Einleitung

Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen (Gesundenuntersuchungen) sind in den meisten westlichen Ländern ein wesentlicher Bestandteil klinischer Prävention [1, 2]. Sie beinhalten üblicherweise einen oder mehrere Untersuchungstermine, bei denen eine Reihe an Screening-Tests und Beratungsmaßnahmen durchgeführt werden mit dem Ziel, Risikofaktoren zu modifizieren und Krankheiten zu vermeiden bzw. im Frühstadium erkennen und behandeln zu können [3,4,5].

Screening-Maßnahmen werden per Definition an Personen durchgeführt, die keine Symptome jener Erkrankung haben, auf die sie gescreent werden, oder sich dieser Symptome nicht bewusst sind. Screening-Maßnahmen sind nur dann sinnvoll, wenn die Behandlung der Krankheit bzw. die Reduktion des Risikofaktors zum Zeitpunkt der Früherkennung wirksamer ist als eine Therapie im späteren Verlauf einer Krankheit [2]. Dem angestrebten Nutzen steht ein möglicher Schaden gegenüber, der (a) durch Komplikationen bei der Untersuchung selbst, (b) falsch-positive Screening-Testergebnisse und den daraus resultierenden Konsequenzen und (c) durch sogenannte Überdiagnosen und daraus resultierenden unnötigen Therapien entsteht [6]. Dabei ist das Risiko direkter Komplikationen infolge der einzelnen Untersuchungen der VU selbst relativ gering, da es sich dabei weitgehend um nichtinvasive Untersuchungsmethoden handelt. Problematischer können falsch-positive Testergebnisse und deren Konsequenzen für die Untersuchten sein. Es gibt keine Screening-Tests, die zu 100 % fehlerfrei (d. h. sensitiv und spezifisch) sind, weshalb Tests immer auch zu falsch-negativen und falsch-positiven Ergebnissen führen. Vor allem die mangelnde Spezifität kann bei populationsweitem Screening abhängig von der Prävalenz einer Zielerkrankung erhebliche Folgen haben. Eine hohe Anzahl an falsch-positiven Ergebnissen bedeutet, dass sich viele gesunde Personen weiteren diagnostischen Abklärungen unterziehen müssen, mit denen potentielle Nebenwirkungen (z. B. Strahlenbelastungen oder Infektionen durch Biopsien) und psychische oder körperliche Belastungen einhergehen. Internationale Institutionen wie die United States Preventive Services Task Force (USPSTF) oder das United Kingdom National Screening Committee (UK NSC), die Empfehlungen zu Früherkennungsuntersuchungen abgeben, wenden daher viel Zeit und Ressourcen auf, um Nutzen und Schaden von Screening-Untersuchungen nach evidenzbasierten Kriterien abzuwägen.

Schließlich können Vorsorgeuntersuchungen zu Überdiagnosen führen, die einen Schaden für die betroffenen Personen darstellen können. Von Überdiagnosen spricht man, wenn bestimmte im Frühstadium durch Screening entdeckte Krankheiten auch ohne Screening unentdeckt geblieben wären und zu Lebzeiten der Personen zu keiner Beeinträchtigung geführt hätten [6]. In diesen Fällen bringt die Diagnose der betroffenen Personen keinen Nutzen, kann aber zumindest zu psychischem Schaden, und bei resultierender Übertherapie ggf. auch zu kurz- oder langfristigen körperlichen Beeinträchtigungen führen.

Die wissenschaftliche Evidenz zu regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen ist widersprüchlich. Systematische Übersichtsarbeiten und große randomisierte kontrollierte Studien belegen keine Reduktion der Gesamtsterblichkeit, der kardiovaskulären Mortalität oder der Krebsmortalität durch die regelmäßige Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen [5, 7, 8]. Die Aussagekraft dieser Studien ist jedoch umstritten. Die mittlere Beobachtungszeit von zehn Jahren bei solchen Studien könnte zu gering sein, um bei grundsätzlich gesunden Personen Unterschiede in der Mortalität festzustellen [7], so dass diese Daten durch entscheidungsanalytische Modellierungen mit Lebenszeithorizont zu ergänzen wären [9, 10]. Manche der älteren Studien verwenden außerdem Grenzwerte, Screening-Tests und Behandlungsmethoden, die mittlerweile als überholt gelten. Im Gegensatz dazu gibt es jedoch gute Evidenz, dass einzelne Screening-Maßnahmen zu einer Reduktion von Risikofaktoren wie Bluthochdruck [11, 12] führen, die ein kausales Verhältnis zu erhöhter Mortalität haben.

Die potentiellen Nachteile von Vorsorgeuntersuchungen zeigen sich in einer Studie mit mehr als 4100 Personen aus dem Jahr 1973. Sie wurde an Frauen und Männern im Alter von 35–54 Jahren in Kalifornien, USA, durchgeführt und hatte eine Beobachtungsdauer von sechs Jahren. Personen, die regelmäßig an Vorsorgeuntersuchungen teilnahmen, hatten um 15 % mehr Diagnosen als Personen die seltener untersucht wurden, aber es gab keine Unterschiede in der Gesamtmortalität [13].

In Österreich bieten die Krankenversicherungsträger seit 1974 die Vorsorgeuntersuchung als Kassenleistung für Personen ab 18 Jahren an [14]. Im Jahr 2015 nahmen 1.155.366 Personen in Österreich an der Vorsorgeuntersuchung teil, zwei Drittel davon waren Frauen [15]. Bei der letzten österreichweiten Befragung von insgesamt 14.797 Teilnehmerinnen/Teilnehmern der Vorsorgeuntersuchung im Jahr 2010 ließen 79 % die Vorsorgeuntersuchung in einer allgemeinmedizinischen Praxis durchführen. Rund 19 % suchten dafür eine Internistin/einen Internisten auf, die restlichen 2 % gingen entweder zu einer Gynäkologin/einem Gynäkologen oder einer Lungenfachärztin/einem Lungenfacharzt [16]. Personen, die die Vorsorgeuntersuchung in Österreich in Anspruch nehmen, unterscheiden sich deutlich von jenen, die die Vorsorgeuntersuchung nicht in Anspruch nehmen: sie sind am häufigsten im Alter zwischen 40 und 64 Jahren, haben höhere Bildung und höheres Einkommen, selten Migrationshintergrund, und sind häufiger von chronischen Krankheiten betroffen [17].

Derzeit wird die Durchführung von 18 Screening-Untersuchungen und Beratungsmaßnahmen empfohlen (Tab. 1; [14]). Im Mittelpunkt stehen die Früherkennung von kardiovaskulären Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen und Malignomen, sowie die Beratung zur Reduktion von Risikofaktoren wie Übergewicht, Rauchen oder Alkoholkonsum.

Tab. 1 Übersicht über die bisher enthaltenen Maßnahmen der Vorsorgeuntersuchung in Österreich sortiert nach Altersgruppen

Die Inhalte der österreichischen Vorsorgeuntersuchung wurden zuletzt 2005 neu gestaltet und 2009 letztmalig wissenschaftlich evaluiert [18, 19]. Die Methodik ihrer Erstellung entspricht nicht mehr den heutigen Ansprüchen an Leitlinien, wie sie zum Beispiel von der US National Academy of Health gestellt werden [20].

Das Ziel dieser Arbeit war es, evidenzbasierte Empfehlungen zur Neugestaltung der österreichischen Vorsorgeuntersuchung zu entwickeln. Auf Wunsch des Auftraggebers (Hauptverband der Sozialversicherungsträger) waren Screening-Maßnahmen zu Krebserkrankungen von diesen Überarbeitungen ausgenommen.

Methode

Die Vorgehensweise zur Überarbeitung der Empfehlungen zur österreichischen Vorsorgeuntersuchung orientierte sich an dem international etablierten, wissenschaftlichen Prozess zur Erstellung von evidenzbasierten Empfehlungen nach GRADE (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) [21]. Im Speziellen wurde der GRADE-ADOLOPMENT Ansatz verfolgt, der sich auf bereits bestehende Evidenz stützt, diese gegebenfalls adaptiert und, wenn notwendig, neue entwickelt [22].

Das Projekt wurde in insgesamt acht Arbeitsschritten umgesetzt (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Methodische Schritte zur Überarbeitung der Vorsorgeuntersuchung. AP Arbeitspaket; VU Vorsorgeuntersuchung

Quellleitlinien als Basis

Zu Beginn wurden die vorhandenen österreichischen Empfehlungen mit evidenzbasierten Empfehlungen von drei internationalen Institutionen abgeglichen (USPSTF [www.uspreventiveservicestaskforce.org], UK NSC [www.gov.uk/government/groups/uk-national-screening-committee-uk-nsc] und Canadian Task Force on Preventive Health Care [CTFPHC; https://canadiantaskforce.ca/]) (siehe Bewertungsschema Tab. 2). Waren die Empfehlungen widersprüchlich oder gab es keine einheitlichen internationalen Empfehlungen, wurden Evidenzrecherchen durchgeführt (Arbeitsschritte 4 bis 6) Die Auswahl der drei internationalen Institutionen für mögliche Quellleitlinien basiert auf einem Vorprojekt, bei dem internationale Leitlinien-Netzwerke nach evidenzbasierten Screening-Empfehlungen durchsucht wurden. Diese Institutionen erstellen die umfangreichsten evidenzbasierten Empfehlungen zu Screening-Maßnahmen und Beratungsgesprächen. Sie basieren ihre Empfehlungen auf systematischen Reviews und beziehen die Stärke der vorhandenen Evidenz ein. Aufgrund ihrer transparenten und wissenschaftlichen Arbeitsweise sind sie international anerkannt.

Tab. 2 Schema zur Klassifizierung der Präventionsmaßnahmen

Fokusgruppen mit Bürgerinnen/Bürgern

In einem zweiten Arbeitsschritt wurden drei Fokusgruppen mit Bürgerinnen/Bürgern (n = 30) durchgeführt. Die Fokusgruppen erfassten einerseits die für die Zielgruppe relevanten, gesundheitlichen Endpunkte und andererseits die Werte und Präferenzen in Bezug auf die Vorsorgeuntersuchung aus Sicht der Teilnehmer/innen. Die identifizierten Endpunkte stellten auch relevante Endpunkte in den systematischen Reviews dar und flossen in die Entwicklung der Empfehlungen als Werte und Präferenzen der Zielgruppe ein. Die Ergebnisse der Fokusgruppen sind bereits publiziert [23].

Multidisziplinäres Empfehlungsgremium

Im dritten Arbeitsschritt bestellte unser Forschungsteam ein multidisziplinäres Empfehlungsgremium bestehend aus elf Fachexpertinnen/Fachexperten (Online Supplement 1). Interessenskonflikte der Mitglieder wurden offengelegt. Das Gremium nominierte zusätzliche Screening-Maßnahmen für bestimmte Erkrankungen oder Risikofaktoren, die in der Vorsorgeuntersuchung noch nicht beinhaltet waren und für die in weiterer Folge Evidenzrecherchen durchgeführt wurden. Außerdem schlug das Gremium entscheidungsrelevante Endpunkte zu Nutzen und Schaden von Maßnahmen der Vorsorgeuntersuchung. Im Zuge eines modifizierten Delphi-Verfahrens [24] reihten die Fachexpertinnen/Fachexperten gemeinsam mit Teilnehmerinnen/Teilnehmern der Fokusgruppen die nominierten Endpunkte nach deren relativen Wichtigkeit entsprechend des GRADE Prozesses [25].

Generierung von evidenzbasierten Entscheidungsgrundlagen

Für die weitere Aktualisierung der Evidenz wurde ein Best-Evidence-Ansatz gewählt, der die folgenden Abstufungen berücksichtigte: 1) Für internationale Empfehlungen, die aufgrund von Widersprüchlichkeiten eine Neubewertung erforderten, führte unser Forschungsteam Übersichtsarbeiten vorhandener, relevanter systematischer Reviews (Overviews of Reviews) durch (Arbeitsschritt 4). Aktuelle und methodisch gut durchgeführte systematische Reviews wurden direkt übernommen. 2) Konnten methodisch gut durchgeführte systematische Reviews identifiziert werden, deren Suche vor 2013 durchgeführt wurde, wurden diese aktualisiert und die neu gefundene Evidenz integriert (Arbeitsschritt 5). 3) Für Maßnahmen, für die keine relevanten systematischen Reviews gefunden werden konnten, wurden neue systematische Reviews erstellt (Arbeitsschritt 6). Die Methoden für diese Arbeitsschritte basierten auf jenen von Cochrane [26]. Für jeden Overview of Reviews oder einzelnen Review wurden a priori Einschlusskriterien definiert und eine systematische Literatursuche durch eine Informationsspezialistin (IK) durchgeführt. Danach erfolgte eine duale Begutachtung der Abstracts und Volltexte, eine duale Beurteilung der methodischen Qualität (Biasrisiko) inkludierter Reviews oder Studien und eine narrative oder quantitative Zusammenfassung der Ergebnisse.

Im nächsten Arbeitsschritt beurteilte unser Forschungsteam das Vertrauen in die Evidenz getrennt für jene wesentlichen Endpunkte, die vom Empfehlungsgremium und den Bürgerinnen/Bürgern in den Fokusgruppen ausgewählt wurden. Die Bewertung des Vertrauens in die Evidenz basierte auf dem Ansatz von GRADE [21, 27] und erfolgte in vier Stufen (Tab. 3).

Tab. 3 Beurteilung des Vertrauens in die Evidenz [27]

Enthielten eingeschlossene systematische Reviews bereits Bewertungen des Vertrauens in die Evidenz, wurden diese übernommen. Unser Forschungsteam bereitete die Ergebnisse der Evidenzsynthesen in Form von Entscheidungstabellen auf. Diese dienten als Vorbereitung für den Empfehlungsprozess für jede Maßnahme der Vorsorgeuntersuchung [28, 29]. Diese Entscheidungstabellen präsentierten einerseits die Evidenz über alle Vor- und Nachteile einer Maßnahme, andererseits auch andere für Empfehlungen relevante Aspekte wie die Schwankungen der Wichtigkeit einzelner Endpunkte bei Personen, die die Vorsorgeuntersuchung in Anspruch nehmen (Beispiel Online Supplement 2).

Erstellung der Empfehlungen

Eine Online-Abstimmung und ein zweitägiger Workshop bildeten den Rahmen für die Entwicklung der Empfehlungen zur Neugestaltung der Vorsorgeuntersuchung (Arbeitsschritt 8) Zunächst stimmten die Mitglieder des Empfehlungsgremiums online über die Aufnahme der Maßnahmen ab, zu denen es klare positive oder negative Empfehlungen der internationalen Institutionen gab oder bei denen die Evidenzlage eindeutig war. Die Abstimmung erfolgte nach der Klassifizierung von Empfehlungen von GRADE (starke oder schwache Empfehlung für oder gegen eine Maßnahme) [30]. Starke Empfehlungen können von Ärztinnen/Ärzten in den meisten Fällen als allgemeine Vorgehensweise übernommen werden. Schwache Empfehlungen implizieren, dass die Empfehlung bei den meisten, aber nicht bei allen Personen als Vorgehensweise übernommen werden sollte. In beiden Fällen ist eine informierte Entscheidung mit Diskussion der Vor- und Nachteile wesentlich.

Kontroverse Abstimmungsergebnisse sowie Maßnahmen mit unklarer oder nicht eindeutiger Evidenzlage wurden in einem zweitägigen Workshop mit dem Empfehlungsgremium behandelt. Das Ergebnis waren klar formulierte Empfehlungen inklusive Begründungen und Überlegungen zu speziellen Gruppen von Patientinnen/Patienten sowie zur Umsetzung der Empfehlung. Diese wurden zusammengefasst und den Mitgliedern des Empfehlungsgremiums zur finalen Durchsicht vorgelegt.

Ergebnisse

Die Ergebnisse dieses evidenzbasierten Empfehlungsprozesses resultierten in insgesamt 26 Empfehlungen für Screening auf 20 Zielerkrankungen oder Risikofaktoren (Tab. 4). Das Gremium sprach sich für die Aufnahme von Screening-Maßnahmen für drei neue Zielerkrankungen und gegen die Aufnahmen von Screening-Maßnahmen für drei weitere Zielerkrankungen oder Risikofaktoren aus. Außerdem empfahl sie bestehende Screening-Maßnahmen für drei Zielerkrankungen zu streichen und Screening-Maßnahmen für elf Zielerkrankungen oder Risikofaktoren zu adaptieren.

Tab. 4 Empfehlungen für die neue Vorsorgeuntersuchung

Untersuchungen, die neu diskutiert wurden

Im Vergleich zur bisherigen Vorsorgeuntersuchung (Tab. 1) soll die neue Vorsorgeuntersuchung aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse ein einmaliges Screening auf abdominales Aorten-Aneurysma bei Männern zwischen 65 und 75 Jahren, ein Screening auf chronische Nierenerkrankungen bei Erwachsenen ab 40 Jahren mit erhöhtem Risiko alle 2 Jahre und die Bestimmung des Risikos für osteoporotische Frakturen bei Erwachsenen ab 50 Jahren alle 10 Jahre beinhalten. Screening auf Depression, Hepatitis C und Vitamin D-Mangel sollen nicht in die Vorsorgeuntersuchung aufgenommen werden. Gründe dafür sind das Fehlen valider Screening-Tests und ausreichende Therapieplätze für Personen mit leichter Depression, die Schwierigkeit, Risikogruppen für Hepatitis C im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung zu identifizieren und die fehlende wissenschaftliche Beweislage bezüglich des Nutzens von Screening auf Vitamin D-Mangel.

Änderungen bei bestehenden Untersuchungen

Von den bereits bestehenden Maßnahmen der Vorsorgeuntersuchung soll aufgrund fehlender oder unklarer wissenschaftlicher Evidenz das Screening auf asymptomatische Bakteriurie mittels Harnstreifentest, das Screening auf Eisen‑/Vitamin B 12-Mangelanämie mittels roten Blutbildes bei Frauen und die Identifikation von Personen mit erhöhtem Glaukomrisiko zukünftig nicht mehr enthalten sein. Die anderen Screening- und Beratungsmaßnahmen sollen in ihrer derzeitigen Form beibehalten oder in Bezug auf die Zielgruppe, das Screening-Instrument oder Screening-Intervall adaptiert werden. Beispielsweise empfiehlt das Gremium aufgrund der besseren Akzeptanz und Praktikabilität den Kurzfragebogen AUDIT-C (Alcohol Use Disorders Identification Test) anstatt der bisherigen Langversion AUDIT zu verwenden, um nach gesundheitsgefährdenden Alkoholkonsum zu screenen. Der Gamma-GT Wert soll aufgrund fehlender Testgenauigkeit hierfür nicht mehr verwendet werden. Screening auf altersbedingte Hörminderung/Hörverlust soll bei Erwachsenen ab 65 Jahren zukünftig nur mehr mittels Frage nach Hörverlust und nicht mehr mittels durch Frage und Flüstertest alle zwei Jahre erfolgen.

Diskussion

In den kommenden Jahren wird die österreichische Vorsorgeuntersuchung neu gestaltet werden. Basierend auf den Empfehlungen, die von einem multidisziplinären Beratungsgremium im Zuge eines evidenzbasierten, strukturierten und transparenten Prozesses entwickelt wurden, soll die Vorsorgeuntersuchung weiterhin einen starken Fokus auf Risikofaktorenidentifizierung und Beratungsmaßnahmen haben. Von sechs im Zuge des Prozesses neu nominierten Themen (Screening auf abdominales Aorten-Aneurysma, osteoporotisches Frakturrisiko, Depression, Hepatitis C, Vitamin D-Mangel, chronische Nierenerkrankungen), deren wissenschaftliche und evidenzbasierte Fundiertheit überprüft wurde, sollen Screening auf abdominales Aorten-Aneurysma, osteoporotisches Frakturrisiko sowie chronische Nierenerkrankungen neu ins Programm aufgenommen werden. Wie bereits in der letzten Überarbeitung im Jahr 2005 [19] empfiehlt das Gremium aufgrund unzureichender Evidenz, Screening-Untersuchungen auf asymptomatische Bakteriurie mittels Harnstreifentests, auf Eisen‑/Vitamin B 12-Mangelanämie mittels roten Blutbildes, und auf gesundheitsgefährdenden Alkoholkonsum mittels Gamma-GT aus dem Vorsorgeprogramm zu streichen. Die Bestimmung des Triglyzeridwertes blieb damals entgegen der damaligen Empfehlungen [19] im Programm der Vorsorgeuntersuchung. Das Empfehlungsgremium sprach sich diesmal für die Beibehaltung der Bestimmung des Triglyzeridwertes aus, da er als Indikator des Lebensstils sowie als Parameter für die Diagnostik des metabolischen Syndroms von Bedeutung ist. Andererseits soll die Empfehlung Personen mit einem erhöhten Risiko für ein Offenwinkelglaukom zu identifizieren, die im Jahr 2005 aufgenommen wurde, wieder gestrichen werden. Als Begründung führt das Gremium die ungenaue diagnostische Güte derzeit verfügbarer Screening-Tests an.

Bereits die letzte Überarbeitung der VU im Jahr 2005 verfolgte einen klaren evidenzbasierten Ansatz [19]. Die gesundheitspolitischen Realitäten in Österreich führten in letzter Konsequenz jedoch zu Empfehlungen, die nicht zur Gänze internationalen wissenschaftlichen Standards entsprachen. Die aktuelle Arbeit evaluierte nicht nur die wissenschaftliche Fundiertheit bestehender Untersuchungen und Beratungen, sondern bezog auch erstmalig die Erwartungen der Bevölkerung in Bezug auf gesundheitlichen Nutzen der Vorsorgeuntersuchung sowie ein Empfehlungsgremium unabhängiger, multidisziplinärer Fachexpertinnen/Fachexperten ein. Außerdem wurde sie nach dem international etablierten, wissenschaftlichen Prozess nach GRADE [21] gestaltet.

GRADE beinhaltet neben der Bewertung des Vertrauens in die Evidenz auch die Abwägung eines möglichen Nutzens und Schadens von Interventionen mit Fokussierung auf Bürger/innen-relevante Endpunkte, die damit verbundenen Wertvorstellungen, und die Integration von Überlegungen zur Umsetzbarkeit [31]. Ein wesentlicher Vorteil dieses Ansatzes ist, dass die getroffenen Entscheidungen zu Empfehlungen systematisch und transparent erfolgen und für Dritte nachvollziehbar sind. Dies schafft nicht nur innerhalb des Gesundheitssystems Transparenz, sondern erleichtert aufgrund der guten Dokumentation auch zukünftige Aktualisierungen der Vorsorgeuntersuchung.

Internationale Institutionen führen regelmäßige Aktualisierungen ihrer Screening-Empfehlungen durch. Die Arbeitsgruppe für Themenpriorisierung der United States Preventive Services Task Force (USPSTF) trifft sich jährlich, um eine Liste an Themen zu erstellen, deren Evidenz im Laufe des Jahres neu erfasst und bewertet oder aktualisiert werden soll [32]. Die Canadian Task Force on Preventive Health Care (CTFPHC) hält zweimal und das oder das United Kingdom National Screening Committee (UK NSC) sogar dreimal im Jahr Versammlungen zur Begutachtung und Diskussion der Screening-Empfehlungen ab [33, 34]. Nachdem die österreichische Vorsorgeuntersuchung zuletzt 2009 überprüft wurde und seither neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen wurden, war es erforderlich diese Erkenntnisse in die Vorsorgeuntersuchung einfließen zu lassen.

Aufgrund des evidenzbasierten Vorgehens unter Einbeziehung der GRADE Methode erfüllen die neuen Empfehlungen für die Vorsorgeuntersuchung fünf von sieben Qualitätskriterien der amerikanischen National Academy of Medicine [20]: Transparenz des Erstellungsprozesses, Beachtung und Offenlegung von potentiellen Interessenskonflikten, Einsatz eines multidisziplinären Leitliniengremiums, Verwendung von systematischen Reviews als Entscheidungsbasis, Trennung von Vertrauen in die Evidenz und Stärke der Empfehlung sowie klare und handlungsorientierte Empfehlungen. Die beiden noch offenen Qualitätskriterien (externer Review und regelmäßige Updates) sollten im weiteren Verlauf der Neugestaltung der Vorsorgeuntersuchung berücksichtigt werden.

Die praktische Herausforderung bei der methodischen Umsetzung war, dass innerhalb von zwei Jahren eine evidenzbasierte Aktualisierung der derzeitigen Maßnahmen (außer Screening auf Krebserkrankungen) (Tab. 1) bzw. der vom Empfehlungsgremium zusätzlich nominierten Maßnahmen durchgeführt werden musste. Aufgrund des engen Zeitrahmens wurde daher ein methodisches Vorgehen gewählt, das einerseits praktikabel ist, andererseits den Ansprüchen zur Entwicklung evidenzbasierter Empfehlungen gerecht wird. Der methodische Fokus lag auf dem Einsatz von evidenzbasierten Quellleitlinien und schon bestehenden, methodisch gut durchgeführten, systematischen Reviews, die z. B. von den Evidence-based Practice Centers im Auftrag der Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) in den USA durchgeführt wurden. Durch diese Vorgehensweise, die dem GRADE-ADOLOPMENT Ansatz [22] entspricht, konnte schon vorhandenes evidenzbasiertes Wissen effizient genützt werden. Es bedeutet aber auch, dass mögliche neuere Studien nicht berücksichtigt wurden, wenn ein passender systematischer Review herangezogen wurde.

Gänzlich neu bei der Überarbeitung der österreichischen Vorsorgeuntersuchung war das Einbeziehen der Bevölkerung in Form von Fokusgruppen. Dort wurden Erwartungen und Befürchtungen der Bürger/innen in Bezug auf die Vorsorgeuntersuchung erhoben. Diese wurden als Endpunkte in die Erstellung der neuen systematischen Reviews einbezogen und als Werte und Präferenzen vom Empfehlungsgremium berücksichtigt. Dieser nutzerzentrierte Zugang gewährleistet, dass die Evidenz aufgearbeitet wird, die für Teilnehmer/innen der Vorsorgeuntersuchung relevant ist und ihnen die Partizipation in der medizinischen Entscheidungsfindung erleichtert. Traditionelle Gesundheitsforschung wird diesem Anspruch oft nicht gerecht. Auch in Österreich besteht Nachholbedarf, wenn es darum geht Werte von Bürger/innen bei Forschungsergebnissen für Entscheidungen im Gesundheitssystem mit einzubeziehen [35]. In den USA gibt es seit 2012 das Patient-Centered Outcomes Research Institute (PCORI), das speziell Forschung fördert, die Patientinnen/Patienten und andere Stakeholder/innen in den Forschungsprozess einbindet oder Methoden zur Einbindung entwickelt [36].

Eine wesentliche Limitation dieser Überarbeitung der VU ist, dass trotz umfassenden Prozesses, manche Screeningmaßnahmen nicht auf Basis der aktuellsten Evidenz berücksichtigt und diskutiert werden konnten. Dies betrifft in erster Linie Screeningmaßnahmen zu Krebserkrankungen, aber auch einige andere Screeningmaßnahmen wie beispielsweise die Untersuchung auf chronisch obstruktive Lungenerkrankung bei Raucherinnen/Rauchern oder jene auf Sarkopenie bei älteren Bevölkerungsgruppen. Diese Screeningmaßnahmen waren vor allem aus zeitlichen Gründen ausgenommen, werden teilweise im Zuge anderer Projekte überarbeitet oder sind von den internationalen Referenzinstitutionen (USPSTF, CTFPHC, UK NSC) derzeit nicht empfohlen und wurden daher nicht in den Prozess aufgenommen. Für die nächste Überarbeitung der VU wäre es aber dennoch wichtig, diese Screeningmaßnahmen erneut zu diskutieren und ihre wissenschaftliche Fundiertheit zu überprüfen.

Weiters sollte in Hinblick auf die nächste Überarbeitung der VU, die jetzige als Anlass genommen werden, um die VU umfassend zu evaluieren. Durch die VU werden fortlaufend eine große Menge an Daten zum gesundheitlichen Zustand und Lebensstil der österreichischen Bevölkerung generiert, die Aufschluss auf die Häufigkeit und Verteilung unterschiedlicher Risikofaktoren und Krankheiten in Österreich geben und somit für die Gesundheitsplanung verwendet werden könnten. Im Zuge einer Evaluierung sollte auch erhoben werden, ob Beratungsmaßnahmen der VU wirklich zu einer Veränderung des Verhaltens oder des Bewusstseins in Bezug auf Risikofaktoren der Teilnehmerinnen und Teilnehmer führen.

Schlussfolgerung

Empfehlungen zur zukünftigen österreichischen Vorsorgeuntersuchung legen weiterhin einen Schwerpunkt auf Risikofaktorenidentifizierung und Beratungsmaßnahmen. Erstmalig wurden evidenzbasierte Empfehlungen entwickelt, welche die Werte und Präferenzen von Personen berücksichtigen, die an Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen. Durch diese Vorgehensweise wurde sichergestellt, dass deren Stimmen bei der Bewertung von Screening-Maßnahmen miteinbezogen werden konnten.