Einleitung

„Ohne Vergangenheit also und ohne Zukunft und ohne Gegenwart—wo ist die Zeit? Na?“ (Kehlmann, 2019; S. 52). Die Zeit als grundlegender Weltzugangsmodus des Menschen steht in Daniel Kehlmanns Roman Mahlers Zeit infrage. Protagonist David Mahler ist als Physiker bestens vertraut mit linearen Konzepten der Zeit, steht diesen jedoch seit seiner Kindheit grundsätzlich skeptisch gegenüber – und glaubt eines Nachts, den Beweis gegen die Linearität in einer Art epiphanischem Moment gefunden zu haben. Von da an gerät der Lauf der Welt des Protagonisten aus den Fugen, was sich im auf der Handlungsebene auftretenden unvermittelten Nebeneinander differenter Konzepte von Zeit ebenso zeigt wie in der Struktur des Romans.

Der vorliegende Beitrag möchte sich der Frage nach den tradierten Konzepten von Zeit in Kehlmanns Roman widmen. Ausgehend von der dabei zutage tretenden ontologisch-epistemischen Ambivalenz fragt er nach den Konsequenzen einer derartigen Unvermitteltheit des Widersprüchlichen für die literaturwissenschaftliche Einordnung des Textes sowie nach den damit verbundenen anthropologischen Implikationen. Im Zuge dessen soll der teilweise zur Benennung des ästhetischen Konzepts in Kehlmanns Romanen eingeführte Begriff des Gebrochenen Realismus in Abgrenzung vom Magischen Realismus wie vom Surrealismus erhellt und am Beispiel von Mahlers Zeit hinsichtlich seiner Angemessenheit überprüft werden. Zentral ist dabei auch die Abgrenzung vom Begriff des Fantastischen nach Tzvetan Todorov.

Vor der genuin literaturwissenschaftlichen Arbeit steht dabei notwendig die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Zeit als zentralem Gegenstand sowohl des zu untersuchenden Romans als auch der vorliegenden Arbeit. Hierbei soll unter Rückgriff auf Gedanken Felix Auerbachs, Hermann von Helmholtz’ und Friedrich Nietzsches das thermodynamische mit dem zyklischen Bild von Zeit kontrastiert werden, da diese beiden Konzepte die – abgesehen von einer generellen Zeitskepsis – in Mahlers Zeit opponierenden sind.

Differente Konzeptionen von Zeit

Bereits Augustinus machte auf die Schwierigkeit, die Zeit ihrem Wesen nach zu definieren, aufmerksam: „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht“ (Augustinus, 1866; S. 301). Nichtsdestotrotz – oder vielmehr gerade deswegen – lassen sich in der Geschichte der Philosophie wie der Naturwissenschaften etliche Theorien der Zeit finden, die auf ganz unterschiedliche Art zu verstehen oder erklären versuchen, worum es sich bei der Zeit handelt und in welcher Verbindung der Mensch zu ihr oder sie zum Menschen steht. Eine Arbeit, die sich mit Zeitkonzeptionen in einem literarischen Werk auseinanderzusetzen versucht, steht folglich zunächst vor dem Problem, diesen zentralen Terminus, der keineswegs einheitlich definiert ist, zu klären. Zentral für Mahlers Zeit sind dabei die Konzepte der thermodynamisch-linearen und der zyklischen Zeit, bei denen es sich zugleich um die ideengeschichtlich betrachtet populärsten Zeitkonzepte handelt.

David Mahler, namensgebender Protagonist des zu untersuchenden Romans, ist Physiker und insoweit bestens vertraut mit physikalischen Definitionen der Zeit, wenngleich er sich unter Ausklammerung der kosmologischen auf die thermodynamischen Aspekte fokussiertFootnote 1: „‚Die Physik‘, sagte David, ‚kennt die Zeit nicht. […] Oder doch: aber nur durch eine einzige Formulierung. Den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Der sagt, daß die Unordnung immer wachsen muss‘“ (Kehlmann, 2019; S. 107). Dieser zweite Hauptsatz der Thermodynamik, lässt sich physikalisch wie folgt fassen: Ihm zufolge strebt „die Entropie S eines abgeschlossenen thermodynamischen Systems stets danach […], einen Maximalwert anzunehmen, der im vollständigen thermodynamischen Gleichgewicht erreicht wird“ (o.V., 1998). Das wiederum resultiert in letzter Konsequenz darin, dass die Veränderung der Zustände in der Welt nur eine Richtung kennt. Strebt die Entropie nach Ausbreitung, so ist nur eine Veränderung von einem geordneten hin zu einem ungeordneteren Zustand möglich. In der Thermodynamik ist Zeit damit nichts anderes als die Linearität der Veränderung. Alle anderen Veränderungen benötigen die Zufuhr von Energie.

Was zunächst trivial klingt, bringt Konsequenzen mit sich. So kann dieser physikalische Satz gewissermaßen als naturwissenschaftliche Formulierung der Zeitlichkeit des Seins gelesen werden: Lebewesen zeichnen sich durch niedrige Entropie aus. Diese können sie nur durch Energiegewinnungsprozesse und unter Erhöhung der Umgebungs- wie der Gesamtentropie des thermodynamischen Systems, auf welches sich der Entropiesatz bezieht, aufrechterhalten. Leben ist damit, metaphorisch gesprochen, also ein Prozess des Sich-Stemmens gegen eine physikalische Gesetzmäßigkeit. Dieses Sich-Stemmen wiederum könnte, beständige Energiezufuhr vorausgesetzt, unendlich fortgesetzt werden (Tanner, 1980; S. 45). Diese beständige Energiezufuhr stellt jedoch eine physikalische Unmöglichkeit dar: Strebt die Entropie beständig nach ihrer Maximierung, so nimmt die Organisation des Gesamtsystems immer weiter ab. An einem bestimmten Punkt ist die Umgebungsentropie derart erhöht worden, dass aus der Umgebung nichts Nutzbares mehr zu ziehen ist. Die Maximierung der Entropie geht also einher mit dem Zum-Erliegen-Kommen jeglicher Prozesse, dem sog. Wärmetod des Universums. Damit ist ein Endzustand erreicht, in welchem die zum Überleben nötige Energiezufuhr nicht mehr möglich, in welchem „überall […] Energie vorhanden und doch […] nichts mit ihr zu machen“ (Auerbach, 1902; S. 153) ist. Da die Umgebungsentropie nicht weiter erhöht werden kann, zerfällt die Organisation des Organischen. Es kommt zu einem „vollständige[n] Stillstand aller Naturprocesse von jeder nur möglichen Art“ (Helmholtz, 1854; S. 24). Weiter führt Helmholtz aus, dass in diesem Zustand „[a]uch das Leben der Pflanzen, Menschen und Thiere […] natürlich nicht bestehen“ kann (Helmholtz, 1854; S. 24). Der Endzustand, in welchem die Entropie ihren Maximalwert erreicht hat, ist damit ein Zustand, in welchem „das Weltall […] zu ewiger Ruhe verurtheilt“ (Helmholtz, 1854; S. 24) ist. Die Thermodynamik zeichnet damit das Bild einer linearen Zeit, die beständig in eine vorgegebene, nicht umkehrbare Richtung, die diejenige des Zerfalls ist, voranschreitet. Hervorzuheben ist dabei ferner, dass auf die Phase der Linearität notwendig eine der Nicht-Zeitlichkeit folgt: Ist das thermodynamische Gleichgewicht erreicht, tritt Stillstand ein, der nicht mehr linear einordbar ist.

Das in der Ideengeschichte populärste opponierende Zeitverständnis ist dasjenige der zyklischen Zeit. Beschrieben werden soll dieses Zeitverständnis nachfolgend exemplarisch mit Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkehr. Zentraler Aspekt der zyklischen Zeit ist eine Nicht- respektive Teil-Linearität. Die Zeit schreitet voran, die Ereignisse entwickeln sich in eine Richtung – doch dann beginnt alles von vorne. Im Denken Nietzsches ist dieser Wiederkehrgedanke zentral:

Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!“ […] Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem „willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?“ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? (Nietzsche, 2019; S. 560)

Nietzsche zeichnet damit das Bild einer Zeit, in der es zu einer ins Unendliche laufenden Wiederholung immer gleicher Sequenzen kommt. Die Zeit ist damit kein Fortschreiten hin zu einem Endpunkt wie in der Physik, sondern ein unendliches Sich-Wiederholen gleicher Seinszustände. Zu verweisen ist hier darauf, dass ein solches Verständnis der Zeit als zyklisch keineswegs eine mit Nietzsche erstmals auftretende Idee ist. Sie ist vielmehr in den unterschiedlichsten Kulturen und zu den unterschiedlichsten Zeiten zu beobachten (Schmied, 1985; S. 144f.). Mit Jan Assmann sollte abschließend darauf hingewiesen werden, dass das Verständnis der Zeit als zyklisch dabei nicht zwangsläufig mit der Vorstellung der unendlichen Wiederholung gleicher Seinszustände einhergehen muss und im Detail sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. So kann auch die gesetzartige Wiederholung gewisser Grundstrukturen des Sich-Ereignenden bereits als zyklisches Zeitbild verstanden werden (Assmann, 1996; S. 4).

Zeitfigurationen in Mahlers Zeit

In Kehlmanns Roman Mahlers Zeit stoßen die beiden eingeführten Konzeptionen von Zeit unvermittelt aufeinander. Bindeglied ist dabei der Protagonist David Mahler, durch den die Erzählinstanz über weite Strecken intern fokalisiert ist, was für die Vermittlung von Zeit – wie noch zu zeigen sein wird – von zentraler Bedeutung ist. Mahler wird präsentiert als hochbegabter Außenseiter, der ein ambivalentes Verhältnis zur Naturwissenschaft aufweist. So beginnt er einerseits früh am naturwissenschaftlichen Konzept der Zeit zu zweifeln, stellt andererseits jedoch hochkomplexe räumlich-zeitliche Berechnungen an, die ebendieses Zeitverständnis voraussetzen, um sich als Fußballtorwart zu profilieren (Kehlmann, 2019; S. 56). In diesem gebrochenen Bild, das durch den Umstand, dass der Protagonist nicht nur die Flugkurve des Balls berechnet, sondern sie auch – höchst unwissenschaftlich – „vorausfühlen“ (Kehlmann, 2019; S. 56) kann, in sich erneut gebrochen wird, deutet sich bereits das für den gesamten Text zentrale Spannungsverhältnis an. Nachfolgend sollen zunächst die Repräsentationen (scheinbar) linearer und zyklischer Zeit sowie die mit beiden Konzepten brechenden Heterochronien in Mahlers Zeit nachvollzogen werden, ehe das sich präsentierende Spannungsverhältnis der beiden Konzepte geklärt werden soll.

Entwicklung und Tod: Linearität

Offensichtlichster Hinweis auf die Linearität der Zeit sind die Rahmungen der Textstruktur selbst. Formalanalytisch ist der Text zu lesen als eine Form des Entwicklungsromans: Er setzt ein zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben des Protagonisten und verfolgt seine Entwicklung hin zu einem späteren, in diesem Falle bis zu seinem Tod. Erlebt werden kann aus Rezipient*innenperspektive folglich das Voranschreiten der Zeit – und zwar von einem im biophysikalischen Sinne organisierten zu einem unorganisierten Zustand, vom Leben zum Tod. Verstärkt wird der Eindruck der physikalischen Gesetzmäßigkeit dieses Laufs der Dinge noch dadurch, dass es sich beim Tod nicht um ein Gewaltverbrechen, sondern um eine Art Herzinfarkt handelt: Das biophysikalische System David Mahler hat das Sich-Stemmen gegen eine physikalische Gesetzmäßigkeit schlicht aus sich heraus aufgegeben. Eine solche Zunahme der Entropie ist indes auch metaphorisch zu beobachten, wird auf der Handlungsebene doch vordergründig beschrieben, wie das Leben des Protagonisten aus den Fugen gerät: Vom Physikdozenten in aussichtsreicher Position wird er innerhalb kurzer Zeit zu einem dem Verfolgungswahn unterlegenen Menschen, der seine privaten Beziehungen zerreißen und seine berufliche Zukunft mit einem wirren Fernsehauftritt zerplatzen lässt. Auch hier zeigt sich, wenngleich nicht physikalisch, der lineare Verlauf von der Ordnung des Seins hin zu seiner zunehmenden Auflösung.

Weitere scheinbare Hinweise auf Linearität finden sich vor allem im beständig präsenten Motiv des Todes, das in unterschiedlichsten Variationen durchgespielt wird. Hervorzuheben sind hier vor allem der Tod der Schwester des Protagonisten sowie der Tod eines Obdachlosen nach einer Berührung durch ihn. Der Tod der Schwester lässt den Menschen dabei auf eindrücklichste Weise als terminales Wesen erscheinen, das physikalischen Kräften unterlegen ist. So wurde die namenlose Schwester bei einem Unfall mit einem Müllwagen durch „die Mündung des großen Rohrs […] gleichgültig eingesogen“ (Kehlmann, 2019; S. 44). Das Einsaugen durch das große Rohr ist nicht nur metaphorisch, sondern auch direkt zu verstehen als Einwirken physikalischer Kräfte auf das Mädchen. Der durch den Saugmaschinenmotor produzierte Unterdruck ist eine Kraft, die auf diejenige Materie, die in seinen Wirkbereich gerät, einwirkt – und zwar unabhängig davon, um was für eine Art Materie es sich handelt. Die Gleichgültigkeit des Rohres zeigt damit die keineswegs exzeptionelle Stellung des Menschen gegenüber den am Beispiel des Unterdrucks illustrierten physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Auf die Spitze gebracht wird diese Form der Entsakralisierung dadurch, dass der beschriebene Vorgang zur Abtrennung des Kopfes vom restlichen Körper führt: Nicht einmal vor dem Zentralheiligtum des Menschen, seinem Kopf, Sitz des ihn vorgeblich von allen anderen Wesen unterscheidenden Gehirns, macht die einwirkende Kraft Halt. Sie reduziert das Mädchen, wie alle Menschen, darauf, bloße Materieanordnung zu sein. Als solche ist es gewissen physikalischen Gesetzen unterlegen, gegen die es sich nur zeitweise zu stemmen vermag. Von einer „gleichsam göttliche[n] Aura“ (Tranacher, 2018; S. 157) lässt sich vor diesem Hintergrund gerade nicht sprechen.

Wird das Umkommen der Schwester wie vorgeschlagen als Hinweis auf das Unterlegensein des Menschen unter physikalische Gesetzmäßigkeiten gelesen, erscheint auch der Umstand interessant, dass der Protagonist die wahren Todesumstände erst lange nach dem Ereignis erfährt: Die Wahrheit „war nicht so, daß sie einem Kind beschrieben werden konnte“ (Kehlmann, 2019; S. 44). Sie ist offensichtlich eine Tatsache, vor der der Mensch sich fürchtet und die er durch schonendere Erklärungsmodelle zu ersetzen versucht. Psychologisierend könnte hierin ein Grund für das Ankämpfen Mahlers gegen die Linearität der Zeit gesehen werden, was auch Ralf Kühn (Kühn, 2005; S. 390), Johannes Pause (Pause, 2012; S. 248f.) und Christoph Bartsch (Bartsch, 2016; S. 208f.) vorschlagen.

Anders gelagert ist der Todesfall des Obdachlosen, den der Protagonist auf einer Parkbank berührt. Mahler ist zunehmend überzeugt von „Unvollkommenheiten im Aufbau, Fehler[n] eines zerstreuten Planers, Beweise[n] eines mangelhaften Entwurfs“ (Kehlmann, 2019; S. 25) der Welt – kurzum: davon, dass es keine im Sinne der Physik linear fortschreitende Zeit gibt. In dem damit einhergehenden, hochgradig emotionalen Zustand trifft er auf einen Obdachlosen, dessen Gesicht er aus einem unerklärlichen Impuls heraus berührt. Diese Berührung korreliert mit dem Tod: „Der Alte atmete nicht mehr“ (Kehlmann, 2019; S. 27). Diesen Todesfall bringt Mahler, ebenso wie einige weitere Zwischenfälle, direkt mit seiner vorgeblichen Entdeckung in Verbindung. Verwiesen werden kann hier auch darauf, dass Mahlers Vorgesetzter, Professor Grauwald, direkt nach Mahlers Bericht an ihn unerwartet im Sterben liegt. An zwei Stellen des Romans findet sich der Tod damit als direkte Antwort auf die These der nicht-linearen Zeit. Zunächst erscheint diese Antwort als plausibler Beweis gegen Mahler: Der Tod, verstanden als unumkehrbares Ende der je individuellen Existenz und damit Zielpunkt des linearen Lebens, tritt ein und straft somit all jene, die gegen die Linearität argumentieren, Lügen. Bei näherer Betrachtung lässt sich dieses Argument jedoch entkräften: Auch in einer nicht-linearen Welt ist der Tod möglich. Er stellt hier einen derjenigen Seinszustände dar, die sich beständig in immergleicher Abfolge wiederholen. Einen Bruch mit der Definition des Todes als „unüberholbare Möglichkeit seines [d. i. des Individuums, L.K.] Seins“ (Heidegger, 2006; S. 256), ergo: endgültiges, unumkehrbares Ende der je individuellen Existenz, stellt das indes nicht dar. Mit dem Tod sind die Möglichkeiten der Existenz ausgeschöpft. In einer zyklischen Welt vollziehen sich die Existenz oder ihre Grundstrukturen zwar erneut; der Tod besiegelt jedoch die Möglichkeiten dieser sich unendlich vollziehenden Existenz als ausgeschöpft, sodass nach ihm zwar noch etwas folgt, aber nichts Neues mehr.

Spiegel und Doppelungen: Zyklik

Neben dem Motiv des Todes, das wie beschrieben zunächst auf Linearität hinweist, diese aber nicht belegen kann, ist vor allem dasjenige des Spiegels und der Doppelung in Mahlers Zeit präsent. Bereits in der einleitenden Szene des Romans sieht der Protagonist sich gefangen in einem Spiel aus Doppelungen, als er einem mehrfachen falschen Erwachen ausgesetzt ist: Das scheinbare Erwachen wiederholt sich dreimal (McConeghy, 2010; S. 41). Erst das vierte Aufschlagen der Augen bringt den tatsächlichen und dauerhafteren Übergang in die Welt des Wachens mit sich (Kehlmann, 2019; S. 8–12). Doch mit dem Erwachen ist das Spiel der Doppelungen noch nicht vorüber. Sah der Protagonist in einem Zustand zwischen Traum und Wachen „eine zerbrochene Straßenlaterne“ (Kehlmann, 2019; S. 9), so beobachtet er nach dem tatsächlichen Erwachen einen Straßenkehrer, neben dem „eine Laterne kopflos“ (Kehlmann, 2019; S. 12) aufragt. Eine ähnliche Verquickung von Traum- und Wachwelt, die mit einem Motiv der Doppelung einhergeht, findet sich in einer von Stefan Tetzlaff so benannten „Schlüsselszene“ (Tetzlaff, 2012; S. 6):

Am nächsten Morgen fuhr er aus dem Schlaf, der Schreck hatte ihn getroffen wie ein Peitschenschlag. Es war wieder seine Schwester gewesen. Auf einem Weg, neben einem See unter bizarr verformten Bergen. Sie hatte auf eine Pflanze gezeigt, sie abgebrochen und ihm gegeben: eine grell leuchtende Blüte mit langen, dürren Blättern, die sich wie lebendig um seine Hand geschlängelt hatten. […] Er setzte sich auf, atmete tief ein und sah an sich hinunter. […] Er hielt die Pflanze noch in der Hand. Er schrie auf und schrie, als würde er nie mehr aufhören, und der Schrei zerriß das Zimmer um ihn, er erwachte noch einmal, im gleichen Raum (Kehlmann, 2019; S. 59).

Neben der offensichtlichen Ähnlichkeit zur bereits beschriebenen Eingangsszene findet sich im Traum des Protagonisten die Vorwegnahme desjenigen Ortes, an dem er schließlich sterben wird: Er stirbt an einem See, der umgeben ist von „in die Tiefe gerichteten Bergen“ (Kehlmann, 2019; S. 151). Die zitierte Traumsequenz lässt sich folglich tatsächlich als Schlüsselszene verstehen, insofern sie ein doppeltes Doppelungsmotiv aufweist. Diese Doppelungen lassen sich verstehen als sich zyklisch wiederereignende Seinssequenzen, denen Mahler sich in zunehmendem Maße ausgesetzt sieht. Ist es zunächst nur seine tote Schwester, die ihn in immergleichen Bildern im Traum verfolgt, so tritt zeitgleich mit der lebensverändernden (scheinbaren) Entdeckung ein Konglomerat an sich wiederholenden Bildern auf, die sich ihm in ihrer Bedeutung kaum erschließen. Neben der Wiederholung von Träumen zeigen sich derartige Doppelungen, die der linearen Zeit entgegengesetzte Verbindungen schaffen, vor allem in Déjà-vu-Erlebnissen und schwer nachvollziehbaren Assoziationsketten. Bartsch spricht diesbezüglich davon, der Text inszeniere „die Auflösung von [linearer] Zeit durch die Wiederkehr des Gleichartigen“ (Bartsch, 2016; S. 214). Besonders hervorzuheben ist hier das Gespräch mit Professor Grauwald, das in Mahlers Erleben zunehmend in den Hintergrund gerät. Berichtet die intern durch ihn fokalisierte Erzählinstanz zu Beginn des Gesprächs noch detailliert über ebendieses, so stellt sie irgendwann lakonisch fest, dass „[s]eine Gedanken [ab]irrten“ und es ihm nicht gelingt, „sie festzuhalten“ (Kehlmann, 2019; S. 41). Verbunden ist dieses Abgleiten der Gedanken mit einem Déjà-vu-Erleben: „Und plötzlich erfaßte ihn ein schwindelerregendes Gefühl von Unwirklichkeit; und er wußte, daß er schon hier gesessen hatte, in genau dieser Situation, und gleich würde ihm einfallen, wann das gewesen war, gleich …“ (Kehlmann, 2019; S. 41). Das einsetzende Gefühl der Unwirklichkeit lässt sich fassen als Diskreditierung des gewöhnlichen, linearen Erlebens. Die Gedankenwelt des Protagonisten wird von diesem Moment an zunehmend beherrscht durch einen Gedanken des Zyklischen: Er ist davon überzeugt, dass die Szene kein genuines Erlebnis ist, sondern eine bloße Wiederholung des Schon-Gewesenen. Dieser sich aufdrängende Gedanke wiederum bildet den Ausgangspunkt für die Auflösung der linearen Lebenslinie in ein zyklisches Konglomerat unaufhebbarer Verbindungen. In ebendiesem wird die Diskreditierung der linearen Zeit nicht nur thematisiert, sondern durch Ana- und Prolepsen auch „auf narratologischer Ebene realisiert“ (Jakubanis, 2016; S. 167): „Dann vermischte dieses Bild sich mit anderen, älteren Bildern; und sie alle schienen einen Zusammenhang zu besitzen, eine durchlaufende Verbindung, die völlig offensichtlich war und die ihm nur jetzt gerade […] nicht einfiel …“ (Kehlmann, 2019; S. 41).

Auffällig ist hier neben der konjunktivischen Distanzierung, die auf einen Rest an Skepsis verweist, vor allem die wiederholte Verwendung der Auslassungspunkte am Satzende. Die Interpunktion kann hier als semantisch relevant verstanden werden: Sie weist ihrerseits auf die die assoziativ-zyklische Verbindung eines Moments mit inhaltlich oder strukturell gleichen Momenten hin. Sie ist damit Kennzeichen der verschachtelt-zyklischen Assoziationskette. Der den Interpunktionsregeln nach zu erwartende Punkt als Ende des Satzes würde mit diesem Bild hingegen brechen und vielmehr die lineare Absonderung eines jeden Lebensmoments, der unverwechselbar nur er selbst und damit von allen anderen inhaltlich wie strukturell zu trennen ist, betonen. Auch die aufkommenden inneren Bilder verweisen auf ein zyklisches Zeitverständnis. So ist etwa das Bild des unbeschwerten Sommers für Mahler nicht datierbar. Es ist vielmehr ein „anonyme[r] Sommer, vielleicht de[r] erste[] Sommer, der je existiert hatte“ (Kehlmann, 2019; S. 42). Das Bild des ersten Sommers scheint zunächst auf eine Linearität zu deuten, lässt sich in Verbindung mit der Anonymität und Undatierbarkeit aber auch als zyklisches Bild des einen, sich immer wieder aufs Neue ereignenden Sommers interpretieren.

Die weiteren Kindheits- und Jugenderinnerungen, die sich in der Folge vor Mahlers innerem Auge erneut abspielen, schlagen indes weitere Bögen in Gegenwart und Zukunft. Der Junge „mit blonde[n] Haaren und gelbliche[n] Zähne[n] mit einer Lücke ganz vorne“ und einem Schatten, der „schmal und schwarz“ (Kehlmann, 2019; S. 49) neben ihm herzieht, wird in gealterter Form aber mit den gleichen Kernmerkmalen kurz vor Mahlers Tod erneut in sein Leben treten (Kehlmann, 2019; S. 141). Auch seine sich erst Jahrzehnte später erfüllende Prophezeiung (Kehlmann, 2019; S. 49) kann dabei als Bruch mit dem konventionellen Gefüge der Zeit verstanden werden. Das Doppelungs- und Spiegelmotiv tritt in Mahlers Zeit ferner auch in Verbindung mit dem Raum, der traditionell als untrennbar verbunden mit der Zeit verstanden wird, auf. So findet sich die Haushälterin Valentinovs zwischen zwei „ihre Gestalt ins Unendliche“ (Kehlmann, 2019; S. 124) vervielfachenden Spiegeln wieder. Diese Spiegelung im Raum ist dabei über die Beschreibung der Frau verbunden mit einem zeitlichen Motiv: „Tausende nebeneinander aufgereihte, uralte Frauen nahmen […] Tausende Exemplare der gleichen Zeitung“ (Kehlmann, 2019; S. 124). Zunächst ist hier auf den Begriff der uralten Frau zu verweisen, der in eine nicht mehr näher zu bestimmende Vergangenheit verweist. Dieses aus sich heraus bereits unbezifferbare Alter wird im Spiegel nun tausendfach vervielfältigt und damit seiner Datier- und Eingrenzbarkeit endgültig entzogen. Hinzu kommt die Vervielfältigung der Zeitung, bei der es sich, das verrät der die „Technologiegespräche“ (Kehlmann, 2019; S. 124) ankündigende Artikel, um eine Tageszeitung handelt. Dieses Zeitdokument, das auf einen klar abgrenzbaren Punkt des linearen Zeitstrahls verweist, wird in der Spiegelung vertausendfacht, was die Einmaligkeit seiner Existenz, und damit des Zeitpunkts, auf den es verweist, in Zweifel zieht. Abgeschlossen wird die Szene durch das Verlassen des Gebäudes, das in seiner Architektur abermals auf Doppelungen verweist. So erscheinen Mahler alle Stockwerke gleichaussehend und Marcels Schritte in diesen Stockwerken verursachen einen „dunkel hallenden Klang“ (Kehlmann, 2019; S. 125), der gemeinhin auf Tiefe verweist. Diese Tiefe kann, wird sie vor dem Hintergrund des zuvor Genannten als Tiefe der Zeit gelesen, wiederum zur Doppelung, aus der heraus sie entsteht, in Verbindung gesetzt werden. In diesem Falle erscheint sie als weiterer Hinweis auf Zyklik.

Stärkster Verweis auf eine zyklische Zeit ist indes die abschließende strukturelle Rückkehr an den Beginn der Handlung (Bartsch, 2016; S. 214). Der „merkwürdige[] Traum“ (Kehlmann, 2019; S. 153), von dem die nun intern durch Marcel fokalisierte Erzählinstanz berichtet, ist identisch mit demjenigen Traum, den Mahler seit dem Tod seiner Schwester immer wieder träumt. Hinzu kommt die von Marcel entdeckte zerbrochene Laterne, die wiederum eine Doppelung, die auf den Beginn der Handlung verweist, darstellt (Kehlmann, 2019; S. 160).

Brüche und Heterochronien

Auffällig ist, dass die herausgestellten zyklischen Momente immer wieder mit dezidiert gegenläufigen Momenten in Verbindung gebracht werden. Hinsichtlich des Motivs des ersten Sommers muss etwa festgestellt werden, dass es in Verbindung mit dem „Garten, der nicht aufbewahrt war“ (Kehlmann, 2019; S. 42), den tief summenden Bienen, dem Gras, dem „blauen, ausgebreiteten Handtuch“ (Kehlmann, 2019; S. 42) und dem positiv konnotierten „Geruch von Sonnenöl“ (Kehlmann, 2019; S. 42) unschwer erkennbar den Topos des locus amoenus berührt, der hier jedoch nicht einen Ort der Liebe, sondern vielmehr eine Art vorzeitliche Utopie darstellt, was dem biblischen Garten Eden korrespondiert. Dass der Garten in der Erinnerung „nicht aufbewahrt“ (Kehlmann, 2019; S. 42) ist und dennoch derart detailliert beschrieben wird, unterstreicht dabei in seiner inneren Widersprüchlichkeit den Ort als Nicht-Ort und damit den utopischen, aus der Zeit herausgehobenen Charakter der Szene. Ebenfalls in diese Widersprüchlichkeit des Ortes einzuordnen ist Anna-Marie Humberts Verweis auf die Parallelen des Friedhofs, auf dem der Vater des Protagonisten beerdigt wird, zum beschriebenen Garten: Durch die an beiden Orten prominent auftretenden summenden Bienen wird die „Anti-Idylle“ (Humbert, 2020; S. 185) des Friedhofs in den paradiesischen Garten übertragen. Gleiches gilt für die jahreszeitliche Übereinstimmung. So werden durch die auf die Beerdigung des Vaters bezogene Feststellung „Es war immer noch Sommer“ (Kehlmann, 2019; S. 55) Momente der Zeitlichkeit in die vorzeitliche Utopie des nicht aufbewahrten Gartens als Ort des ersten Sommers eingetragen. Die Befunde hinsichtlich einer zyklischen Zeit aus Abschnitt 3.2 sind damit ambivalent: Die im Gespräch mit Grauwald sich entfaltende Assoziationsreihe greift zwar ins Zyklische aus, weist mit der Andeutung des in seiner Vor- oder Nichtzeitlichkeit aus dieser Reihe herausgehobenen Paradieses jedoch auch damit dezidiert unvereinbare Aspekte auf, womit sie sich als in sich gebrochen präsentiert. Verstärkt wird das durch den beschriebenen Eintrag der Zeitlichkeit in dieses Bruchmoment des Paradieses, das damit auch in sich bereits gebrochen ist. Darüber hinaus wird seitens der durch Mahler fokalisierten Erzählinstanz zeitweise eine gewisse Grundskepsis vermittelt. So verweist der innerhalb der zyklischen Assoziationskette verwendete Begriff des Déjà-vus (Kehlmann, 2019; S. 42) explizit auf eine Fehlerinnerung und somit auf den defizitären Charakter der sich aufdrängenden Gedanken. Sie taugen damit keinesfalls, wie Markus Gasser annimmt, als Belege dafür, dass Mahlers Entdeckungen „kein Irrtum sind“ (Gasser, 2013; S. 53).

Auch der seltsame Junge, der durch sein Wiederauftauchen und seine Prophezeiung mit Zyklik in Zusammenhang gebracht wurde, ist eng verbunden mit heterochronischen Momenten. Auffällig ist etwa, dass er bei seinem ersten Auftreten „schon die ganze Zeit“ (Kehlmann, 2019; S. 49) da war, ohne dass Mahler es bemerkt. Weiterhin heterochronisch ist die genannte Szene durch die vom Faustschlag des Jungen ausgelöste Ohnmacht des Protagonisten. Durch sie wird seinem Erleben eine nicht näher zu bestimmende Zeitspanne entzogen, was einem Zeitsprung gleichkommt. Einen ähnlichen Bruch mit beiden Konzepten der Zeit stellt Mahlers erster Zweifel am physikalischen Konzept der Zeit dar, der nicht etwa auf ein anderes Konzept zielt, sondern Zeit als Konstrukt deutet: „[D]ie Vergangenheit gibt es nicht, sie ist ja vorbei; die Zukunft gibt es nicht, weil sie noch nicht da ist; und die Gegenwart hat doch keine Ausdehnung, oder? Aber etwas, das keine Ausdehnung hat, das gibt es doch auch nicht!“ (Kehlmann, 2019; S. 52). Ähnliches lässt sich für die beiden weiteren im vorherigen Abschnitt im Sinne des Verständnisses zyklischer Zeit gelesenen Abschnitte feststellen. So scheint es Mahler im Rahmen der Vervielfachung der Haushälterin etwa, als „wollte sie den Moment verlängern“ (Kehlmann, 2019; S. 124), was sowohl dem Verständnis der Linearität als auch dem der Zyklik widerspricht. Der Interpretation der Begebenheit als Verweis auf eine zyklische Zeit entgegen stehen ferner weitere Momente des völligen Bruchs mit Raum und Zeit, der dadurch entsteht, dass Marcel nach Mahlers Tod erfährt, dass Valentinov nie eine Haushälterin hatte (Kehlmann, 2019; S. 158). Auch hier steht die Zyklik der Zeit also unvermittelt neben heterochronischen Momenten, die sich weder mit ihr noch mit einem linearen Verständnis vereinbaren lassen. Bezogen auf die abschließende Sterbesequenz interessant ist daneben die enge Verbundenheit von Insektenmotiv und Tod, in welcher sich die aufgezeigten Ambivalenzen der erzählten Welt erneut ausdrücken. So wird die Biene traditionell verstanden als Symbol der Auferstehung (Butzer & Jacob, 2012; S. 51); zugleich sind Insekten, zumal die Fliege, „die sich immer wieder auf Davids Gesicht gesetzt hatte“ (Kehlmann, 2019; S. 154), assoziiert mit Verwesung und Zersetzung des Organischen – Verena Russlies sieht in den im Roman auftretenden Fliegen entsprechend vanitas-Motive (Russlies, 2020; S. 166f.). Der in Mahlers Zeit omnipräsente Tod verbindet sich mit beiden. Hinzu kommt eine Verbindung mit der Libelle, in welcher Joachim Rickes ein „eindeutiges Symbol seiner [d.i. des Protagonisten, L.K.] früh ums Leben gekommenen Schwester“ (Rickes, 2012; S. 45) sieht, was vor der Interpretation des „Mädchen[s] mit Insektenflügeln, das […] Davids Schlaf heimsucht[]“ (Rickes, 2012; S. 45), als Repräsentation ebendieser Schwester plausibel erscheint. Dieser Lesart folgend kann das Auftreten der Libelle als heterochronisches Moment verstanden werden, da es in gewissem Sinne die Chronologie von Leben und Tod irritiert, ohne dabei eine zyklische Zeit zu erzeugen. Ferner trägt es im Kontext der Kontrastierung mit dem Bienen- und Fliegenmotiv weiterhin zur Ambiguität des Textes bei, da es neben Auferstehung und Verwesung eine dritte Perspektive auf Tod und Zeitlichkeit eröffnet.

Insgesamt muss damit letztlich auch bezüglich der Doppelungen und Spiegelungen festgehalten werden, dass diese keineswegs eindeutig auf ein bestimmtes Konzept der Zeit verweisen. So sehr sie teilweise, auch durch ihr „stetiges Wiederauftreten“ (Bartsch, 2016; S. 217), eine Zyklik suggerieren, so stark sind sie mit dezidiert gegenläufigen Momenten wie der Vor- bzw. Nichtzeitlichkeit des Paradieses sowie mit Zeitbrüchen, die das Konzept einer bestimmten Regeln folgenden Zeit allgemein in Zweifel zu ziehen vermögen, verbunden. Zu erwähnen sind hier auch die sich außerhalb ansonsten zyklischer Sequenzen ereignenden Heterochronien. So bleibt die Zeit etwa während des zu Beginn des Romans sich ereignenden Tankwagenunfalls stehen (Kehlmann, 2019; S. 18). Hinzu kommt die Tatsache, dass alle zunächst auf Zyklik hinweisenden Aspekte auch unter der Prämisse einer linearen Zeit durchaus erklärbar sind. Wie bereits bei dieser muss daher eine Grundunsicherheit konstatiert werden, die sich aus der Verquickung des Unvereinbaren heraus entfaltet und die Momente zyklischer Zeit keineswegs als plausibles Faktum der erzählten Welt, sondern vielmehr als eine der vielen teils unvereinbaren Möglichkeiten in einer generell unsicheren Welt präsentiert.

Gebrochener Realismus: Unvermitteltheit und phänomenale Wirklichkeit des Unvereinbaren

Festzuhalten ist bis hierhin vor allem die Scheinbarkeit einfacher Auflösungsversuche. Sowohl die linear voranschreitende als auch die zyklische Zeit, darüber hinaus eine sich in Zeitbrüchen zeigende generelle Distanz von elaborierten Konzepten der Zeit nehmen im Roman Raum ein und werden als plausibel erzählt. Die schlichte Auflösung dieser Widersprüche zugunsten eines der konfligierenden Zeitkonzepte, die damit zugleich eine für die erzählte Welt gültige ontologische Verabsolutierung eines Zeitbegriffs wäre, wird dabei notwendig verhindert durch die interne Fokalisierung der Erzählinstanz (Seiler, 2020; S. 45). Konkret bedeutet das, dass die Rezipient*innen zurückgeworfen sind auf diejenigen Spannungen, die die phänomenale Welt des Protagonisten prägen. J. Alexander Bareis macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass „relativ eindeutig unzuverlässig erzählt oder Unzuverlässigkeit zumindest als Interpretationsansatz angeboten“ (Bareis, 2020; S. 30) wird. Ähnliches stellt Patrick M. McConeghy fest (McConeghy, 2010; S. 46). Vor dem Hintergrund dieser Befunde ist somit weder konstatierbar, dass der Protagonist „bestürzend recht“ (Gasser, 2013; S. 45) hat mit seiner Entdeckung und seinem Verfolgungsglauben, noch, dass sein Erleben „Ausdruck einer psychischen Persönlichkeitsstörung“ (Rickes, 2012; S. 41), freilich ein Pleonasmus, ist. In diesem letzten Kapitel soll daher – nach weiterer Analyse der Unvermitteltheit des Widersprüchlichen – die zentrale, sich aus dem bisherigen Befund ergebende Frage nach dem Status des festgestellten gebrochen-integrierten Erlebens aufgeworfen und vor dem Hintergrund der Konzepte von Magischem Realismus, Surrealismus und Gebrochenem Realismus diskutiert werden.

Unsicherheit als Programm

Die Unvermitteltheit der gegensätzlichen Zeitkonzepte sowie der Brüche mit beiden Gegensätzen entsteht, wie gezeigt werden konnte, aus dem inneren Erleben des Protagonisten heraus. Hinzu kommt eine „kommunikative[] Unmöglichkeit der vier Formeln“ (Jakubanis, 2016; S. 168), die damit der Überprüfbarkeit vor dem Hintergrund der – nicht eindeutigen – Funktionslogik der erzählten Welt grundsätzlich entzogen bleiben müssen. Die den Rezipient*innen präsentierte Welt ist dabei diejenige Mahlers, die eine gebrochene, wesenhaft durch Unstimmigkeiten und Widersprüche geprägte ist (Herrmann, 2012; S. 173). Bestens veranschaulichen lässt sich das an seinem Verhältnis zur Physik. So muss konstatiert werden, dass das Denken des Protagonisten ein zutiefst naturwissenschaftliches ist. Das zeigt sich indes nicht nur in der Sprache der durch diesen fokalisierten Erzählinstanz, sondern auch in den Reaktionen auf existenziell bedeutsames Erleben. Zu verweisen ist hier vor allem auf den Blitzeinschlag, den Mahler und sein Freund Marcel auf der Autobahn erleben. Während Marcel dieses einschneidende Erlebnis als solches behandelt, stellt es für Mahler vorwiegend ein mit den Mitteln der Physik beschreib- und erklärbares Phänomen dar: „‚Ein elektrisches Feld…‘ David musste husten; er rieb sich die Augen. ‚Ein Feld kann nicht eindringen in … einen von einem Leiter umschlossenen Raum. So ist das. Immer‘“ (Kehlmann, 2019; S. 129). Auch das ruinierte Rendez-vous mit Maria Müller lässt sich lesen als Hinweis darauf, dass das physikalisch-naturwissenschaftliche Denken in der Welt des Protagonisten einen zentraleren Stellenwert einnimmt als die Grundphänomene menschlicher Existenz: Auf die nach einem Blick in den Himmel in „singende[m], merkwürdig falsche[m] Ton“ (Kehlmann, 2019; S. 54) getätigte Mutmaßung der Unzählbarkeit der Sterne reagiert Mahler nicht etwa mit einer seinerseitigen Annäherung, sondern mit einer mathematisch präzisen Aussage (Kehlmann, 2019; S. 54). Ähnlich reagiert er auf seinen ersten Herzinfarkt. Den Arzt, der mit seinen ausschweifenden Erklärungen und Beschwichtigungen auf einer primär emotionalen Ebene agiert, lässt er nicht ausreden, da ihm die naturwissenschaftlich-medizinischen Fakten bereits bekannt sind – persönliche Sorgen sind auch hier einem streng naturwissenschaftlichen Denken untergeordnet (Kehlmann, 2019; S. 87).

Dieses physikalisch-naturwissenschaftliche Denken wird mit Mahlers Anliegen, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und damit die Linearität der Veränderung zu widerlegen, gebrochen. Ausdruck findet dieser neuerliche Widerspruch wiederum in der unvermittelten Gegenüberstellung der sich ausschließenden Extreme. Diese zeigen sich im Detail etwa darin, dass Mahlers Herz ihm in der Kur nach dem Arztbesuch nicht mehr als bloßer Gegenstand naturwissenschaftlicher Betrachtung erscheint, sondern als „unberechenbare[r] Gegner[]“ (Kehlmann, 2019; S. 88), oder darin, dass er davon überzeugt ist, in seinen Entdeckungen „Fehler eines zerstreuten Planers“ (Kehlmann, 2019; S. 25) gefunden zu haben. Besonders auffällig ist dabei, dass der Roman keine strukturelle Zweiteilung, die mit einer Verschiebung des Denkens in eine stärker und eine weniger stark naturwissenschaftliche Denkweise verbunden wäre, aufweist. Mahlers Denken und seine Weltwahrnehmung oszillieren vielmehr unvorhersehbar zwischen beiden Polen. Seine rein physikalische Erklärung des Blitzeinschlags auf dem Weg zu Valentinov, der ihm zur Publikation seiner Arbeit verhelfen soll, etwa bricht mit der Vorstellung der „Wächter“ (Kehlmann, 2019; S. 93), die Mahler zuvor für auf seinem Weg auftretende Hindernisse verantwortlich macht. Die beiden Denkwelten des Physikalischen und des Magischen erscheinen also als gleichermaßen präsent; die eine ersetzt nicht die andere, sondern ergänzt sie vielmehr. Die in den vorhergehenden Kapiteln aufgezeigte Unklarheit bezüglich der wirksam werdenden Zeitkonzepte lässt sich in diese Befunde einreihen. Zu verweisen ist bezüglich der ausgemachten Widersprüchlichkeit des Welterlebens Mahlers auch auf seine Physikvorlesung, in der er zu metaphysischer Spekulation ausholt:

Beides scheint sich auszuschließen, beides existiert nebeneinander. Normalerweise gehen wir davon aus, daß diese Perspektiven vereinbar sein müssen, unter einer dritten, höheren Perspektive, die wir noch nicht kennen. Das […] wäre schön! Aber was, so das Valentinov-Paradoxon, wenn es nicht so ist? (Kehlmann, 2019; S. 97)

Diese Spekulation wiederum kann als Kernfrage des Textes ausgemacht werden. Die unvereinbaren, gleichwohl verbundenen Zeitkonzepte, die zentraler Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, führen letztlich zu ebenjener Frage, die der Protagonist aufwirft. Sie zeigt sich indes nicht nur auf der Handlungs- und der Metaebene, sondern auch als ästhetisches Programm des Textes. Dieser verweigert die Auflösung „unter einer dritten, höheren Perspektive“ (Kehlmann, 2019; S. 97) konsequent, was sich vor allem darin zeigt, dass die immer wieder aufgeworfene Frage nach dem Status der Entdeckung und des Erlebens des Protagonisten in der erzählten Welt bis zuletzt unbeantwortet bleibt. An einer Stelle wird dem Protagonisten die Dringlichkeit dieser unbeantworteten Kernfrage bewusst: Nach einem Besuch seiner Freundin Katja schläft er ein und stellt nach dem Aufwachen fest, dass die Wohnung sich gegenüber dem Zeitpunkt des Treffens mit Katja verändert hat (Kehlmann, 2019; S. 114). Auch hier bleibt die eindeutige Antwort – war das Treffen geträumt oder real? – jedoch aus, da Katja das im Anschluss an die aufkommenden Zweifel begonnene Telefongespräch schnell wieder beendet (Kehlmann, 2019; S. 114). Auch an anderer Stelle wird die Frage thematisch. Im Gespräch mit Professor Grauwald etwa beschreibt der Protagonist zunächst seine Beobachtung, dass die Zeit bei genauerer Betrachtung „durchsichtig zu werden“ (Kehlmann, 2019; S. 67) scheint. Dann setzt er zu einer Erklärung an, in der er lineare ebenso wie zyklische Elemente der Zeit benennt, um anschließend seine Entdeckung als dritte Perspektive, die für die Auflösung sorgen könnte, zu präsentieren. So beschreibt er, dass ausschließlich „die Bewegung von Gestirnen“ oder „eine Folge von Tönen“ und das „rhythmische Aufblitzen der Sonne“ (Kehlmann, 2019; S. 67) – allesamt Momente des Zyklischen – bei näherer Betrachtung von der Zeit übrigbleiben, kontrastiert diese Erfahrung jedoch durch weitere Elemente der Aufzählung: Auch „der Wandel von Dingen […] oder das Vorbeiziehen von Häusern und Bäumen am Zugfenster“ (Kehlmann, 2019; S. 67), Momente, die eine lineare Bewegung beschreiben, bleiben als Zeitphänomene übrig. Dieser Kontrastierung versucht Mahler nun mit seiner (scheinbaren) Entdeckung zu begegnen: „[W]enn aber dies verändert werden kann; wenn es Formeln gibt, deren Anwendung einen Riß in die Unausweichlichkeit schlägt …“ (Kehlmann, 2019; S. 67). Diese Textstelle illustriert damit exemplarisch die ständigen gegenseitigen Suspensionsbewegungen der unterschiedlichen Zeitkonzepte und der generellen Zeitskepsis sowie den Drang nach Auflösung unter einer weiteren Perspektive, die der Text jedoch verweigert.

Auf der Handlungsebene zeigt sich damit das epistemische Problem der Nicht-Transzendierbarkeit der phänomenalen Welt. Mahler ist das hinter seinem Erleben Stehende nicht zugänglich – als Mensch, dessen Weltzugang in seinem Sinnesapparat und dem mit den Sinneseindrücken arbeitenden Verstand liegt, bleibt er notwendig zurückgeworfen auf den Bereich des ihm sinnlich Zugänglichen. Er kann, mit David Hume gesprochen, nicht wissen, ob seinen Wahrnehmungen Korrelate in einer objektiven Realität entsprechen (Hume, 2007; S. 45ff). Ähnliches stellt Leonhard Herrmann fest, der Kehlmanns Werke als vernunftkritisch einordnet und ausmacht, dass sie „verschiedene Realitäts- und Rationalitätsmodelle kontrastieren, deren jeweilige Gültigkeit für die fiktive Realität unentscheidbar bleibt“ (Herrmann, 2017; S. 88). Die von Herrmann ausgemachte Vernunftkritik ist damit, wird sie ausschließlich auf Mahlers Zeit bezogen, vor allem präsent in der Form einer generellen Erkenntniskritik, die sich aus dem subjektiven Welterleben des Menschen ergibt. Es bleibt folglich „möglich (jedoch nicht nötig)“ (Herrmann, 2017; S. 99), dass Mahlers Entdeckung kongruent ist mit den Fakten der erzählten Welt. Im gleichen Schwebezustand verbleiben die mit den aus der aktualen Welt der Rezipient*innen stammenden Erwartungen brechenden Erlebnisse des Protagonisten. Interessant ist hierbei, dass zwar die Physik der erzählten Welt nicht mit der der aktualen Welt vereinbar ist (Herrmann, 2017; S. 101), wesentliche Erwartungen an ein durchschnittliches Erleben jedoch geteilt werden, was sich etwa in Marcels und Katjas Reaktionen auf Mahlers Verhalten zeigt. Dieses Faktum wiederum trägt zur Stabilisierung der textuell vermittelten Unsicherheit bei: Durch die Differenzen der beiden Physiken wird die Korrektheit der Entdeckung des Protagonisten plausibilisiert bzw. zumindest in den Rang des Denkbaren erhoben; durch die den in der aktualen Welt erwartbaren gleichenden Reaktionen der Freund*innen und Kolleg*innen wird diese Plausibilität jedoch wiederum negiert.

Funktionen der Momente der Verunsicherung

Literarästhetisch lässt sich diese beständige Stabilisierung der Unsicherheit über den Status des Erzählten als Absage des Textes an das Konzept des Magischen Realismus wie auch an dasjenige des Surrealismus verstehen. Wie Maggie Ann Bowers herausarbeitet, besteht der zentrale Unterschied zwischen Magischem Realismus und Surrealismus darin, dass der Magische Realismus das Andere als ein Faktum der erzählten Welt präsentiert, während der Surrealismus es in Träumen, Imaginationen etc. gerade vom Rest des Erzählten abscheidet (Bowes, 2004; S. 22). In magisch-realistischen Texten ist das Andere folglich als real, in einer „matter-of-fact manner“ (Bowes, 2004; S. 25), präsent und „vollkommen natürlich in die Wirklichkeit“ (Rickes, 2012; S. 73), deren gewöhnlicher Teil es in der erzählten Welt ist, integriert. In surrealistischen Texten hingegen wird es als dem Realen nebengeordnet präsentiert. In Mahlers Zeit ist beides nicht der Fall. Der Text oszilliert vielmehr zwischen beiden Betrachtungsweisen der ständig präsenten Abweichung vom aus der Perspektive der außerliterarisch-aktualen Welt Erwartbaren. Er operiert in einem Schwebezustand: Die Fragwürdigkeit des Anderen im Konventionellen lässt sich gerade nicht auflösen. Sie ist das zentrale Faktum des Textes – nicht die vollständige Integration des Magischen in den Bereich des Konventionellen wie im Magischen Realismus und nicht das Aufeinanderprallen zweier letztlich getrennter Welten wie im Surrealismus, was eine dritte Begrifflichkeit als notwendig erscheinen lässt. Vorgeschlagen wurde diesbezüglich sowohl von Kehlmann selbst als auch von der literaturwissenschaftlichen Forschung der Begriff des Gebrochenen Realismus, der die narrative Erzeugung der Unentscheidbarkeit fokussiert: „Ich fand Literatur immer am faszinierendsten, wenn sie nicht die Regeln der Syntax bricht, sondern die der Wirklichkeit“ (Kehlmann, 2016; S. 15). Mit diesem Brechen der Regeln der Wirklichkeit versagt der Gebrochene Realismus sowohl die eindeutige Integration als auch die eindeutige Exklusion des Anderen und macht damit den Zweifel, das Fragwürdige, die Unsicherheit zu seinem Programm. Im Vordergrund steht damit das „Verschwimmen der Grenzen zwischen einer Tages- und Nachtrealität“ (Zeyringer, 2008; S. 36). Pause stellt entsprechend fest, der Roman zeige „die Wirklichkeit zuletzt als ‚unsicheren Ort‘“ (Pause, 2012; S. 261). Erfüllt ist damit indes auch die Definition der Fantastik nach Todorov, die an folgender Bruchstelle ansetzt:

In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die, die wir kennen, einer Welt ohne Teufel, Sylphiden oder Vampire, geschieht ein Ereignis, das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt. Der, der das Ereignis wahrnimmt, muß sich für eine der zwei möglichen Lösungen entscheiden: entweder handelt es sich um eine Sinnestäuschung, ein Produkt der Einbildungskraft, und die Gesetze der Welt bleiben, was sie sind, oder das Ereignis hat wirklich stattgefunden, ist integrierender Bestandteil der Realität. Dann aber wird diese Realität von Gesetzen beherrscht, die uns unbekannt sind. Entweder der Teufel ist eine Täuschung, ein imaginäres Wesen, oder aber er existiert wirklich, genau wie die anderen Lebewesen—nur daß man ihm selten begegnet. (Todorov, 2018; S. 34.)

Fantastik liegt Todorov zufolge exakt dann vor, wenn diese Entscheidung nicht sicher getroffen werden kann, der ontologische Status also in der Schwebe verbleibt. Hierbei bezieht er sich sowohl auf den Eindruck der Lesenden als auch auf den der Figuren. Michael Navratil formuliert diese Definition insofern für die Literaturwissenschaft produktiv um, als er expliziert, dass das ein Fraglichwerden des „Realitätsstatus der erzählten Welt oder einzelner ihrer Teile für die Figuren dieser Welt und/oder den Leser“ (Navratil, 2014; S. 40) bedeutet, wenngleich diese Reformulierung einen markanten Bruch mit Todorovs Definition darstellt, der keineswegs „und/oder“ (Navratil, 2014; S. 40), sondern ein dezidiertes „beim Leser und beim Helden [meine Hervorhebung, L.K.]“ (Todorov, 2018; S. 43) anführt. Dieser Befund wirft insgesamt die Frage auf, inwieweit der Begriff des Gebrochenen Realismus zur Bezeichnung des festgestellten Phänomens dem älteren der Fantastik überlegen ist. Verwiesen werden kann zur Beantwortung dieser Frage zunächst auf die von Stephan Michael Schröder herausgearbeiteten grundlegenden Probleme der Leser*innenkonzpetion Todorovs: Schröder zufolge stellt Todorov trotz seiner Rede vom „implizierten Leser[]“ (Todorov, 2018; S. 42) in seiner Definition zentral auf faktische Lesende ab (Schröder, 1994; S. 85f.). Diese jedoch unterscheiden sich in ihrem Rezeptionsverhalten derart voneinander, dass das Festmachen des Vorliegens von Fantastik an ihrer Reaktion hochgradig zweifelhaft ist.Footnote 2 Der Begriff des Gebrochenen Realismus weist derartige Probleme aufgrund seiner streng textimmanenten Ausrichtung nicht auf. Darüber hinaus lässt sich mit Blick auf Mahlers Zeit feststellen, dass den Elementen des Fantastischen strukturell eine klar abgrenzbare Funktion zukommt: Sie sind „Instrument[e] der Verunsicherung“ (Navratil, 2014; S. 56), die das „aufgeklärt-wissenschaftliche[] Weltbild[]“ (Navratil, 2014; S. 56), das in seiner positivistischen Grundorientierung die Zugänglichkeit der als objektiv verstandenen Realität voraussetzt, massiv infrage stellen. Bezüge können an dieser Stelle indes nicht nur zu Mahlers Zeit, sondern auch etwa zu Beerholms Vorstellung oder zu Ruhm hergestellt werden, in denen die Frage nach Abgrenzung ebenfalls thematisch wird und dabei aufgrund fantastischer Elemente in der Sphäre des Unbeantwortbaren verbleibt – Juliane Tranacher sieht hierin folgerichtig das zentrale Thema des literarischen Werks Kehlmanns (Tranacher, 2018; S. 279). In Ruhm zeigt sich dabei zentral, dass mit der Unmöglichkeit der Einordnung auch die Frage nach der Grenze zwischen Faktischem und Fiktivem unbeantwortbar bleiben muss. Diese für das Selbstverständnis des Literarischen zentrale Frage kann indirekt indes auch Mahlers Zeit entnommen werden, sind Träume, Halluzinationen, Wahn und Erinnerungen in erster Linie doch ebenfalls Erzählungen. Mit der aufgezeigten Unmöglichkeit der Abgrenzung dieser Aspekte menschlichen Seins von einer als objektiv verstandenen Realität ist damit auch die Frage nach den Grenzen sowie dem Status des Erzählens und der in diesem Akt hervorgebrachten Zeugnisse selbst verbunden. Das Konzept des Gebrochenen Realismus darf also nicht als rein poetologisches Programm verstanden werden, sondern ist vor allem zu sehen in seinen Bezügen zu Grundfragen menschlichen In-der-Welt-Seins: Über die ausgemachten epistemischen Grenzfragen gewinnt es an anthropologisch-existenzieller Schlagkraft. Theoretisch begründen lässt sich eine solche Verbindung etwa mit der Feststellung, dass „der S[keptizismus] […] anthropologisch die Unbestimmtheit des Menschen aufdeckt“ (Eisele, 2007; Sp. 932): Aus der unbeantwortbaren Frage nach dem Wesen der Dinge erwächst die Unmöglichkeit, den Menschen sowie seine Situation in der Welt objektiv zu bestimmen – was diesen als Gattungswesen wie als Individuum vor Probleme stellt. Philosophiegeschichtlich findet sich eine solche Perspektive besonders prominent bereits in der Pyrrhonischen Skepsis: „Erkenntnistheorie und Lebenspraxis sind dort miteinander verwoben“ (Victor, 2021; S. 49). Roman Eisele macht ganz in diesem Sinne ein „anthropologische[s] Erbe“ (Eisele, 2007; Sp. 940) des Skeptizismus aus, das etwa bei Nietzsche oder Albert Camus verhandelt wird. Im analysierten Roman zeigt sich diese Verbindung epistemischer und anthropologisch-existenzieller Fragen deutlich. So gerät das Leben des Protagonisten gerade durch die Unbeantwortbarkeit einer epistemischen Frage aus den Fugen, was zugleich eine Klärung seiner Position in der erzählten Welt verunmöglicht – und damit erst zu den zentralen Problemen, die der Roman erzählt, führt. In diesem Sinne verhandelt Mahlers Zeit ideengeschichtlich prominente Fragen der Epistemologie wie der Anthropologie, was in einer sowohl Plot- als auch Metaebene umfassenden Form nur durch die literarische Verfahrensweise des Gebrochenen Realismus möglich ist. Bareis spricht diesbezüglich mit Blick auf Kehlmanns Gesamtwerk treffend nicht nur von einer „Darstellung philosophischer Gedankengänge anhand literarischer Motive und Erzählverfahren“ (Bareis, 2020; S. 24f.), sondern auch von einer „Fiktionsepistemologie“ (Bareis, 2020; S. 30). Herausgestellt ist damit, dass es sich beim benannten Konzept um weit mehr handelt als um ein „Strukturmoment eines International Style populärrealistischen Erzählens“ (Baßler, 2013; S. 39), das darauf zielt, „den Durchschnittsleser bei der Stange“ (Baßler, 2013; S. 39) zu halten und dabei „noch tiefere Literarizität und damit Teilhabe an einer gehobenen Kultur suggeriert“ (Baßler, 2013; S. 39). Eine solche polemische Lesart rekurriert nicht nur auf die in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung überholte Unterscheidung von Trivial- und Hochliteratur, sondern übersieht auch die aufgezeigten existenziellen Dimensionen des fraglichen Erzählverfahrens, das sich damit keineswegs auf den genuin literarischen Bereich oder den der „marktorientierten Kulturindustrie“ (Baßler, 2013; S. 39) beschränken lässt. Die Verhandlung dieses Gebrochenseins der Wirklichkeit an der Frage nach der Zeit ist dabei – das zeigen etwa Kehlmanns andere Romane und Erzählungen – eine exemplarische. Zurückführen lässt sich diese konkrete Frage auf die Frage nach der Struktur der Wirklichkeit selbst: Die in verschiedenen Konkreta verhandelte abstrakte Frage, die im Gebrochensein, das sie erst aufwirft, zugleich als unbeantwortbar markiert wird, ist die danach, was eigentlich wahr ist (Bareis, 2020; S. 30). Gefragt ist mit dem Brechen von Wirklichkeit, das in den verschiedenen Werken in verschiedenen Formen illustriert wird, danach, wodurch diese sich strukturell auszeichnet. Darin kann ein Kernmerkmal des Gebrochenen Realismus ausgemacht werden, das die Anwendung dieses Begriffs auf den untersuchten wie die weiteren genannten Texte der reinen Kategorisierung als fantastisch überlegen erscheinen lässt: Die bisher als gebrochen-realistisch bezeichneten Texte lassen sich allesamt als Untersuchungen der Frage nach dem Wirklichen und damit als epistemologisch, anthropologisch und existenziell relevant verstehen. Leonhard Herrmanns gegenteilige These, der Text sei keinesfalls „als mimetische[r] Verweis[] auf entsprechende Phänomene in der außerliterarischen Welt lesbar“ (Herrmann, 2012; S. 180) und träfe keine „Aussage über die [außerliterarische] Realität“ (Herrmann, 2012; S. 180) erscheint vor dem Hintergrund der Befunde hingegen unplausibel. Über die genannten Aspekte hinaus lassen auch der realistische Erzählstil, die trotz einiger Abweichungen gegebene grundsätzliche Ähnlichkeit zur außerliterarisch-aktualen Welt sowie das durch intertextuelle Verweise auf physikalische und epistemische Fragen aufgerufene Diskursnetz (Kittler, 2007; S. 24) eine Einordnung der in Mahlers Zeit verhandelten Frage außerhalb des genuin literarischen Bereichs plausibel erscheinen. Mahlers Zeit eignet sich zur Untermauerung dieser auf den Gebrochenen Realismus im Allgemeinen bezogenen These notabene besonders gut: Mit der Frage nach der Zeit ist ein Grundmoment der phänomenalen Wirklichkeit berührt, dessen ontologische Unklärbarkeit auch außerliterarisch einsichtig erscheint – das zeigt bereits die Vielzahl konkurrierender Zeitkonzeptionen. Für die fantastische Literatur im Sinne Todorovs gilt die ausgemachte epistemische, anthropologische und existenzielle Relevanz hingegen nicht zwingend (Schnaas, 2004; S. 23–26), sodass hierin ein kategorialer Unterschied zwischen den beiden Konzepten ausgemacht werden kann. Es ist also zwar korrekt, dass die „anhaltende Unschlüssigkeit, was die adäquate Lesart im Hinblick auf die ontologische Beschaffenheit der erzählten Welt sein mag“ (Bartsch, 2016; S. 212), Mahlers Zeit „als ‚fantastischen‘ Roman“ (Bartsch, 2016; S. 212) ausweist; damit jedoch ist der wesentliche Aspekt der Funktion der fantastischen Elemente nicht berührt. Die Anwendung der Kategorie des Gebrochenen Realismus als besonderer Form des Fantastischen im Sinne Todorovs erscheint damit sinnvoll. In diesem Sinne verstanden lässt der Begriff des Gebrochenen Realismus sich indes problemlos auch auf „Phänomene wie das Auftauchen veritabler Geister und Seeungeheuer“ (Navratil, 2014; S. 40) beziehen, insoweit die textuell vermittelte Unsicherheit durch diese nicht destabilisiert wird.

Fazit

Abschließend lässt sich damit festhalten, dass in Mahlers Zeit zwei konkurrierende Konzeptionen von Zeit konfligieren, ohne dass eine Auflösung dieses Konfliktverhältnisses möglich wäre. Im Vordergrund des Romans steht vielmehr das Mit- und Nebeneinander unvereinbarer Elemente, das in sich eine grundsätzliche Absage an absolute Antworten und Aussagen birgt: Der ontologische Status des Erlebens des Protagonisten in der erzählten Welt ist nicht zu klären.

Ein derartiges Schwebeverhältnis lässt sich als konstitutiv nicht nur für Mahlers Zeit, sondern für das gesamte Werk Kehlmanns verstehen, das immer wieder die Frage nach Grenzen und nach Wirklichkeit aufwirft. Literaturtheoretisch und ästhetisch ist damit der sog. Gebrochene Realismus begründet, der sich gerade durch sein beständiges Operieren im Modus des Unklaren, durch die nicht zu beantwortende Frage nach dem Status des Anderen, sowohl vom Magischen Realismus als auch vom Surrealismus abgrenzt. Gebrochen-realistische Texte sind damit solche, in denen fantastische Elemente, deren Vorhandensein rein textstrukturell erfasst wird, die spezifische Funktion der Verunsicherung von Wirklichkeit erfüllen.