Das Wissen um den Aufbau des Zentralnervensystems (ZNS), insbesondere des Großhirns mit der Großhirnrinde und den Faserbahnen, ist ein wesentlicher Grundpfeiler der modernen Epileptologie und der Epilepsiechirurgie. Wesentliche Fragen waren und sind:

  • Wo sind wesentliche elementare Funktionen des ZNS räumlich verortet?

  • Wie lässt sich die Topographie der Hirnfunktionen bestimmen und anatomisch erkennen?

Ebenso integral ist die Kenntnis um die Erkrankungen des ZNS inklusive deren Pathogenese. Im breiten Spektrum der epileptogenen Strukturläsionen nimmt die mesiale temporale Sklerose (MTS, auch Hippokampussklerose [HS] oder Ammonshornsklerose [AHS]) eine besondere Stellung ein: Sie ist die häufigste Läsion bei schwer behandelbarer fokaler Epilepsie des Menschen. Ihr überwiegend unilaterales Auftreten und ihre genaue Ätiopathogenese sind bis jetzt immer noch nicht vollkommen aufgeklärt:

  • Was steht hinter der Prädilektion dieses Prozesses für den mesialen Temporallappen?

  • Wie erklärt sich das hochspezifische Muster der selektiven Zellpathologie im Ammonshorn?

Die genannten, für die Epileptologie überaus wichtigen Fragen waren Teil der umfassenden Forschungen der beiden Neurowissenschaftler Cécile & Oskar Vogt vor gut 100 Jahren.

Zielsetzung

Ausgangspunkt für diesen Beitrag war ein Kurzvortrag auf der Jahrestagung der DGfE in Berlin 2023 [19]. Umfangreiches Material, das im Vorfeld des Vortrags und seither gesichtet wurde, ist die Basis des aktuellen Beitrags: Cécile und Oskar Vogt werden zunächst in Leben und Werk umrissen. Um zu beschreiben, wer sie waren und in welchem Kontext sie wirkten, werden Zeugnisse von Zeitgenossen herangezogen. Es wird dargestellt, inwiefern das Wirken der Vogts für die Epileptologie relevant ist. Dieser Zusammenhang scheint zunächst nicht zu bestehen, da die Epilepsie nicht direkt Gegenstand ihrer Forschung war. Den Blick breiter auf Leben und Werk zu richten, erscheint wichtig für das Verständnis dieser Frage.

Cécile und Oskar Vogt wirkten als Pioniere in einer Zeit, als die Neurowissenschaft in der Schnittstelle von Klinik und Grundlagenforschung stattfand und sich in der Entwicklung befand. Vieles von dem, was uns heute als grundlegend bekannt ist, war damals noch nicht erkannt bzw. wurde erst beginnend erforscht. Cécile und Oskar Vogt gehören sicher in die Reihe der Riesen, auf deren Schultern wir heute noch stehen, um mit Newton zu sprechen [40]. In ihrem monumentalen Beitrag zum Grundverständnis von Aufbau und Funktion des ZNS haben sie auch für die Epileptologie entscheidende Grundlagen erarbeitet. Sie befeuerten wichtige Diskussionen und Theorien, die kontrovers diskutiert wurden, sich aber als weitsichtig und in Vielem richtig erweisen sollten: v. a. die Theorie zur selektiven Vulnerabilität spezifischer ZNS-Anteile (sog. Pathoklisetheorie). Letzteres ist eine Thematik in der Epileptologie, die v. a. in der Diskussion um die Ätiopathogenese der bekanntesten epileptogenen Läsion eine Rolle spielt: der AHS.

Die Vogts: Einführung [1, 2, 13,14,15, 17, 20, 25, 29, 30, 39, 50, 52, 54,55,56, 65, 83]

Cécile Vogt (geb. Mugnier) und ihr Mann Oskar Vogt waren ein bemerkenswertes Forscherehepaar, das in ihrer jahrzehntelangen wissenschaftlichen Partnerschaft in erstaunlicher Parallelität wirkte. Diese Parallelität zeigt sich im Studienweg, dem Promotionsthema und ihren neurowissenschaftlichen Aktivitäten, die sie gemeinsam über 60 Jahre unternahmen: Sie hatten ähnliche Lebensdaten, beide studierten in Paris bei damaligen Berühmtheiten, sie bei Pierre Marie, er bei Jules Joseph Dejerine und Augusta Dejerine-Klumpke. Beide bearbeiteten in der Dissertation eine Thematik zu zerebralen Fasersystemen. Sie forschten dann zusammen über Jahre an Aspekten der zerebralen Lokalisation (Zytoarchitektonik, Myeloarchitektonik und Elektrostimulation) und weiteren Themen. Sie begründeten mehrmals ein eigenes Institut, erst in Berlin, dann in Titisee/Neustadt bei Freiburg, und beide waren mehrmals für den Medizin-Nobelpreis nominiert. Trotz dieser Werdegänge und ihrer bahnbrechenden Erkenntnisse sind Vielen heutzutage die Namen der Vogts oder ihre Arbeiten kein Begriff mehr. Dass Cécile Vogt eine der ersten Frauen war, die in Deutschland approbiert wurde (zu einer Zeit als Frauen in Preußen nicht einmal Medizin studieren konnten), die akademischen Rang erreichte, die als eine der ersten Frauen für den Nobelpreis nominiert wurde, ist nahezu vergessen, wenngleich ihr Porträt eine Briefmarke der Bundespost ziert. Unter Umständen ist Oskar Vogt noch dafür in Erinnerung, dass er einst Lenin’s Gehirn untersuchte – dies ist auch heute noch unter den ersten Treffern, wenn man Vogt googelt. Dagegen sind andere Namen, obgleich sie engste Verbindungen mit den Vogts aufweisen, heute noch in aller Munde, allen voran Brodmann und seine berühmte Lehre von den Rindenarealen [4, 84, 85], welche er im Labor der Vogts erarbeitete.

Biographische Skizzen

Oskar Vogt (Abb. 1) wurde am 06.04.1870 in Husum geboren und starb am 31.07.1959 in Freiburg i. Br. Schulbildung, Studium ab 1888 und früher Werdegang führten ihn durch verschiedene Fächer (u. a. Psychologie, Zoologie, Interesse an Darwin), an verschiedene Orte (Kiel, Jena, Leipzig, Zürich, Paris), brachten ihn v. a. aber in Kontakt zu Persönlichkeiten der Wissenschaft dieser Zeit, die ihn beeinflussten und beeindruckten: Walther Flemming, Ernst Haeckel, Max Carl Fürbringer, Otto Binswanger, Eduard Flechsig, Auguste Forel, Jules Dejerine. Er promovierte 1894 über Fasersysteme des Balkens. Mit seiner zukünftigen Frau Cécile zog er nach Berlin, um dort gemeinsam das eigene Institut zu gründen, das im Weiteren zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung wurde, dessen Direktor er ab 1914 war. Im Rahmen ärztlicher Tätigkeit in Alexandersbad traf er Korbinian Brodmann. Dort entstanden auch die Kontakte zur Krupp-Familie, deren beratender Arzt er war und die die wissenschaftliche Arbeit der Vogts mehrfach entscheidend förderte. Früh übernahm er von Forel die Herausgeberschaft der Zeitschrift für Hypnotismus, später umbenannt in Journal für Psychologie und Neurologie, in dem sehr viele der eigenen Arbeit der Vogts erscheinen sollten.

Abb. 1
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Oskar Vogt, 1943. (Cècile und Oskar Vogt Institut für Hirnforschung; www.thecharnelhouse.org [17])

Cécile Vogt (Abb. 2) wurde am 27.03.1875 in Annecy/Frankreich geboren und starb am 04.05.1962 in Cambridge/England. Als eine von wenigen weiblichen Applikantinnen studierte sie mit 18 Jahren früh Medizin in Paris, arbeitete ab 1896 am Hospital Bicêtre und promovierte 1900 neuroanatomisch. Dort traf sie Oskar, den sie 1899 heiratete und mit ihm ging sie nach Berlin. Die Vogts hatten zwei gemeinsame Töchter (Marthe 1903–2003, Margeruite 2013–2007), die beide bekannte Forscherinnen wurden. Die gemeinsame Arbeit des Paars in der eigenen Institution florierte bald. Die Vogts, v. a. sie als Frau, sahen sich Widerständen ausgesetzt: C. Vogt wurde der Zugang zu Kongressen erschwert und kein akademischer Werdegang ermöglicht. Sie war aber eine der ersten Frauen, die in Deutschland approbiert wurde, sie erreichte Direktorenrang am Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) und war neben Lise Meitner (Kernphysik) lange die einzige Frau in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und sie war eine der ersten für den Medizin-Nobelpreis nominierten Frauen [22]. In einer Zeit, in der es für Frauen äußert schwer war, zu studieren oder zu forschen, erreichte sie durch ihre Leistungen und in kongenialer Zusammenarbeit mit Oskar hohes Ansehen.

Abb. 2
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Cécile Vogt am Mikrotom in ihrer Berliner Wohnstube. (2018 Wellcome Collection; aus Satzinger 2011 [54])

Viele persönliche Einblicke über die Vogts sind durch die Lektüre von Beiträgen von Weggefährten, Schülern und Gästen erhalten. Webb Haymaker, bedeutender US-Neuropathologe und u. a. langjähriger Leiter am Armed Forces Institute of Pathology (AFIP)/Washington D.C., war zu Gast bei den Vogts und schrieb über Cécile’s Wesen:

„Sie hatte den Savoir-vivre, die angemessene Veranlagung, die geschwinde Auffassungsgabe und den schnellen Witz, die Logik und das Lächeln, das keinen wirklichen Widerstand gegen ihren Willen zuließ, eine seltene Liebenswürdigkeit, die alle in ihren Bann zog.“ [15, 83]

In 1951 konstatiert er über beide: Das geniale Ehepaar („a pair of savants“) habe die Neurologie in ihre aktuelle Position gebracht, er vergleicht ihre Bedeutung mit der des Ehepaars Curie für deren Fachgebiet [14]. Neben der Breite und Tiefe der neurologischen Studien beschreibt er sie als neugierige und interessierte Naturforscher: So sammelten und studierten sie Hummeln und Insekten [25], bereisten viele Teile der Welt – was an Darwin erinnert. Sie seien äußerst disziplinierte Arbeiter mit festem Tagesablauf und markantem Charakter gewesen [14]. Die Wesenszüge Oskars werden oft als wesentliche Gründe für Dissonanzen zwischen ihm, der akademischen Welt, Fachkollegen oder Mitarbeitern genannt [2, 83]. Für einige abschätzige Meinungen waren sicherlich auch persönliche Gründe ausschlaggebend, so bei Flechsig, der – sicher im Zusammenhang mit persönlichen Vorfällen [83] – zitiert wird, O. Vogt sei eine:

„pathologische Persönlichkeit, ein Degeneré … auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Hirnlehre … beinahe lächerliche Figur, ungeheuer eingebildet, ohne jedes tiefere Wissen …, ein reiner Schwätzer“ [83]

Dass Oskar Vogt „besonders“ gewesen sein muss, liest sich sehr schön heraus aus einer Erinnerung von Auguste Forel, bei dem er früh arbeitete:

„Im Juli 1894 besuchte mich ein junger Arzt namens Dr. Oskar Vogt. Er bat mich, meine Kliniken, meine Vorlesungen und mein Laboratorium (letzteres war allerdings, wie gesagt, bedenklich verödet) besuchen zu dürfen und sagte mir etwa folgendes: Herr Professor, ich habe ziemlich viel hirnanatomische Studien gemacht, speziell über den Fornix (einen Gehirnteil), und ich habe gefunden, dass Sie sich da sehr geirrt haben. Ich möchte Ihnen die Sache zeigen. In der ersten Sekunde kam mir diese Art, sich bei mir einzuführen, etwas sonderbar vor, und ich hatte einen Augenblick inneren Ärger; doch ließ ich es nicht merken und sagte zu ihm: ‚Nun gut, wir wollen die Sache zusammen anschauen und wenn Sie recht haben, sollen Sie meine Irrtümer nur gründlich und ungeniert widerlegen.‘ Er zeigte mir in der Tat eine ganze Reihe sehr guter Gehirnpräparate, und ich musste mich überzeugen, dass er recht hatte. Seine ungeschminkte Art und vor allem seine wissenschaftliche Objektivität imponierten mir sehr, da sie wohltuend mit den gewöhnlichen höflichen Schmeicheleien oder Lobhudeleien kontrastierten, so dass wir bald gute Freunde wurden“ [83]

Die feingeweblichen Arbeiten der Vogts waren qualitativ sehr hochwertig. Die Großflächenschnitte [68, 70], präpariert mit Methoden von Nissl und Weigert, beeindruckten viele. Schon 1904 wurden sie auf der Versammlung der Anatomischen Gesellschaft mit Bravorufen bedacht [23]. Im Vordergrund, v. a. bei Ehrungen, stand oft O. Vogt, wenngleich klar gesagt werden kann:

„Cécile und Oskar Vogt haben nahezu alle … Arbeiten gemeinsam verfasst und nennen stets den Namen von Cécile an erster Stelle. Ihr Werk kann nur als ein gemeinsames betrachtet werden; Ihre Biographien bilden eine Biographie“ [50]

Vogt’sche Neurowissenschaft in Berlin: von der „Neurologischen Centralstation“ zum „Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung“

Oskar Vogt hatte früh die Vision und den Plan, eine eigenständige neurologische Einrichtung mit wissenschaftlichem Anspruch aufzubauen, und setzte diese frühzeitig privat in Berlin um. Die Ideen dahinter finden sich von ihm publiziert (z. B. [66, 67]). Vorbilder dafür waren u. a. die „Zoologische Station Neapel“ [55], einer damals für (Meeres)biologie legendären Einrichtung und auch das Obersteiner-Institut in Wien [61]. In ihrer Privatwohnung begannen neben einer nervenärztlichen Praxis erste Arbeiten, die sich der zerebralen Lokalisationsforschung widmeten mit Methoden der Zytoarchitektonik, Myeloarchitektonik und Stimulationsexperimenten an Tieren. Bewusst war diese Institution („Neurologische Centralstation“) außeruniversitär geplant worden [55], Bemühungen um Unterstützung trafen länger auf universitäre Widerstände [55]. Eine Starthilfe kam von Pierre Marie, der 30 Gehirne zum näheren Studium stiftete [14], sie sollen ein Hochzeitsgeschenk gewesen sein [29, 83]. So wundert es nicht, dass sich das junge Paar auf dem berühmten Hochzeitsfoto mit dem Hirnmikrotom fotografieren ließ (Abb. 3).

Abb. 3
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Hochzeitsphoto. (Cècile und Oskar Vogt Institut für Hirnforschung; aus Meier [33])

Früh gesellte sich Brodmann hinzu, den Vogt aus ärztlicher Tätigkeit in Bad Alexandersbad kannte, und der in den Jahren ab 1901 seine später berühmte Zytoarchitektonik der Großhirnrinde erarbeitete [4]. Es müssen sehr besondere Verhältnisse gewesen sein in dieser Wohnung mit improvisierten Bedingungen unter Mithilfe von angelernten Präparatorinnen [55, 83] – das Ganze im Kontext des haushaltlichen und gesellschaftlichen Alltags der Vogts.

Es heißt, die Tiere (z. B. Affen), an denen Untersuchungen und Experimente stattfanden, seien auf dem mit Netz überspannten Balkon gehalten worden, was zu Beschwerden aus der Nachbarschaft geführt habe [14, 61]. Es wird erinnert:

„Während Affen auf dem Balkon turnen (wichtig für die Arbeiten über umschriebene Funktionsgebiete des Gehirns), während menschliche Gehirne (gelegentlich solche von Selbstmördern oder Hingerichteten) in verhüllten Paketen ins Haus getragen werden, sitzt in den nervenärztlichen Sprechzimmern die Berliner Gesellschaft, Politiker, Schriftsteller, Dichter, Schauspieler, Weltdamen.“ (Zitat der Assistentin Thea Lüers, aus [61])

Eindrücklich gibt Allan Gregg, der wesentliche Vermittler und Geldgeber der Rockefeller-Foundation (entscheidend beteiligt auch in der Entstehung des Montreal Institute von Penfield [48]), seine Eindrücke wieder:

„… wir gingen dann zum Vogt-Institut … 3 Stockwerke in einem billigen Apartmenthaus. Eine überraschende Szenerie! Die Vogts haben 17 Jahre gearbeitet mit ärmlichem Equipment und inadäquatem Raum, aber mit einer Verständigkeit und Hartnäckigkeit, welche beide beeindruckend und bewundernswert sind“ (Zitat aus [61]).

Es entstanden umfangreiche Studien, die den Vogts Bekanntheit bescherten und bald eine große Anziehung auf ärztliche Forscher ausübten, die daran als Mitarbeiter oder Gäste mitwirken wollten: Korbinian Brodmann, Max Bielschowsky, Max Lewandowsky, Maximilian Rose, Richard Henneberg, Hermann Oppenheim u. v. m. [56, 83]. Viele Kollegen kamen aus aller Welt nach Berlin zu Besuch. Die Vogts trugen ihre Forschungen sehr aktiv auf der ganzen Welt vor.

Kolleginnen und Kollegen erinnern eindrücklich die beiden Persönlichkeiten [14, 56], so auch Santiago Ramon y Cajal [61]:

„[…] das Ehepaar Cécile und Oskar Vogt im Neurologischen Institut in Berlin, die an einer genauen Kartographie des Gehirns arbeiten, gleich[t] den Astronomen, die ihr ganzes Leben mit photographischer Darstellung und Katalogisierung der Himmelskörper und Nebelflecken verbringen. [… Bis spät in die Nacht] sitzt das Ehepaar Vogt einander gegenüber an dem großen Doppelschreibtisch […]. Dort entstehen ihre Manuscripte über die Störungen der Seele und über die Anatomie des Gehirns und über die Beziehungen zwischen beiden.“ (Cajal, zitiert in [61]).

Was unter diesen Bedingungen bis 1931 entstand, ist schier unglaublich. Von Beginn an ging es u. a. um die Herstellung einer hirnanatomischen Lehrsammlung [55]. 1904 wird berichtet [23, 29]:

„Man wendet sich an das Neurobiologische Institut und wird überschüttet mit Schnittserien des Menschenhirns, mit Serien von Tierhirnen aus allen Klassen und den Photographien eines Teiles dieser Serien, es werden Modelle aller Art zur Verfügung gestellt, Atlanten, die reiche Literatur, kurz, ein wahrer Schatz würde dem jungen Gelehrten vorgelegt, und er könnte, wenn nur seine Aufnahmefähigkeit proportional wäre, zur Menge der Hilfsmittel, in der kurzen Zeit von wenigen Woche als ein kompletter Kenner der Hirnanatomie die Anstalt verlassen“.

Die Neurologische Centralstation wurde 1902 institutionell in die Universität angegliedert (als „Neurobiologisches Laboratorium“) und 1914 zum KWI für Hirnforschung aufgewertet, verblieb aber im bisherigen Rahmen der Wohnung.

Erst 1931 wurde dann mit Eröffnung und Bezug des neu errichteten KWI in Berlin-Buch ein Lebenstraum der Vogts Wirklichkeit. Dies war das erste multidisziplinäre neurologisch-neurowissenschaftliche Institut seiner Art, in der Anlage ähnlich den späteren NINDS/NIH oder dem Montreal Neurological Institute. Am Bucher Institut arbeiteten zeitweise etwa 100 Mitarbeiter [56]. Glanz und Strahlkraft dieser Einrichtung kommt am besten zum Ausdruck in einem Zeitungsbericht von A. Koessler in der Vossischen Zeitung am 20. Dezember 1930 [21]:

„… in Berlin-Buch wurde das neu erbaute Institut für Hirnforschung … zum ersten Mal den Vertretern der in- und ausländischen Presse gezeigt; Geheimrat Planck … war persönlich erschienen; Professor Vogt, der Leiter des Instituts, berühmt seit 1808 … leitete selbst die Besichtigung und hielt einen Vortrag mit Lichtbildern …; …; (es) werden hauptsächlich die normalen menschlichen und tierischen Hirne … untersucht. … Schnitte von phantastisch dünnem Querschnitt [werden hergestellt] … bis zu 35.000 Schnitte … aus einem einzigen Gehirn … reif für das Mikroskop, unter dem man die Zellenstruktur der einzelnen Hirnpartien studieren kann … [sie] werden [danach] in einer Art Kartothek aufbewahrt …: die Kartothek der toten Gedanken; … Neben der anatomischen Abteilung … hat das Institut noch einen wahren Irrgarten der verschiedenen Laboratorien, Werkstätten und Sonderabteilungen; … Der Eindruck, den dieser Wunderbau des sezierten Intellektes bei seinen Besuchern hinterliess, war geradezu überwältigend.“ [21]

Fortsetzung der Forschungen am Institut für Hirnforschung in Titisee/Neustadt und das posthume Erbe der Vogts

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam es bald zu Aktivitäten, die Vogts, deren Verbindungen nach Moskau und Russland und die Beschäftigung jüdischer und ausländischer Mitarbeiter nicht gefielen [31], loszuwerden und O. Vogt aus der Leitung des Instituts zu drängen. Institut und Mitarbeiter wurden durch die SA drangsaliert [83]. Vogt selbst war kein Nationalsozialist, die Vogts nicht in Parteiorganisationen. Das Forscherpaar stand den Nationalsozialisten ablehnend gegenüber [31]. O. Vogt wird aber dafür kritisiert, sich bei diesen teils angebiedert zu haben [30]: Er habe z. B. Führungen für NSDAP-Leute durchgeführt [30]. Die Vogts verloren das Berliner Institut, bevor es zur systematischen Verwendung von Hirnen/Hirnschnitten von Nazi-Opfern kam. Näheres zur Frage, ob sich Präparate aus problematischem Kontext in der Vogt-Sammlung befinden könnten, wird diskutiert bei Martin [31]. Faktisch gab Vogt die Leitung 1934 auf, wenngleich sie formal bis 1937 bestand. Der Nachfolger wurde Hugo Spatz, die Forschungen nahmen dann eine ganz andere Richtung, v. a. neuropathologisch und beinhalteten mit der gezielten Einbeziehung von Euthanasieopfern ethisch verwerfliche Aktivitäten. Nach dem Krieg entwickelten sich andernorts aus dem KWI die Max-Planck-Institute für Hirnforschung. Die Vogts selbst bauten erneut ein eigenes, privates Institut auf, um ihre Arbeiten fortzusetzen, erneut mit Unterstützung der Krupp-Familie: das „Institut für Hirnforschung und allgemeine Biologie“ in Titisee/Neustadt bei Freiburg i. Br. Dorthin konnten sie größere Teile ihrer wertvollen Schnittesammlung mitnehmen. Diese existieren auch heute noch nebst anderem Nachlass in einer einzigartigen Sammlung, bewahrt durch das heutige Cécile & Oskar Vogt Institut für Hirnforschung in Düsseldorf (bisherige Leitungen: Adolf Hopf [1923–2011], gefolgt von Karl Zilles [1944–2020], gefolgt von Katrin Amunts: https://www.uniklinik-duesseldorf.de/patienten-besucher/kliniken/institute/zentren/c-u-o-vogt-institut-fuer-hirnforschung).

Zentrale Themen der Vogts: Auswahl in kurzer Übersicht

Gemeinsam publizierten die Vogts 51 Arbeiten. Es sind 16 Publikationen von Cécile Vogt alleine bzw. mit anderen Koautoren und 129 Publikationen von Oskar Vogt alleine bzw. mit anderen Koautoren. Es gibt Hinweise, dass Arbeiten Céciles unter Oskars Namen erschienen [83].

Zytoarchitektonik und Myeloarchitektonik (z. B. [687379])

An koronaren Großflächenschnitten ganzer Gehirne erfolgten eingehende Analysen und Kartierungen. Domäne der Vogts war die Definition von Rindenfeldern aufgrund der Fasercharakteristik (Myeloarchitektonik), dies führte zu deutlich mehr Arealen bzw. Subarealen als die Zytoarchitektonik. 1911 wurden die Begriffe „Isocortex“ und „Allocortex“ eingeführt [14, 84].

Stimulationsexperimente (z. B. [72, 78, 81])

Diese wurden an verschiedenen Spezies durchgeführt [83] und vergleichend anatomisch-physiologisch auf das humane Hirn übertragen in Abgleich mit Erkenntnissen humaner Stimulationen, v. a. die von Otfrid Foerster [81]. Die Erkenntnisse wurden mit großem Interesse aufgenommen von Klinikern wie Foerster, Wilder Penfield und Harvey Cushing [26, 49].

Lehre der topistischen Einheiten (z. B. [74, 76, 81])

Dies ist der große Überbau, in den alle Überlegungen und Forschungen der Vogts einflossen [56] und die Grundlage der Pathoklisetheorie [77, 80]. Hierzu führten sie aus:

„Unter Topistik des Nervensystems verstehen wir die Lehre von den aufgrund gemeinsamer Eigenschaften (Merkmale) zusammengefassten nervösen Einheiten. Diese können aus topographischen Bezirken bestehen. Im Rahmen derselben deckt sich die Topistik mit der bisherigen Lokalisationslehre. Sie kann aber den topographischen Einheiten systematische hinzufügen … in dem sie … Teile zu Systemen zusammenfasst, welche trotz räumlichen Getrenntseins ein gemeinsames Merkmal haben“ [76]

„Unter topistischer Einheit verstehen wir jegliche Zusammenfassung von Teilen des Zentralnervensystems aufgrund einer gemeinsamen funktionellen und dementsprechend letztlich physikochemischen Besonderheit“ [77]

In diesem Zusammenhang fällt erstmals der Begriff der „Neuronensysteme“ [76].

(Patho)anatomie von Thalamus und Basalganglien (z. B [75, 82])

Die Vogts prägten den Begriff „Striatum“, mit dem sie Putamen und Caudatus als topistische Einheit zusammenfassten. Die Erforschung des Thalamus (zusammengefasst in Thalamusstudien: [82]) und der subkortikalen Ganglien mit ihren Erkrankungen, wie z. B. Chorea Huntington, Athetose, Hemiballismus usw., wird als eine ihrer großen Leistungen angesehen [83]. Cécile Vogt beschrieb die Grundlagen einer seltenen, eigentümlichen Bewegungsstörung bei Kindern („athetose double“): den Status marmoratus („Etat marbre“, Cécile Vogt-Syndrom).

Entwicklung des Gehirns (z. B. [69, 71])

In systematischen Aufarbeitungen von Gehirnen unterschiedlichen Alters erarbeiteten die Vogts, v. a. Cécile, Karten der Ausreifung der Myelinisierung, die sie in detaillierten ästhetischen Schemazeichnungen festhielt(en).

Arbeiten von epileptologischer Relevanz

Die Arbeit der Vogts scheint zunächst keinen klaren Bezug zur Epilepsie und Epilepsieforschung zu haben, da sie die Epilepsie nicht eingehend beforschten oder gezielt dazu publizierten. Sie verfolgten den viel grundlegenderen Ansatz, das Gehirn in seinem üblichen strukturellen Aufbau und seiner physiologischen Funktion zu verstehen und beides zusammenzuführen. Anfänglich zielte dieses Unterfangen auf ein Grundverständnis der sog. „Psychosen“, wofür sie die Grundlagen legen wollten [65]. Ihre Fragestellung setzen die Vogts global an, den Blick auf das ganze Gehirn gerichtet. Daher arbeiteten Sie auch mit Großflächenschnitten und suchten das ganze Hirn zu kartografieren. Diese Fleißarbeit galt viele Jahre dem normalen Gehirn, war also nicht neuropathologisch orientiert. Die Arbeiten, deren zytoarchitektonischer Teil v. a. von Brodmann durchgeführt wurde und zu deren Einteilung führte (Brodmann-Areale), bildet heute noch eine wesentliche Grundlage der Verortung bestimmter Funktionen an bestimmten Stellen des Großhirns, ohne die eine moderne Epileptologie und Gehirnchirurgie nicht denkbar sind. Erinnert werden sollte, dass Brodmanns Einteilung keineswegs die einzige war oder blieb, denn einige weitere Forscher erarbeiteten in den 1920er- bis 1950er-Jahren ebenfalls zellbildbasierte Karten der Rinde, so z. B. von Economo und Koskinas, Bailey und von Bonin, die russische Schule unter Sarkissov und weitere [43, 84]. Rindenkarten auf der Basis anderer Grundlagen wie Myeloarchitektonik oder Stimulation (Übersicht bei [49]) führten zu unterschiedlichen Ergebnissen, v. a. in Bezug auf die Anzahl der Felder, aber auch zu bemerkenswert konstanten Resultaten. Hinsichtlich der Gliederung der Rinde in umschriebene Areale bestand ein engerer Austausch zwischen den Vogts und Otfried Foerster in Breslau [14, 62, 81], der seinerseits am menschlichen Gehirn operierte unter Anwendung von Elektrostimulation (i. W. zur Identifikation des Motorcortex). Foerster wiederum stand in enger Verbindung mit internationalen Kollegen, so z. B. den Neurochirurgen Cushing oder Penfield. Penfield besuchte 1928 gemeinsam mit Foerster das Vogt-Institut, was er eingehend beschrieb [48]. Der Austausch zwischen Penfield und Vogt war persönlich und direkt, wie aus erhaltener Korrespondenz im Vogt-Archiv hervorgeht. Die Vogt’schen Arbeiten und Erkenntnisse waren, auch wenn sie sich nicht in der Breite mit ihrem Namen verbunden durchsetzten, ein wesentlicher Motor und Bestandteil der aufkeimenden Erkenntnisse zur funktionellen Gliederung der Hirnrinde und des ZNS. Die Kartierung einer funktionellen Felderung nach einem reproduzierbaren, einheitlichen Bauplan war eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der modernen Hirnchirurgie inklusive der Epilepsiechirurgie [6]. Hirnchirurgen wie Foerster [7], Krause [24], Cushing und Penfield [26] bestätigten die von Vogt an Tieren gemachten Stimulationsbeobachtungen für den Menschen, v. a. was die Sensomotorik betrifft.

Die Überlegungen und Theorien der Vogts gingen weit über die „einfache“ Überlegung hinaus, an welchem Ort welche Funktion verankert sei und wie sich dies morphologisch charakterisiert: Sie dachten weiter in die Richtung, dass bestimmte Teile des ZNS auch in charakteristischer Weise selektiv erkranken können, da sie gegen bestimmte Einflüsse speziell empfänglich seien, was auch genetisch determiniert sei. Diese Sachverhalte stehen hinter den Begriffen der „topistischen Einheiten“ und der „selektiven Vulnerabilität“. Die Annahme einer selektiven Vulnerabilität topistischer Einheiten ist der Kern ihrer Pathoklisetheorie [74, 76, 77, 80]. Die Pathoklisetheorie war damals etwas sehr Ungewöhnliches und Modernes, basierten doch viele Krankheitsvorstellungen über die Pathophysiologie von ZNS-Erkrankungen auf Grundprozessen wie „vaskuläre Schädigung“, „Entzündung“ oder „Degeneration“.

Warum sind in bestimmten Krankheitsszenarien ausgewählte anatomische Orte oder Funktionssysteme sehr selektiv betroffen? Dazu wird ausgeführt:

„[Wir sehen] die Ursache der … topistischen Krankheiten in einer gesteigerten Vulnerabilität der … Träger des Krankheitsprozesses. Diese … ist in der inneren Struktur und damit letztlich in dem besonderen Physikochemismus der erkrankenden Gewebselemente begründet“ [77]

Bestärkt sahen sich die Vogts durch klassische Beispiele selektiver Schädigungsmuster, wie z. B. die selektive Schädigung des Pallidums durch Kohlenmonoxid oder die spezifische Pathoanatomie bestimmter striärer Erkrankungen [14, 45]. Innerhalb der Epileptologie fand die Pathoklisetheorie eine tiefere Anwendung auf das Verständnis der AHS, dies in scharfem Kontrast zur Theorie Walther Spielmeyer’s und seiner Schüler von einer rein vaskulär bedingten, sekundärem Schädigung [3] als Folge anfallsbedingter Gefäßveränderungen in einer speziellen Angioarchitektur im Verbund mit pathophysiologischen Gefäßreaktionen, wie z. B. Spasmen [27, 53, 58,59,60, 64]. Die besonderen Verhältnisse der hippokampalen Gefäßversorgung und deren Implikationen werden bis heute diskutiert [36].

Es ging um die Erklärung der selektiven Nervenzelluntergänge in bestimmten Sektoren des Cornu ammonis, v. a. dem Sommer’schen Sektor (CA1) und dem Endfolium (CA 3/4), dabei auch um die Frage, ob die AHS eine Ursache oder Folge der Epilepsie sei [63]. Ein wesentliches Argument der Vogts für ihre Theorie war, dass der beobachtete selektive Nervenzellausfall in seinen scharfen Grenzen zwischen betroffenen und „resistenten“ Sektoren (CA2) gut den Grenzen der nach Ihnen zytoarchitektonisch definierten Abschnitte des Hippocampus entsprach [3, 77, 81].

Hierzu wird in dem grundlegenden Beitrag von 1925 ausgeführt [77]:

„Ein genaueres Studium der sogenannten Ammonshornsklerose lehrt nun eine bestimmte Eunomie [Anmerkung: Der Begriff Eunomie steht hier für die Beobachtung einer geordneten, gesetzmäßig erscheinenden Affektion einer topistischen Einheit durch einen Krankheitsprozess]. Es erkrankt zuerst der Sommersche Sektor, an zweiter Stelle der von der Fascia dentata umschlossene Abschnitt, das Endblatt, an dritter Stelle der zwischen den beiden Gebieten gelegen Teil und erst zuletzt die Subikulargegend. Dabei erweist sich die Begrenzung dieser einzelnen Sektoren bei genauem Studium als eine unerwartet scharfe. Ist unsere Pathoklisetheorie nun richtig, so müssen wir annehmen, dass die Ganglienzellen dieser vier Abschnitte des Ammonshorns differente physikochemische Eigenschaften haben, und weiter vermuten, dass sich diese Verschiedenheiten auch in der Zellmorphologie äußern [… in der Tat:] diese 4 Teile des Ammonshorns sind scharf voneinander abgrenzbar …“

Die charakteristischen Grenzen wurden sogar in den publizierten Abbildungen seiner akademischen Gegner gesehen! (ausgeführt in Vogt 1937 [81] in Bezug auf Spielmeyer und Uchimura [59]; s. Abb. 4).

Abb. 4
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Auf dieser Abbildung aus Spielmeyer 1927 [59] beziehen sich die Vogts in Vogt 1937 [81] mit der Aussage: „[Die Abbildung] zeigt die schwer erkrankte h1 scharf gegen h2 abgesetzt“. Anmerkung: In der „h“-Nomenklatur nach Rose [51] entspricht h1 i. W. dem Sommer Sektor bzw. CA1 (© Springer)

Selbstbewusst tragen Sie vor:

„Wie ist diese Differenz zu erklären? Es scheint uns, dass Spielmeyer die architektonischen Grenzen nicht genügend beachtet und in Folge des Fehlens von Schnittserien nicht zu einem vollständigen Überblick über die quantitative Verteilung der krankhaften Veränderung gelangt“ [80]

In der Lektüre der Literatur bekommt man den Eindruck, dass die Vogts und Spielmeyer eine akademische Diskussion auf höchstem Niveau austrugen, sich aber keineswegs feindlich gesinnt waren und Anteile der jeweils anderen Position würdigten [46, 47]. So führt Spielmeyer in seinem Aufsatz „Über örtliche Vulnerabilität“ [60] aus:

„So kann es nach klinischen, anatomischen und experimentellen Erfahrungen keinem Zweifel unterliegen, dass es wirkliche Systemerkrankungen gibt, und dass die inneren in den Geweben liegenden Eigenschaften (Ehrlich) den ortsbestimmenden Faktor abgeben. Dieser Typus der Vulnerabilität würde also dem entsprechen, was C. und 0. Vogt ‚Pathoclise‘ nennen! … Nicht zum wenigsten aber machen es die in diesen Problemen liegenden Schwierigkeiten verständlich, dass verschiedene Autoren in langjährigen Untersuchungen an einem und demselben Objekt zu einer ganz verschiedenen Deutung kommen können, wie C. und O. Vogt einerseits, ich andererseits hinsichtlich der Auffassung der örtlich elektiven Vulnerabilität im Ammonshorn … Wenn ich auch – entgegen der Behauptung eiliger Kritiker – durchaus … von dem Vorkommen pathokliner Erscheinungen im Sinne Vogts überzeugt bin und seinen Gedankengängen darin folge, so stehe ich doch hinsichtlich der eben genannten Dinge noch auf meinem früheren Standpunkt. So glaube ich, dass eine auf bestimmte Areae beschränkte Pathoklise bisher nicht erwiesen ist“ [60]

Dass Spielmeyer den Vogts eine gewisse Wertschätzung entgegenbrachte, geht auch aus der persönlichen Korrespondenz der beiden hervor (zit. in [46, 47]). Eine umfangreiche Korrespondenz mit Spielmeyer ist im Vogt-Archiv erhalten (Auskunft K. Amunts, H. Fangerau) und sicher eine eigene Arbeit wert. Die Pathoklisetheorie wurde auch von anderen interessiert aufgenommen und diskutiert, so z. B. von Alfons Maria Jakob [18]:

„C. und O. Vogt glauben, die verschiedenen Formen der Pathoklise (z. B. auch die des Ammonshorns) in den physikochemischen Differenzen der strukturellen Einheiten zu sehen und stellen so – wie sie in mehreren feinsinnigen Arbeiten begründen – die Strukturorganisation in ihrem physikalisch-chemischen Aufbau in den Vordergrund. Leider ermangeln wir aber heute noch eines tieferen Einblickes in den Physikochemismus der einzelnen Zentren.“ [18]

Die antipodischen Positionen zur AHS wurden lange in der Epileptologie weiter diskutiert (z. B. [3, 5, 28, 34, 35, 53, 57, 63]). Letztlich zeigten spätere Studien gut auf, dass die selektive Vulnerabilität am ehesten auf Besonderheiten in der Anatomie und der Verteilung bestimmter Transmitter- und Rezeptorsysteme sowie weiterer Zelleigenschaften in dezidierten Neuronenverbänden zurückgeht, was eine sog. Exzitotoxizität bestimmter Neurone favorisiert [11], möglicherweise in Verbindung mit einer „initial precipitating injury“ (IPI), wie z. B. einem Fieberkrampf bzw. febrilen Status epilepticus und/oder frühem Onset [32, 35]. Diese Verbindung wurde erstmals von Alfred Meyer am Londoner Maudsley Hospital artikuliert [5, 37, 63] – ein Konzept, das gut mit der „Pathoklisetheorie“ harmoniert [3, 12, 53].

Zusammenfassung und Ausblick

Die Aussage Helmchens über die Vogt’sche Forschung, dass „diese Befunde der Grundlagenforschung i. e. S. bisher noch nicht zu klinisch brauchbaren Ergebnissen geführt [haben]“ ist zu pauschal, greift zu kurz und ignoriert ihre richtigen Beobachtungen [16]. Während dies für bestimmte, klassische psychiatrische Symptomkomplexe noch gelten mag, so zeigt die detaillierte Beschäftigung mit dem Werk der Vogts anderes. Eindrücklich wurde z. B. von Nieuwenhuys dargestellt, dass die Befunde der Vogts im Wesentlichen korrekt sind und Relevanz für die Gegenwart haben [42,43,44]. Auch anhand moderner Techniken lassen sich die bekannten Brodmann-Areale in kleinere Unterfelder unterteilen (Referenzen in [8, 9, 43]). Die Erkenntnisse der Vogts wirken im Detail bis in Klinisch-Aktuelles nach: So weist z. B. eine rezente Studie über die Funktionalität und Plastizität des Motorcortex bei zentralen Resektionen klare Bezüge zu den Vogts auf [10, 41]. Bei aller Wertschätzung durch viele Kolleginnen und Kollegen, die jedem, der Cécile und Oskar Vogt nachspürt, aus Publikationen entgegenspringt, erstaunt, wie sehr der klinische Bereich sie heute vergessen zu haben scheint. Zu den Umständen, die dies erklären, mag gehören, dass ihr Ansatz allzu klinikfern wirkte, so empfand dies auch Penfield [48]. Es mag auch an dem schieren Umfang ihres Ansatzes und Vorhabens gelegen haben und an einer gewissen Sperrigkeit vieler ihrer Begrifflichkeiten, wie z. B. „Pathoklise“. Gerade das Konzept der Pathoklise aber hat sich v. a. für die Pathologie und Pathophysiologie der AHS als „seherisch“ und wegweisend erwiesen.

Epilog

„… obwohl zwischen Pierre Marie und Dejerine und ihren Schulen eine ausgesprochene Gegnerschaft, ja Feindschaft bestand, hinderte das nicht, dass, wie in manchem weltberühmten Drama, zwischen Oskar Vogt und Cécile Mugnier aus den verfeindeten neurologischen Stämmen, zwischen dem Deutschen und der Französin, zwischen dem Protestanten und der Katholikin … ein Roman sich entwickelte, der 1899 zur Heirat führte. Es zeugt von der Tiefe und Innigkeit der Gefühle, dass Cécile Vogt auf ihre in Paris sich glänzend anbahnende medizinische Karriere verzichtete, um sich hier an der Seite ihres Mannes ganz der Hirnforschung zu widmen. Es war eine äußerst glückliche Verbindung von zwei hochstehenden, ungewöhnlichen Menschen, in der sich deutsche Gründlichkeit mit französischem Geist vereinte, die gerade 60 Jahre dauerte (Abb. 5) und ein Lebenswerk von einem Ausmaß und einer Tiefe ermöglichte, wie es sonst nicht möglich gewesen wäre.“

M Minkowski/Zürich – 1961 [38]

IMPADIVI PROGREDIAMUR! – „Unverzagt wollen wir vorwärtsschreiten“

C. & O. Vogt 1922 [76]

Abb. 5
figure 5

C. und O. Vogt im hohen Alter. (Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin, VI. Abt., Rep. 1, Vogt, Oskar 9 [17])