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Wahrheit als methodisches Problem der phänomenologischen Deskription

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Die an sich erste Erkenntniskritik, in der alle andere wurzelt, ist die transzendentale Selbstkritik der phänomenologischen Erkenntnis selbst.

Edmund Husserl (Hua XVII, 295).

Abstract

Als Erkenntnistheorie der phänomenologischen Erkenntnis versteht sich die folgende Untersuchung als ein zentrales Stück der von Husserl geforderten Selbstkritik der phänomenologischen Erkenntnis. Ausgehend vom normalsprachlichen Wahrheitsbegriff und dessen Explikation soll die prinzipielle Möglichkeit wahrer phänomenologischer Beschreibungen durch Rückgang auf das Phänomen der Wahrheit ausgewiesen werden. Im Anschluss an Husserls Analysen der vorprädikativen Erfahrung wird die explizierende Betrachtung (in Abgrenzung zum prädikativen Urteil) als die eigentlich erkennende, nämlich die kategorialen Strukturen der Phänomene erfassende und offenlegende Leistung exponiert, die einerseits anschaulich begründete prädikative Urteile allererst ermöglicht und andererseits diese bewahrheitet. Die vorprädikative Erfassung liegt dabei auch der kategorialen Anschauung als einer bereits prädikativen Leistung konstitutiv zugrunde.

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Notes

  1. Dieser Text stellt die überarbeitete Fassung eines Vortrags dar, den ich auf der Internationalen Tagung der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung (30.09. bis 03.10.2009) in Würzburg gehalten habe.

  2. Zur Unterscheidung von Sach- und Satzwahrheit vgl. auch Heidegger (GA 9). 178 ff.

  3. In lebensweltlichen Zusammenhängen stellt sich die Sache oft so dar, dass etwas als etwas erscheint, z.B. als Gold, als Freundschaft. Diese Erkenntnis kann richtig oder falsch sein (gnoseologische Wahrheit). Im weiteren Verlauf gibt es nun mindestens zwei Möglichkeiten: (A) Die Sache entpuppt sich als Schein, d.h.: wir haben eine Erkenntnis des Scheins, die wiederum richtig oder falsch sein kann (gnoseologische Wahrheit). Diese Erkenntnis ist Erkenntnis einer ontischen Unwahrheit: Es ist kein echtes Gold. Die Sache ist nicht so, wie wir zuerst glaubten. (B) Nach einem Zweifel oder einer vermeintlichen Erkenntnis des Scheins, die selbst als Täuschung erkannt wurde, bewährt sich die Sache als wahre. Dass die Sache echt ist (ontische Wahrheit), setzt voraus, dass sie als echt erkannt wurde (gnoseologische Wahrheit). Die Erkenntnis von etwas als etwas ist der gedankliche Maßstab, um etwas im Nachhinein als ontisch unwahr zu bewerten. Die ontische Qualifikation einer Sache als wahr/unwahr setzt dabei zumindest einen gewissen Zweifel über deren wahres Sein voraus. Abgelöst von der gnoseologischen Wahrheit kann auch nicht mehr von ontischer Wahrheit gesprochen werden, es sei denn in einem onto-theologischen Sinne. Die Scheinbarkeit eines Gegenstandes ist Voraussetzung dafür, überhaupt sinnvoll von ontischer Wahrheit/Unwahrheit sprechen zu können. (Scheinbarkeit meint hier: echtes Gold erscheint anfänglich oder plötzlich als unechtes, unechtes Gold als echtes.) Die ontische und die gnoseologische Wahrheit haben dies gemein, dass sie beide ein Stimmen bzw. Übereinstimmen meinen: einmal das Übereinstimmen der Sache mit unserer Vorstellung von ihr, zum anderen das Übereinstimmen des Urteils mit der Sache (bzw. dem Sachverhalt).

  4. Selbst der Satz: ,Dies ist ein Satz‘ ist nur dann wahr, wenn es sich tatsächlich um einen Satz handelt. Der Satz bezieht sich zwar auf sich selbst, aber es handelt sich hier immer noch um einen Bezug.

  5. Vgl. VI. Logische Untersuchung (Hua XIX/2, 652) und Formale und transzendentale Logik (Hua XVII, 133).

  6. Das impliziert aber zugleich, dass außerhalb der Wahrheitsrelation nicht von wahren Dingen gesprochen werden kann. Dies gilt für die ontische wie für die gnoseologische Wahrheit gleichermaßen.

  7. Vgl. Müller (1999): „Sofern Setzungen (= Stellungnahmen) den Charakter der Prätention haben, Prätentionen aber wesensmäßig rechtmäßige oder unrechtmäßige sind, verweisen sie ihrem Sinne nach auf mögliche Bewährung, d.h. auf Ausweisbarkeit ihres Rechts. Eine Thesis ist so in doppelter Weise auf Wahrheit ausgerichtet: erstens ,prätendiert‘ sie ihre Wahrheit immer schon, und zweitens ist sie, um rechtmäßig zu sein, der Ausweisung ihrer Wahrheit bedürftig […].“ (41).

  8. Zur Auslegung dieses Prinzips sowie zur Anschauung als Rechtsquelle vgl. Streubel (2008), 12 ff.

  9. Freilich handelt es sich hier um eine der ältesten Grundeinsichten überhaupt; man denke etwa an Platons und Aristoteles’ Ideen- und Erkenntnislehren. Bei Thomas von Aquin heißt es: „Der theoretische Verstand […] ist, weil er von den Dingen empfängt, in gewisser Weise von den Dingen bewegt, und so bilden die Dinge sein Maß.“ (De veritate, Quaestio I, Art 2.)

  10. Thomas von Aquin: De veritate, Quaestio I, Art 1. Eine präzisere Definition wäre wohl folgende: Wahrheit ist die Übereinstimmung zwischen Aussagegehalt und ,an sich‘ bestehender Sachlage (s.u.).

  11. Vgl. Hua XIX/2: „Die kategorialen Akte dachten wir uns in den bisherigen Betrachtungen von allem signifikativen Beiwerk frei, also vollzogen, aber keinerlei Akte der Erkennung und Nennung fundierend.“

  12. Zu Husserls Konzept der kategorialen Anschauung vgl. Lohmar (2008). Zu Husserls Wahrheitskonzeption: Tugendhat (1967), Bernet (2003) und Bernet (2008).

  13. Vgl. auch Hua XIX/2, 675: „In solchen fundierten Akten liegt das Kategoriale des Anschauens und Erkennens, in ihnen findet das aussagende Denken, wo es als Ausdruck fungiert, seine Erfüllung: die Möglichkeit vollkommener Anmessung an solche Akte bestimmt die Wahrheit der Aussage als ihre Richtigkeit.“

  14. Humboldt: Werke III, 434.

  15. Hierin drückt sich ein wesentlicher Aspekt der ,kopernikanischen Wende der Metaphysik‘ aus: Traditionell muss sich das Urteil (bzw. der Intellekt) nach den Dingen richten, um wahr zu sein. Aufgrund von Kants Revolution der Denkungsart richten sich die Objekte in Wahrheit nach dem Verstand, da dieser allererst Objekte (nicht aber die Erscheinungen!) konstituiert. Inwiefern und inwieweit die Empirie nach Kant zur Bewahrheitung empirischer Urteile beiträgt, kann hier nicht weiter verfolgt werden.

  16. Vgl. z.B. Hua XIX/2, 675: Die kategorialen Akte konstituieren „neue Objektivitäten“. […] Es handelt sich hier um eine Sphäre von Objektivitäten, die nur in derart fundierten Akten ,selbst‘ zur Erscheinung kommen können.“– Die Frage, die es im Folgenden zu beantworten gilt, ist, was hier „zur Erscheinung kommen“ bedeutet. In Erfahrung und Urteil heißt es gar bezüglich der Prädikation, dass sie eine „die Gegenstände selbst erst erzeugende Spontaneität“ sei (233). Zwei Seiten weiter heißt es allerdings über die Erkenntnis: „[N]icht Erzeugung von Gegenständen ist ihr Ziel, sondern eine Erzeugung der Erkenntnis von einem selbstgegebenen Gegenstand, also seiner Selbsthabe als eines dauernd wieder Identifizierbaren.“ (235).

  17. Vgl. EU, 23.

  18. Vgl. EU, 277: „[E]in Gegenstand kann auf Grund dieser betrachtenden Leistung schon allseitig und in größtmöglicher Anschauungsfülle in den Blick gebracht worden sein, ohne dass auch nur ein einziger Schritt prädikativer Erfassung […] erfolgt sein muss.“

  19. In Erfahrung und Urteil heißt es in Bezug auf die phänomenologische Beschreibung der Explikation, dass es darum gehe, den „Prozess derjenigen ,Evidenz‘ aufzuweisen, in dem ursprünglich so etwas erschaut wird wie ,Substratgegenstandals solcher, und als solcher von so etwas wie ,Bestimmungen‘. Wir stehen damit an der Ursprungsstelle der ersten der sogenannten ,logischen Kategorien‘. Im eigentlichen Sinn kann von logischen Kategorien freilich erst in der Sphäre des prädikativen Urteils die Rede sein als von Bestimmungsstücken, die zur Form möglicher prädikativer Urteile notwendig gehören. Aber alle dort auftretenden Kategorien und kategorialen Formen bauen sich auf die vorprädikativen Synthesen und haben in ihnen ihren Ursprung.“ (127; letzte Herv. T.S.).

  20. Die Funktion des präprädikativen Urteilens kann nicht (wie dies Heidegger in Sein und Zeit suggeriert) durch die vorprädikative Praxis substituiert werden. Auch wenn man den Primat des Praktischen anerkennt, so kann man dennoch nicht den Wahrheitsbezug auf den umsichtig-hantierenden Umgang mit „Zeug“ sowie auf die vorgängige Erschlossenheit einer Bewandtnisganzheit ausweiten. Nicht jedes „Entdecken“ von Seiendem ist nämlich ein ,Wahrheitsgeschehen‘. Der richtige oder falsche Umgang mit Zeug ist etwas völlig anderes als beispielsweise die richtige oder falsche theoretisch-philosophische Bestimmung des Seins von Zeug als „Zuhandenheit“ durch Heidegger. Sowohl im praktischen Umgang wie im theoretischen Erkennen wird zwar in gewisser Weise das Sein des Zuhandenen ,erschlossen‘. Aber das Hämmern mit dem Hammer ist nicht wahr oder unwahr, sondern höchsten angemessen, geschickt bzw. unangemessen, ungeschickt. Zum Begriff der Wahrheit gehört nicht nur, dass Seiendes irgendwie erfasst („entdeckt“) wird, sondern dass es erkennend erfasst und so erfasst wird, wie es selbst ist! Deshalb kann Heideggers Welt- und Zeuganalyse wahr oder falsch sein, nicht aber der von ihm beschriebene Phänomenbereich der Praxis bzw. des In-der-Welt-seins überhaupt (sieht man einmal von den vorwissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen ab). Denn dieser ist so, wie er ist. Die erkennende Erfassung von etwas als etwas ist gerade auch in aletheiologischer Hinsicht etwas völlig anderes als der praktische Umgang mit etwas. So kann man auch Worte falsch verwenden, ohne sie deshalb unwahr zu verwenden (während gleichwohl das mit ihnen Gemeinte wahr oder unwahr sein kann). Tugendhat (1967) hat plausibel nachgewiesen, dass von Heidegger die spezifische Wahrheitsfrage, bei der es um Richtigkeit, Maß und Begründung bzw. Ausweisung geht, gar nicht eigens behandelt wird: „[W]eil für Heidegger das Wesentliche der Wahrheit nicht darin liegt, wie sie erschließt, sondern dass sie überhaupt erschließt, kann er sie […] ohne weitere Begründung auf alle Erschlossenheit von innerweltlichem Seienden übertragen. Ist man aber erst einmal so weit gegangen, dann besteht kein Grund, warum man nicht jede Weise von Erschlossenheit als einen Wahrheitsbezug verstehen soll, und so ist es nur konsequent, wenn […] der Wahrheitsbegriff auf alle Erschlossenheit überhaupt erweitert und die Lichtung des ,Da‘ als ,das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit‘ verstanden wird. Sie ist es in der Tat, wenn man den Wahrheitsbegriff mit dem der Erschlossenheit einfach gleichsetzt. Damit ist dann aber der Wahrheitsbegriff nicht erweitert, sondern gar nicht festgehalten.“ (350).

  21. Zur detaillierten Beschreibung des Übergangs von der Explikation zur Prädikation vgl. EU, 242 ff.

  22. Mit dieser Bestimmung der Explikation versuchen wir den bei Husserl vordergründig bestehenden Gegensatz auszuräumen, der darin besteht, dass einerseits das prädikative Urteil seinen Ursprung aus vorprädikativen Leistungen und andererseits in prädikativ urteilenden Verstandesleistungen haben soll. Die Prädikation setzt nicht einfach nur ein neues Stockwerk auf das vorprädikative, sondern entfaltet zugleich dessen Gehalte. Nur so kann die Ansetzung eines doppelten Ursprungs der “Verstandesgegenständlichkeiten” angemessen begriffen werden. Die Rede von einem ,doppelten Ursprung‘ bezieht sich also zum einen auf die jeweils präprädikativ erfasste Sachlage, die im prädikativen Urteil als bestehender Sachverhalt ausgesagt wird, zum anderen auf das prädikative Leisten selbst als kognitive Leistung (das prädikative Urteilen).

  23. Dass dabei de facto Substrat und Bestimmungen bereits begrifflich erfasst werden oder dass zumindest das begriffliche Bewusstsein „dispositionell erregt“ ist, sei hier nur angemerkt. Vgl. EU: „Der Gegenstand steht von vornherein in einem Charakter der Vertrautheit da; er ist als Gegenstand eines bereits irgendwie bekannten, mehr oder weniger vage bestimmten Typus erfasst. Dadurch ist die Richtung der Erwartungen hinsichtlich dessen, was sich bei näherer Betrachtung an ihm als Eigenheit ergeben wird, vorgezeichnet.“ (125).

  24. Es soll hier freilich nicht behauptet werden, dass allen logischen Formen ontologische entsprechen. So drückt das ,und‘ (in Aufzählungen) keinen ontologischen Sachverhalt aus, sondern lediglich den Akt des Kolligierens. Das ,nicht‘ ist ebenfalls keine ontologische Form, sondern bezeichnet beispielsweise den kognitiven Vorgang der Enttäuschung einer Prätention: Wir glauben der Ball sei rot, bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch: er ist nicht rot, sondern violett. Das ,ist‘ (sowohl das existentiale wie das kopulative), das ,hat‘ (,Der Tisch hat vier Beine‘), die Relationen (A ist größer als B) sind dagegen echte onto-logische Formen, ebenso die Kernformen der Substantialität und Adjektivität (vgl. EU, 248 ff). Allerdings geht auch bei den onto-logischen Formen meist die Auffassungsweise in den Sinngehalt mit ein. So kann ein Explikat als ein Substrat von Eigenschaften aufgefasst werden (z.B. das Rot als leuchtend) und erhält die Kernform der Substantialität. Aber auch hier drückt sich der ontologische Sachverhalt aus, dass etwas Substrat von Bestimmungen ist. Der Kernform der Substantialität entspricht daher real eine relative Selbständigkeit der roten Farbe gegenüber einer besonderen Eigenschaft dieser Farbe. „Es kann, was immer das erkennende Ich affiziert, was immer Substrat einer Zuwendung werden mag, ursprünglich Selbständiges oder Unselbständiges und dann erst Verselbständigtes, zum Bestimmungssubjekt werden.“ (EU, 250) Ein besonderes Problem stellt das ,weil‘ dar, da hier besonders fraglich ist, ob und was ihm ontologisch entspricht.

  25. Vgl. zur Unterscheidung von Sachverhalten und Sachlagen EU, 285: „Was einem […] Sachverhalt in der Rezeptivität entspricht, sind Verhältnisse, oder, wie wir sagen wollen, Sachlagen: Verhältnisse des Enthaltens und Enthaltenseins, des Größer und Kleiner usw. Sie sind ein Identisches, das sich wesensmäßig doppelt expliziert, derart, dass äquivalente prädikative Urteile auf eine und dieselbe Sachlage als intuitiv gegebenen Verhalt zurückweisen. Jede Sachlage birgt mehrere, eine einfachste Sachlage, die in einem Paar fundiert ist, zwei Sachverhalte in sich, z.B. die Größensachlage a – b, die beiden Sachverhalte a > b und b < a.“

  26. Aber auch die die inneren Eigenschaften eines Gegenstandes aussagenden Urteile lassen sich umkehren: ,Der Tisch hat vier Beine‘ lässt sich umformen in: ,Die vier Beine sind Teile des Tisches‘. Allerdings geht hier das erste Urteil genetisch voran, während bei den relationalen Urteilen lediglich das Erkenntnisinteresse bestimmt, welcher Gegenstand zum Vergleichsfundament wird.

  27. Vgl. zur Unterscheidung zwischen vermeintem und wirklichem Sachverhalt als Idee des vollkommen erfüllten Sachverhaltssinnes: EU, 342 ff.

  28. Tengelyi (2007) vertritt die (husserlkritische) These, dass die „logischen Kategorien […] keine bildartigen Ausdrücke der Erfahrung [sind, sondern] vielmehr Formen einer Sinnstiftung, die einen sich fortbildenden Sinn festzusetzen sucht, ohne ihn jedoch je restlos ausschöpfen zu können.“ (195) „In der sechsten Logischen Untersuchung“, so Tengelyi, „führt die phänomenologische Analyse des stetigen Wahrnehmungsverlaufs bis zu dem Punkt, an dem ein sich fortbildender gegenständlicher Sinn greifbar wird. Husserl erfasst jedoch diesen Sinn nicht.“ (195) Aus der Perspektive von Erfahrung und Urteil ist allerdings zu sagen, dass zumindest der späte Husserl diesem sich „fortbildenden Sinn“ als Ergebnis explikativer Erfassungen ausführliche Analysen widmet, ohne freilich zu behaupten, dass jener Sinn vom prädikativen Urteil nicht auszuschöpfen sei. Vielmehr ist der Übergang von der wahrnehmenden Zuwendung zu einem Affizierenden zu dessen wahrnehmender Explikation und der Übergang von dieser zum prädikativen Urteil selbst als eine explikative Bewegung (und nicht nur als ein bloßer Fundierungszusammenhang im Sinne einer Schichtung) zu verstehen. Das prädikative Urteil steht der vorprädikativen Erfahrung nicht heterogen gegenüber, sondern ist als Entfaltung der vorprädikativen Sinngehalte zu verstehen. Der sich „fortbildende Sinn“ der wahrnehmenden Betrachtung ist ja selbst schon von kategorialer Verfassung. Tengelyi ist aber beizupflichten, dass zwischen Erfahrungssinn und Ausdrucksbedeutung kein „vollständiger ,Parallelismus‘“ (170) besteht. Dies liegt aber ganz wesentlich im Explikationsverhältnis zwischen vorprädikativer Erfahrung und Erfahrungsurteil begründet.

  29. Vgl. hierzu Lohmar (2005) und Sowa (2007).

  30. Zur Unterscheidung zwischen eidetischen Urteilen über Individuelles und eidetischen Urteilen über Wesen vgl. Hua III/1, § 5.

  31. Was das Verhältnis von Ideation und vorprädikativer Erfahrung betrifft, so ist zu sagen, dass letztere ein Sondertypus der ersteren ist, insofern schon die Erfassung immanenter und relationaler Bestimmungen keine rein sinnliche Betrachtung darstellt. Dass diese Strukturen aber formalontologische sind (also Bestimmungen, die jedem Gegenstand zukommen bzw. zukommen können), kann erst mittels der eidetischen Variation erfasst werden.

  32. Vgl. EU, 283: „Die Abwandlung, die die Form des allgemeinen Urteilens gegenüber den bisherigen Formen bedeutet, ist also vor allem auf Seiten der Urteilskerne zu suchen, während die Form der prädikativen Synthesis ihrer Grundstruktur nach die gleiche bleibt“.

  33. Nicht nur die Wesensschau, sondern auch die Explikation erfasst ja intelligible Formen: einmal werden allgemeine Wesen, einmal kategoriale Strukturen erschaut. Die Intuition ist insofern der Ursprung der Diskursivität.

  34. Zu nennen wären hier beispielsweise Kant (Kategorien, Schemata, Grundsätze, Ideen), Humboldt (Sprachen als Weltansichten), Husserl selbst (sedimentiertes Wissen, Horizontbewusstsein), Heidegger (Welt als Verweisungszusammenhang, Sprache), Cassirer (symbolische Formen), Wittgenstein (vgl. Über Gewissheit § 83, § 94) u.v.m.

  35. In Erfahrung und Urteil heißt es ausdrücklich: „Mit jedem Schritt ursprünglicher Erfassung und Explikation eines Seienden wandelt sich daher der Horizont des Erfahrbaren im Ganzen; neue typische Bestimmtheiten und Vertrautheiten werden gestiftet und geben den apperzeptiven Erwartungen, die sich an die Gegebenheit neuer Gegenstände knüpfen, ihre Richtung und Vorzeichnung.“ (140) Man kann Erfahrung und Urteil und das dort verfolgte Projekt einer „Genealogie der Logik“ auch als Genealogie der ,Welt‘ lesen. Insofern ist die Behauptung Tugendhats (1967), dass „Husserl die neue Dimension der Wahrheitsproblematik, die sich hier ergibt, nicht mehr im einzelnen entwickelt“ habe (247), dahingehend zu korrigieren, dass er sie zumindest nicht umfassend, wenngleich für die Natur sehr wohl detailliert ausgearbeitet hat. Mit Tugendhat ist jedoch darauf zu insistieren, dass die Historizität des Erkennens kategorial von einer Historizität der Wahrheit selbst zu unterscheiden ist: Die Rede von einer „Geschichte der Wahrheit“ hat vielmehr „keinen ausweisbaren Sinn“ (247). „Die Rede von dem geschichtlichen Wandel der Wahrheit“, so Tugendhat, „ist dadurch aufgekommen, dass man die Sinnhorizonte selbst als Wahrheiten bezeichnet. Durch diese Festlegung verliert nicht nur das Wort Wahrheit seinen normalen Sinn, es wird nun auch gerade das nicht erreicht, was erreicht werden sollte: die Erweiterung des Wahrheitsproblems auf die Geschichte; denn wenn die Sinnhorizonte schon selbst als Wahrheiten verstanden werden, verliert die Frage nach der Wahrheit jeden Sinn.“ (248).

  36. Dieser Punkt ist besonders in Bezug auf die heideggersche Unterscheidung von „Vorhandenem“ und „Zuhandenem“ wichtig: Auch „Zeug“ kann nur als Zeug begegnen, wenn es perzeptiv erscheint und in diesem basalen Sinne vorhanden (präsent oder da) ist. Dieser Sinn von Vorhandenheit liegt der Unterscheidung von Zuhandenheit und bloßer Vorhandenheit insofern zugrunde, als ansonsten von ,Gegebenheit‘ überhaupt nicht mehr gesprochen werden könnte. Etwas kann in diesem Sinne von Gegebenheit auch vor allem Gebrauch und vor aller attentionalen Zuwendung präsent (erlebt) sein.

  37. Vgl. hierzu die (sicher auch auf Heidegger gemünzten) Ausführungen Landgrebes: „So ist in der Welt unserer Erfahrung Natur die unterste, alle anderen fundierende Schichte; das Seiende in seinen schlicht erfahrbaren Beschaffenheiten als Natur ist es, das als Substrat allen anderen Erfahrungsweisen zugrundeliegt, an dem sich unser Werten und Handeln betätigt, und das als Invariables zugrunde liegt bei aller wechselnden Relativität seiner Bewertungen, seiner Brauchbarkeit zu gewissen Zwecken, um aus dem naturgegebenen ,Material‘ eben jeweils Verschiedenes zu verfertigen. Immer ist es zuunterst gegeben als Naturkörper mit seinen naturalen, in schlichter Erfahrung zugänglichen Beschaffenheiten – wenngleich sich auf sie gar kein Interesse richten muss.“ (EU, 54) Zum Gedanken einer präattentionalen Gegebenheit bzw. der passiven Vorgegebenheit: EU, 73 ff.

  38. Zu Husserls Unterscheidung von Sach- und Bedeutungsprädikaten vgl. EU, 318 ff.

  39. Die Apperzeption selbst mag also sprachlich und kulturell bedingt sein. Worauf es hier aber nur ankommt ist, dass die naturalen Apperzeptionen auf ihre aletheiologische Angemessenheit hin überprüft werden können. Hierauf beruht zu einem wesentlichen Teil der wissenschaftliche und vorwissenschaftliche Erkenntnisfortschritt. (Man denke nur an den Begriff des Walfisches.) Es soll also keineswegs bestritten werden, dass die kulturelle und sprachliche Prägung einen bestimmenden Einfluss auf die faktische Apperzeption der Naturgegebenheiten ausübt. Nichtsdestotrotz besitzt die Natur ein Eigenwesen, das kulturinvariant ist und – wie wir zu zeigen versuchten – in den logischen Formen (aber auch in den materialen Begriffen) der Sprache seinen Niederschlag gefunden hat. Die Kulturinvarianz der Natur zeigt sich beispielsweise in den diversen eidetischen Wahrheiten in Bezug auf Naturgegenstände: Körper sind notwendig (räumlich) ausgedehnt. Sie sind notwendig Ganzheiten mit Eigenschaften und stehen in vielfältigen Relationen zu anderen Gegenständen. Töne haben notwendig eine Dauer, Farben weisen notwendig eine Ausbreitung auf. Stücke sind spezifisch von Momenten unterschieden etc.

  40. Bedenkt man, dass auch die phänomenologische Begriffsbildung auf präprädikativen Leistungen beruht (die eidetische Variation setzt ja bereits die Explikation des leitenden Exempels voraus), dann wird deutlich, dass durch unsere Untersuchung auch hinsichtlich der materialen Begrifflichkeiten eine (freilich nur approximative) Anmessung an das Apriori (das Allgemeine) verständlich wird. Die Frage nach der Angemessenheit phänomenologischer Begriffe erfordert zwar eine eigene Untersuchung. Es sei jedoch nochmals darauf hingewiesen, dass die bei der phänomenologischen Untersuchung verwendeten Begriffe nur als Wegweiser (also formal anzeigend) verwendet werden dürfen (im Sinne des Ideals der Voraussetzungslosigkeit). Durch die eidetische Variation wird ihr Gehalt dann sukzessive einer Überprüfung unterzogen. Im Ergebnis entspringen der eidetischen Variation und der Prädikation ihrer Ergebnisse dann teils gerechtfertigte, teils korrigierte, teils gänzlich neugebildete Begriffe. Ein wesentliches Ziel muss es hierbei auch sein, zu anschaulich begründeten begrifflichen Unterscheidungen zu kommen (zum Beispiel zwischen dem allgemeinen Begriff der Wahrnehmung und den verschiedenen Unter- und Unterunterarten von Wahrnehmung). Die Möglichkeit wahrer phänomenologischer Beschreibungen hängt dabei nicht von der totalen Adäquatheit ihrer Begriffe ab, sondern nur davon, dass es prinzipiell möglich ist, Wesensverhalte zu erfassen. Dies ist der Weg der phänomenologischen Begriffsbildung. Und der adäquate Begriff steht nicht am Anfang, sondern höchstens am Ende. Die Erfassung des Apriori (des begrifflichen Allgemeinen) ist hierbei möglicherweise unabschließbar und das Allgemeine eine Idee im kantischen Sinn.

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Streubel, T. Wahrheit als methodisches Problem der phänomenologischen Deskription. Husserl Stud 27, 105–123 (2011). https://doi.org/10.1007/s10743-010-9087-1

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