Psychogene nicht-epileptische Anfälle (PNEA) (synonym: funktionelle/dissoziative Anfälle) sind eine wichtige Differenzialdiagnose zu epileptischen Anfällen und keine seltene Erkrankung. Die Prävalenz liegt in Deutschland repräsentativen Krankenkassendaten zufolge mit 23/100.000 ähnlich hoch wie in Norwegen [1]. In Epilepsiezentren werden bei bis zu 20 % der Patientinnen und Patienten PNEA diagnostiziert [2].

Es haben 12 % der Menschen mit Epilepsie zusätzlich psychogene Anfälle; aus der anderen Richtung betrachtet: 22 % der Menschen mit psychogenen Anfällen haben zusätzlich eine Epilepsie [3].

Es ist leicht nachvollziehbar, dass die Betroffenen sich mit dem Symptom einer anfallsartigen Störung zunächst zur Diagnostik in eine neurologische Klinik oder ein Epilepsiezentrum begeben. Nach der diagnostischen Sicherung (Goldstandard Video-EEG-Ableitung) besteht beim Vorliegen von PNEA die leitliniengerechte Behandlung aus ambulanter und/oder stationärer Psychotherapie, wobei diese Behandlung idealerweise in einem Epilepsiezentrum verortet sein sollte [4]. Seit vielen Jahren und teilweise Jahrzehnten (Bernau 2003, Bethel 1990, Kork 1987) haben sich deswegen in diakonischen Epilepsiezentren vorwiegend psychotherapeutisch arbeitende Stationen etabliert, die sich auf die Versorgung von Menschen mit PNEA spezialisiert haben.

International und national hat sich in den letzten Jahren der Begriff „funktionelle/dissoziative Anfälle“ oder „funktionelle neurologische epileptiforme Anfälle (FNEA)“ etabliert. Der Begriff „funktionelle/dissoziative Anfälle“ wird voraussichtlich in Zukunft den Begriff PNEA ersetzen.

Diese Versorgungsrealität wird nun in den letzten Monaten durch den Medizinischen Dienst aus formalen Gründen zunehmend infrage gestellt. In den entsprechenden Begutachtungen wird darauf verwiesen, dass bei Stellung einer F‑Diagnose (PNEA entspr. ICD-10 GM F44.5) die Versorgung in einer psychiatrischen bzw. psychosomatischen Klinik und nicht in einer neurologischen Klinik (wie es ja die Epilepsiezentren laut Krankenhausplan sind) erfolgen müsse. Die Kostenübernahme wird in einigen Zentren regelhaft abgelehnt. Wir sind der Auffassung, dass die Ablehnung der Kostenübernahme einer Behandlung in einem Anfallszentrum ungerechtfertigt ist und sich, wenn diese Praxis nicht aufhört, die Versorgung der Patientenklientel mit PNEA gravierend verschlechtern wird. Tatsächlich wäre eine sachdienliche therapeutische Versorgung dieser massiv beeinträchtigten Patientinnen und Patienten nicht mehr möglich.

Zur Begründung weisen wir auf Folgendes hin:

  1. 1.

    Komplexe Krankheitsbilder überschreiten die Grenzen einzelner Fachgebiete. Psychogene nicht-epileptische Anfälle sind ein komplexes Krankheitsbild an der Schnittstelle zwischen Neurologie und Psychiatrie. Aktuell werden in der medizinischen Versorgung starre Grenzen zwischen Fachbereichen zugunsten fachübergreifender Kooperationen abgebaut. In vielen Fachgebieten werden interdisziplinäre Zentren zur multiprofessionellen Versorgung etabliert. In der ICD-11-Klassifikation wird der Begriff einer „dissoziativen neurologischen Symptomstörung“ verwendet. In den letzten Jahren haben funktionelle neurologische Störungen international [5] und national (Gründung einer entsprechenden Arbeitsgemeinschaft, https://www.ag-fns.de, European Academy of Neurology mit Etablierung eines eigenen wissenschaftlichen Panel) als Thema und Aufgabe der Neurologie an Bedeutung gewonnen, und es wird von einem biopsychosozialen Krankheitsmodell funktioneller neurologischer Anfälle ausgegangen. Funktionelle/dissoziative Störungen gehören nach ICD-11, der zwar noch nicht in Benutzung, aber seit langer Zeit verabschiedet ist, somit sowohl zu den psychiatrischen als auch zu den neurologischen Krankheiten [6, 7].

    Wir sehen die Argumentation des Medizinischen Dienstes somit als nicht mehr zeitgemäß an. Die Einrichtung psychotherapeutischer Einheiten in Epilepsiezentren bereits vor vielen Jahren war vielmehr zukunftsweisend und hat sich nachhaltig bewährt.

  2. 2.

    Wie oben ausgeführt, wenden sich Patientinnen und Patienten mit dem Symptom „Anfall“ an neurologische Kliniken bzw. Epilepsiezentren. Folgt man der Logik des Medizinischen Dienstes, müssten diese Menschen nach der Diagnosestellung zur Psychotherapie in eine psychiatrische oder psychosomatische Klinik verlegt werden.

    Die Abgrenzbarkeit von PNEA zu epileptischen Anfällen ist sehr schwierig, insbesondere wenn beide Entitäten vorliegen. Es bedarf dazu der klinischen Beurteilung, Begleitung und Dokumentation durch geschultes Personal und der Möglichkeit ständiger diagnostischer Evaluation durch Video-EEG-Überwachung mit der Option, im Zweifelsfall ein Notfall-EEG oder sogar ein erneutes Monitoring durchzuführen. Diese diagnostischen Methoden sind ein Alleinstellungsmerkmal von Epilepsiezentren im Vergleich zu psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken. Ohne sie sind korrekte Diagnosestellungen nicht möglich.

    Diagnostische Unsicherheiten in den Psychiatrien erschweren die psychotherapeutische Behandlung und führen nicht selten, wenn dort erneute Anfälle auftreten, im Sinne eines Circulus vitiosus zu notfallmäßigen Rückverlegungen in neurologische Kliniken.

    Die Erfahrung zeigt sogar: Psychiatrische Kliniken fühlen sich aufgrund der fehlenden diagnostischen Ressourcen mit der Einordnung und Behandlung von Anfällen überfordert und nehmen Patientinnen und Patienten mit psychogenen Anfällen ungern oder gar nicht auf. Regelmäßige Zuweisungen von psychiatrischer/psychologischer Seite an die psychosomatische Epileptologie weisen ebenfalls indirekt auf die Überforderung in diesen Fachgebieten hin.

    Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass zahlreiche Notfallversorgungen nicht nur Patientinnen und Patienten gefährden, sondern auch zu hohen volkswirtschaftlichen Kosten führen [8].

    Dem kann vorgebeugt werden, wenn die psychotherapeutische Behandlung in Epilepsiezentren mit der Expertise für Diagnostik und Behandlung erfolgt.

  3. 3.

    Für die Krankheitsakzeptanz hat es sich als hilfreich erwiesen, wenn bereits bei der Aufklärung über die Diagnose PNEA in der epileptologischen Klinik Kenntnis über weiterführende psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten besteht und bereits bei der Diagnosestellung ein psychotherapeutischer Erstkontakt erfolgen kann [9]. Dies ist nur möglich, wenn Diagnostik und Therapie im selben Zentrum erfolgen. Schließlich ist es für die Prognose essenziell, nach der Diagnosestellung und Aufklärung unmittelbar geeignete therapeutische Schritte einzuleiten [10], wie dies bei der gängigen Vorgehensweise in Epilepsiezentren gewährleistet ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn beide Entitäten, PNEA und Epilepsie, vorliegen.

    Hervorzuheben ist, dass dieses Vorgehen der S3-Leitlinie „Funktionelle Körperbeschwerden“ entspricht [11].

  4. 4.

    Wir hören von zahlreichen Patientinnen und Patienten, dass sie oft lange nach einer psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeit sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor suchen und berichten, nur schwer oder gar nicht einen Therapieplatz zu finden. Es gibt also eine Versorgungslücke bei der Behandlung dieser schwer betroffenen Menschen. Die diakonischen Epilepsiezentren leisten mit ihren Angeboten einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke.

  5. 5.

    Schon seit Langem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass in stationären Settings mit Expertise für anfallsartige Störungen bessere Behandlungsergebnisse bei PNEA erzielt werden [12]. Dies wird auch durch teils jahrzehntelange Erfahrungen in deutschen Epilepsiezentren bestätigt. Bei über 70 % der in der Epilepsieklinik Tabor in Bernau zwischen 2004 und 2013 (teils wiederholt) stationär behandelten Fälle verloren zuvor langjährig bestehende PNEA ihre Alltagsrelevanz, über 40 % blieben anhaltend anfallsfrei [13].

    In einer prospektiven Studie des Epilepsie-Zentrums Bethel führte die untersuchte stationäre verhaltenstherapeutisch ausgerichtete multimodale Psychotherapie zu einer subjektiv verbesserten Anfallssituation bei über 74 % der Patientinnen und Patienten sowie zu einer Besserung der untersuchten psychopathologischen Parameter [14].

  6. 6.

    Ein zentraler Ansatz der stationären Behandlung ist das rasche Erlernen von Strategien zur Erkennung und Vermeidung von Auslösern, zur Wahrnehmung sich anbahnender Anfälle sowie zur Unterbrechung von Anfällen durch die Betroffenen. Diese Kompetenzen spielen auch bei der Therapie epileptischer Anfälle eine Rolle. Entsprechende therapeutische Angebote sind daher an Epilepsiezentren gut etabliert [15]. Erst eine gewisse Kontrolle der Anfälle schafft die Voraussetzung für eine ambulante Psychotherapie. Tägliche, mit langer Reaktions- und Bewegungsunfähigkeit verbundene Anfälle (15–60 min sind keine Seltenheit) sind mit einer ambulanten, termingebundenen psychotherapeutischen Praxis nicht vereinbar. Auch daher herrscht Zurückhaltung bei der Vergabe von Therapieplätzen an Menschen mit PNEA.

Die Argumentation des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen entspricht nicht der Versorgungsrealität. Sie würdigt die Nöte der uns anvertrauten und hoch belasteten Klientel nicht ausreichend. Unsere Forderung lautet daher, dass die Kosten für eine stationäre Behandlung von PNEA in dafür spezialisierten Epilepsiezentren regelhaft von den jeweils zuständigen Kostenträgern übernommen werden.