Folklore darstellen (1993, 104). Gleich wie die Grimms reproduziert Ringelnatz’ Erzähler eine von jemand anderem (seinem Kapitän) übernommene Erzählung. Doch der von ihm assimilierte Inhalt entspricht—wie bei den berühmten Brüdern—voll und ganz seinen ideologischen Absichten (seiner Kinderfeindlichkeit [104]).

In der Tat enthält das am meisten erforschte Märchen von Ringelnatz eine parodistische Zerstörung des Grimm’schen Volksmärchenkonzepts oder einen Ausdruck der Enttäuschung über die Nachkriegszeit (Zipes, 1993). Die Interpretationen erläutern zwar die partiellen autobiographischen, zeitgeschichtlichen und parodistischen Kontexte, aber erst im Gegensatz zu Böttichers Vorkriegspoetik wird ein Verfahren deutlich, das seinem gesamten Nachkriegswerk gemeinsam ist—die Negation der romantischen Märchenchronotopik. Die Märchenhandlung spielt hier nicht in einer seelischen ‘Anderswelt’, sondern bezieht sich auf die Topographie der Wirklichkeit: “Das ganze muß sich bei Nikolajew oder sonstwo in Sibirien abgespielt haben” (Ringelnatz, 1982, 299). Im Einklang mit der parodistischen Destruktion der Grimm’schen kindlichen Asexualität wird die Schwiegerstraße (seit 1922 Kalkhof) als Hamburgs berüchtigte Bordellstraße gleich viermal erwähnt (Großmutter wohnt in der “Schwiegerstraße dreizehn zur ebenen Erde” [299]).

Auch die bereits erwähnte Märchensammlung Nervosipopel: Elf Angelegenheiten ist von der Negation der romantischen Märchenchronotopik gekennzeichnet: Die Texte enthalten zahlreiche Verweise auf historische Persönlichkeiten (auf Shakespeare, Bacon, E. T. A. Hoffmann, Lord Byron, Martin Luther, Karl May), räumliche Konkretisierungen (z. B. “die Burgstraße in Leipzig und den Gänsemarkt in Hamburg” [250]; “Königgrätzerstraße”; “Übergang zum Tempelhofer Ufer”; “Wasserweg Spree-Landwehrkanal-Havel-Elbe” [236–238]; “Tscheljabinsk und Irkutsk” [251]), und zeitliche Angaben (“4700 vor Christi Geburt” [243]; “1804” [243]; “15. Juni 1895” [239]). Besonders in Abseits der Geographie wird der romantische Anspruch auf die ontologische Relevanz des Märchens negiert, indem das Märchen als autonom von der Wirklichkeit dargestellt wird. Der Protagonist betritt durch eine in Berlin existierende Straße einen märchenhaften Raum abstrakter Topographie: Er befindet sich “in einer Stadt in einem Lande” und wir haben keine Kenntnis von “geographische[r] Bestimmung des eigenartigen Landes” (223). Dieser märchenhafte Un-Raum wird explizit als autonom von “dieser Welt” des Lesers bezeichnet: “Du mußt dich aus der Welt schaffen, aus dieser Welt” (223). Das isolierte Märchen verliert das Potential der Referentialität auf die seelische Innerlichkeit, denn diese stellt einen Teil ‘dieser Welt’ dar.

Schlussfolgerung

In Ringelnatz’ Vorkriegsmärchen drückt sich, sei es durch die Betonung der Kindlichkeit als seelischem Idealzustand, sei es durch die explizite Hingabe an Gott, die neoromantische Überzeugung aus, dass die Innerlichkeit eine überrationale und religiöse Glücksmöglichkeit birgt, der sich das Subjekt durch das Märchen als Manifestation der Traumwelt kindlicher Reinheit annähern kann. Im Einklang mit dem neoromantischen Glauben an die angeborene Seelengüte und ihr transzendentales Potential wendet sich der junge Ringelnatz dem Seelenleben zu und sucht nach “Möglichkeiten märchenhafter Erkenntnis” (Mayer & Tismar, 2003, 139) im Rahmen der Wirklichkeit. Dementsprechend bilden die ontologisch anspruchsvollen Seelenräume die zentrale Raumkategorie seiner Märchenpoetik der Vorkriegszeit. Während seine Vorkriegsmärchen den im Traum verorteten Seelenraum darstellen, enthalten seine Nachkriegsmärchen keine Traummotive mehr, da die Schwere der historisch-realen Kriegs- und Nachkriegszeit untergräbt den optimistischen Glauben an die inhärente Seelengüte und leitet keine innere Harmoniesuche ein.

Ringelnatz wendet sich davon ab, seine Leser durch einen Appell aus ihrer rationalen Weltsicht in einen transrationalen, abstrakten Seelenraum zu führen. Statt eine abstrakte höhere Wirklichkeit anzustreben, verankert er den textuellen Raum fest in der konkreten Topographie der Wirklichkeit, die aufgrund ihrer Zerstörungskraft jede Verbindung mit der Harmonie innerhalb der Seelenwelt verhindert. Damit entleert Ringelnatz den Märchenraum seiner Reminiszenz an die Seelenwelt und folglich seines ontologischen Relevanzanspruchs, da nicht mehr das Streben nach Versenkung in die geheimnisvollen Tiefen der inneren Wirklichkeit im Vordergrund steht, sondern der Wunsch, die äußere und konkrete Wirklichkeit durch einen destruktiven Ausdruck zu verwerfen.

Nach Pape sehnt sich Ringelnatz in seinen Nachkriegsmärchen danach, seinen persönlichen Traumata in eine utopische, märchenhafte Phantasiewelt zu entfliehen (1974, 244). Die Tragik seiner Märchen sei größtenteils von seiner ironischen Selbstreferenz bedingt beziehungsweise von seiner Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu verlassen und die ersehnte Befreiung zu erlangen (233–245). Unsere chronotopisch orientierte Interpretation lädt dazu ein, Papes biographisch abstrahierte These zu erweitern: Ringelnatz’ Zerstörungslust resultiert nicht nur aus individuellen psychischen Problemen, sondern auch aus der desillusionierenden Erkenntnis, dass die Versinnlichung der physisch-materiellen Wirklichkeit in einer harmonischen Innenwelt keine verfügbare Glücksmöglichkeit darstellt, bzw. dass die romantische Märchenutopie schlechthin keine ontologische Relevanz besitzt.

Seine Antimärchen besitzen eine Poetik der Desillusionierung, eine “rationale[] Auflösung des Märchens” (Mayer & Tismar, 2003, 139). Das Objekt der Enttäuschung und des verlorenen neoromantischen Ideals zerstörend, bezeichnet Ringelnatz nach dem Krieg die Märchengattung immer wieder als ‘Lüge’. Seine Parodie des Rotkäppchens verspottet nicht nur das Rotkäppchen-Märchen, sondern die gesamte Märchengattung, wie eine Anspielung auf ein anderes ikonisches Märchen zeigt: Der Wolf stellt sich als “Dornröschen” vor (Ringelnatz, 1982, 299). Am Ende werden alle Märchen als Lügen verworfen: Der Erzähler wird müde von “dummen Geschichten, die doch alle nur erlogen und erstunken sind” (300). Ebenso wie in seinem Rotkäppchen wird auch in Nervosipopel: Elf Angelegenheiten das Märchen als Lüge bezeichnet: Die Märchen, die der Graf Quiekenbach den afrikanischen Ureinwohnern erzählt, sind als “Improvisiertes, Erlogenes und Erstunkenes, […], Fuselgefasel” markiert (260). Auf ähnliche Weise erzählt Fidje in Der Arme Pilmartine vor einem Publikum eine fantastisch-märchenhafte Geschichte über dessen Abenteuer im Kosmos. Die Zuhörer lehnen seine Erzählung als Lüge ab: “Sie haben bisher dreist gelogen” (230). Folglich bestätigt die märchenerzählende Figur die Inkriminierung des Märchens (230). Die Destruktivität des Ringelnatz’schen Antimärchens weist somit eine Dimension chronotopischer Reflexivität auf, die das populäre Vorurteil von der ‘Trivialität’ seiner komischen Texte relativiert (Möbus, 2000; Schmidt-Möbus, 2000).