1. Einleitung

Das Wissen über die genetischen Hintergründe von Epilepsien hat im vergangenen Jahrzehnt einen enormen Zuwachs erfahren. Hochdurchsatz-Sequenziermethoden (next-generation sequencing, NGS) erlauben die Identifikation einer stetig wachsenden Zahl von Epilepsiegenen in der Wissenschaft sowie eine umfassende, zeitlich und ökonomisch tragbare genetische Diagnostik in der klinischen Anwendung. Eine stetig wachsende Zahl von neu beschriebenen Epilepsiegenen belegt die Wirksamkeit dieser Verfahren. Fortschritte im Bereich der Bioinformatik und der statistischen Genomik haben die Bewertung genetischer Varianten erleichtert und zur Dechiffrierung komplexer genetischer Epilepsiesyndrome beigetragen. Diese Erkenntnisse haben auch dem Streben nach einer zunehmenden Personalisierung der Behandlung Vorschub geleistet. Dies impliziert die Abwendung vom Prinzip „one size fits all“, hin zu einer individualisierten Therapie, welche nicht nur das betroffene Gen berücksichtigt, sondern auch die genaue genetische Variante mit deren funktionellen Konsequenzen.

Für viele der Behandler:innen von an Epilepsie erkrankten Personen ist das Feld der Epilepsiegenetik im klinischen Alltag kaum noch zu überblicken. Auch wenn die genetische Diagnostik einen zunehmenden Stellenwert einnimmt, bleiben bei der Indikationsstellung, Befundbewertung und praktischen Umsetzung oftmals Fragen offen.

Um die zunehmenden Kenntnisse im Bereich der Epilepsiegenetik in sinnvoller Weise in den klinischen Alltag zu integrieren, wurde im Rahmen der DGfE Jahrestagung 2016 in Jena die Kommission „Epilepsie und Genetik“ gegründet. Sie geht auf die informelle „Arbeitsgemeinschaft Genetik“ zurück, welche seit 2013 regelmäßige Treffen im Rahmen der Jahrestagungen organisiert hatte. Die Kommission gibt regelmäßig überarbeitete Empfehlungen heraus und organisiert zudem Symposien zu klinisch relevanten Aspekten der Genetik auf den Jahrestagungen der DGfE. Diese aktuell vorliegenden Empfehlungen stellen eine Weiterentwicklung der letzten Version von Dezember 2021 dar und tragen den aktuellen Empfehlungen der International League Against Epilepsie (ILAE) Commission on Genetics Rechnung [1]. Aufgrund der schnellen und umfangreichen Änderungen in dem Feld der Epilepsiegenetik kann diese Übersicht keineswegs vollständig sein. Die Mitglieder der Kommission stehen gerne für die Diskussion von Einzelfällen und eine Beratung zum diagnostischen Vorgehen sowie zur Bewertung eingegangener Befunde zur Verfügung.

Die Indikation genetischer Diagnostik bei bestimmten Formen von Epilepsien ist mittlerweile unstrittig. Vor allem bei den sogenannten Entwicklungsbedingten und Epileptischen Enzephalopathien (DEE, developmental and epileptic encephalopathies) ist die genetische Diagnostik kosteneffektiv, zeitsparend und kann andere aufwendige und belastende diagnostische Maßnahmen unnötig machen [2, 3]. Der Nachweis einer genetischen Diagnose bei Kindern mit Erkrankungsbeginn vor Vollendung des 3. Lebensjahres impliziert bei ca. 80 % spezifische therapeutische Maßnahmen [4]. Bei Erwachsenen ergeben sich etwa bei einem Drittel der erkrankten Personen relevante therapeutische Konsequenzen [5]. Präzisionstherapien im Sinne von drug repurposing, d. h. zu einem anderen Zweck verwendeten Medikamenten stehen zunehmend zur Verfügung [6]. Auch gentherapeutische Ansätze befinden sich z. Zt. in Entwicklung und werden in Zukunft gezielte Behandlungsansätze für bestimmte Syndrome ermöglichen [7, 8]. Darüber hinaus ermöglicht die Kenntniss der genetischen Diagnose gegebenenfalls eine gezielte pränatale Diagnostik und in besonderen Situationen das Screening im Rahmen der In-vitro Fertilisation [3, 9]. Die Beratung der Betroffenen und derer Familien wird zudem erleichtert und kann sich an publiziertem Erfahrungswissen über den Erkrankungsverlauf orientieren, muss jedoch gleichzeitig immer auf den individuell unterschiedlichen und nicht vorhersagbaren Verlauf im Rahmen der großen phänotypischen Varianz hinweisen. Dies ermöglicht letztendlich eine bessere Planung von notwendigen sozialen, therapeutischen und pädagogischen Ressourcen zur bestmöglichen Versorgung für Betroffene [10]. Nicht zuletzt darf die psychologische Bedeutung einer genetischen Diagnose nicht unterschätzt werden. Oftmals spielen in betroffenen Familien Schuldgefühle für die Erkrankung des Kindes eine Rolle. Ein besseres Krankheitsverständnis kann Familien helfen hier einen angemesseneren Umgang zu finden und ermöglicht zudem einen gezielten Anschluss an Unterstützungs- und Selbsthilfenetzwerke [11, 12].

2. Epilepsiegenetik und genetische Diagnostikmethoden

Um die Diagnostikmethoden und ihren potenziellen Nutzen zu verstehen, ist es hilfreich, vorab einen Überblick über die möglichen Vererbungsmodi zu haben (Tab. 1). Viele Epilepsien haben genetische Ursachen, die nicht den Mendelschen Regeln folgen, und einige Epilepsien können genetisch bedingt sein, obwohl sie nicht vererbt werden (siehe Helbig et al.[13]).

Tab. 1 Genetische Diagnostikmethoden und Anwendungen sowie deren Vor- und Nachteile im Vergleich

Monogenetische Epilepsien.

„Monogene“ Epilepsien werden durch eine Veränderung in einem einzelnen Gen verursacht, folgen grundlegenden Vererbungsmustern (autosomal dominant (AD), autosomal rezessiv (AR), X‑chromosomal, mitochondrial; siehe Tab. 2) und sind Hauptziel der genetischen Diagnostik. Zusätzliche genetische „Modifikatoren“ könnten jedoch eine Erklärung für einige der phänotypischen Variationen darstellen [14]. Monogene Epilepsien sind selten, machen aber zusammen einen signifikanten Anteil der genetischen Epilepsien aus. Die meisten familiären selbstlimitierenden Epilepsiesyndrome haben eine monogene Ursache, während isolierte (nicht familiäre) Fälle mit generalisierter (GE) oder fokaler Epilepsie (FE) ohne Entwicklungsverzögerung nur selten monogen bedingt sind. Zu den monogenen Epilepsien gehören auch Epilepsien, die auf einer de novo (neu entstandenen) Veränderung basieren. Dies trifft auf die überwiegende Mehrheit der DEEs zu. In 5 bis 10 % der Fälle kann jedoch ein sogenanntes Keimzellmosaik bei einem Elternteil vorliegen, welches ein höheres Wiederholungsrisiko darstellt [15, 16] – ein wichtiger Punkt für die genetische Beratung. Pathogene (krankheitsversursachende) genetische Varianten umfassen u. a. Einzelnukleotidvarianten (single nucleotide variant, SNV) und Kopienzahlvarianten (copy number variant CNV, z. B. Deletionen und Duplikationen) oder Repeat-Expansionen.

Tab. 2 Erbgänge und Wiederholungsrisiken sowie weitere Informationen zu den jeweiligen Erbgängen adaptiert von Krey et al. [1]

Genetisch komplexe Epilepsien.

Die Genetik spielt auch bei vielen häufigeren Epilepsien eine wichtige Rolle, einschließlich der idiopathisch generalisierten Epilepsie (IGE) und der nicht erworbenen fokalen Epilepsie (non-acquired focal epilepsy, NAFE). Obwohl einige große IGE-Stammbäume beschrieben wurden, beträgt das Risiko, an Epilepsie zu erkranken, für Familienmitglieder ersten Grades nur 3–8 % [17]. Dies ist erheblich niedriger, als man bei autosomal-dominant vererbten Varianten erwarten würde. Es wird angenommen, dass die Mehrheit dieser häufigen Epilepsien eine multifaktorielle Ätiologie aus verschiedenen genetischen (oligogenen oder polygenen) sowie epigenetischen (z. B. Veränderungen in der Genaktivität und -expression) und Umweltfaktoren hat. Bisher wurden mehrere genetische Risikofaktoren oder Suszeptibilitätsallele für häufige Epilepsien identifiziert [18, 19], aber die Umsetzung dieser Erkenntnisse in die klinische Versorgung steckt noch „in den Kinderschuhen“. Dennoch ist mittelfristig mit einer klinischen Nutzung von polygenen Risikoscores (polygenic risk score, PRS) zu rechnen[20], welche den additiven Effekt vieler genetischen Varianten darstellt, die mit einer Epilepsie verbunden sein können. Ein PRS könnte beispielsweise bei diagnostischen Fragestellungen und der Risikostratifizierung hilfreich sein.

Neben den in Tab. 2 aufgezählten Erbgängen sind die Besonderheiten der extrachromosomalen mitochondrialen Vererbung sowie das Vorliegen eines Mosaiks zu erwähnen. Das Genom in den Mitochondrien wird nur maternal an Nachkommen weitergegeben, d. h. die menschliche Zygote erhält alle ihrer Mitochondrien von der Eizelle. Neben einer unvollständigen Penetranz und variablen Expressivität ist für mitochondriale Erkrankungen ebenfalls die in unterschiedlichen Zellen wechselnde Anzahl an betroffenen Mitochondrien von großer Relevanz, auch Heteroplasmie genannt.

Wird ein Mosaik diagnostiziert bedeutet dies, dass nicht alle Zellen die Veränderung in der DNA tragen, sondern nur ein bestimmter Zelltyp oder Gewebe, z. B. das Gehirn oder eine bestimmte Körperregion. Mosaike entstehen meist postzygotisch neu (nach dem „Einzellstadium“) und werden, sofern die Keimbahn nicht betroffen ist, weder an Nachkommen noch Geschwister weitergegeben. Zur Detektion eines Mosaiks ist sowohl neben der Methode auch das ausgewählte Gewebe entscheiden.

3. Aspekte der Planung, Beratung und Aufklärung der genetischen Testung

Vor Einleitung einer genetischen Testung sollte stets eine eingehende Beratung der Betroffenen und deren Familien stehen sowie eine genaue Erhebung des klinischen Phänotyps erfolgen. Im Rahmen der Beratung sollten u. a. Aspekte wie Indikation, Wahrscheinlichkeit eines positiven Befundes, etwaige Bedeutung eines positiven Befundes für die weitere Behandlungsstrategie und die etwaige Bedeutung für weitere Familienangehörige oder potenzielle Nachkommen besprochen werden. Es ist hierbei wichtig, einen realistischen Erwartungshorizont aufzubauen, v. a. auch in Hinblick auf präzisionsmedizinische Konsequenzen, welche trotz zunehmenden Anwendungsfeldern doch aktuell nur einem kleinen Anteil der Personen zugutekommen werden (siehe Tab. 3). Die Betroffenen sollten ebenfalls über das wahrscheinliche Auftreten von Varianten unklarer Signifikanz (VUS) und die damit verbundenen Schwierigkeiten der Interpretierbarkeit aufgeklärt werden. Ebenso sollte auch eine Aufklärung über sogenannte Zusatzbefunde erfolgen. Diese stehen nicht mit der ursprünglichen Fragestellung in Verbindung, können aber dennoch eine medizinische Bedeutung für den Betroffenen haben (z. B. Varianten in Onkogenen wie BRCA1/BRCA2). Das ACMG (American College of Medical Genetics) gibt hierzu eine Liste mit Genen heraus [25]. Es sollte vorab mit den Betroffenen besprochen werden, ob sie über mögliche Zusatzbefunde informiert werden wollen. Die verschiedenen Aspekte des Beratungsgesprächs sind:

  • Indikation im individuellen Fall

  • Art der Testung und deren Limitationen

  • Wahrscheinlichkeit eines positiven Testergebnises und dessen Implikationen für die weitere Behandlung, einschließlich Präzisionsmedizin

  • Mögliche Bedeutung eines positiven Tests für die weitere Familienplanung sowie weitere Familienangehörige

  • Umgang mit negativen Befunden und Varianten unklarer Signifikanz (VUS) und ggf. Planung weiterer Untersuchungen

  • Umgang mit Zusatzbefunden

  • Diskussion möglicher nicht-medizinischer Implikationen (Stigma, Familiendynamik)

Tab. 3 Beschreibung der drei möglichen Testergebnisse mit den daraus resultierenden in Erwägung zu ziehenden weiteren Schritten

Die genetische Testung von symptomatischen Personen darf gemäß Gendiagnostikgesetz von jeder Ärztin/jedem Arzt beauftragt werden. Es muss den Betroffenen im Rahmen der Ergebnismitteilung eine genetische Beratung angeboten werden. Im Fall von nicht-erkrankten Personen, d. h. bei einer prädiktiven genetischen Testung, ist eine Aufklärung durch eine Fachärztin/einen Facharzt für Humangenetik notwendig bzw. durch eine Fachärztin/einen Facharzt mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation. Die Regelungen in Österreich und der Schweiz sind den Regeln in Deutschland in diesen Punkten sehr ähnlich.

Als Vorbereitung der genetischen Testung sollte der klinische Phänotyp der Betroffenen möglichst detailliert beschrieben und dem humangenetischen Labor mitgeteilt werden. Dies folgt dem Prinzip des ACMG [26], demzufolge die Phänotypisierung der genetischen Analyse vorausgehen sollte. Zur Plausibilisierung und Interpretation der genetischen Befunde ist der Abgleich mit dem Phänotyp ein unerlässlicher Baustein. Die Verwendung der Termini der Human Phenotype Ontology (HPO) [27] erlaubt hier eine standardisierte und somit vergleichbare Kodierung phänotypischer Aspekte.

Die Kostenübernahme der genetischen Untersuchung erfolgt in Deutschland bei gesetzlich versicherten Personen durch die Krankenkassen. Bei privat versicherten Personen sollte vor der Testung eine Kostenübernahmezusage der jeweiligen Krankenkasse eingeholt werden. Die tatsächlichen Kosten für die jeweilige Untersuchung ändern sich dynamisch. In Österreich erfolgt die Kostenübernahme durch die Krankenkassen. In der Schweiz ist vor Einleitung der genetischen Diagnostik eine Kostengutsprache der Krankenkasse/IV einzuholen.

4. Genetische Diagnostik

Bei der Indikationsstellung genetischer Diagnostik bei Personen mit Epilepsie ist zuerst der zu erwartende klinische Nutzen zu berücksichtigen. Der Nutzen ist am größten für Personen mit schwerwiegenden, therapieresistenten, nicht-erworbenen Epilepsien [28]. Beispielsweise beschreiben Minardi et al. eine Kohorte von 71 erwachsenen Personen mit Entwicklungs- und epileptischen Enzephalopathien unklarer Ätiologie, von denen 90,1 % bereits einen negativen Befund konventioneller genetischer Diagnostik (Karyotypisierung, CMA, Einzelgen- oder Paneluntersuchung) erhalten hatten [29]. Mittels ES konnten in 25,3 % der Fälle dennoch pathogene oder wahrscheinlich pathogene Varianten identifiziert werden, mit einem unmittelbaren Effekt auf die weitere Behandlung in 50 % der Fälle. Benson et al. berichten 74 erwachsene Personen und 27 Kinder mit therapieschwieriger Epilepsie und Intelligenzminderung [30]. Eine vorherige Paneldiagnostik war hier ein Ausschlusskriterium, und jeder Teilnehmer erhielt eine Trio-ES. In 30 % der Erwachsenen wurden pathogene oder wahrscheinlich pathogene Varianten gefunden, in 12 % der Fälle ergab sich ein Effekt auf die Therapie. Eine größere Fallserie von Zacher et al. berichtet 150 Erwachsene mit Epilepsie und Intelligenzminderung [31]. Diese erhielten im ersten Schritt eine konventionelle Diagnostik (Karyotypisierung, Fragiles-X-Diagnostik, CMA, Panel), mit Nachweis pathogener Varianten in 38 % der Fälle. Von den übrigen 93 undiagnostizierten Fällen erhielten 71 Personen eine ES, mit der weitere 13 Fälle gelöst werden konnten (8,7 % der gesamten Kohorte). Von den diagnostizierten Personen profitierten ebenfalls 12 % von präzisionsmedizinischen Ansätzen. Auch bei Personen ohne die unten genannten Komorbiditäten kann die genetische Diagnostik gegebenenfalls eine gezieltere Behandlung ermöglichen [32, 33].

Neben dem klinischen Nutzen ist vor allem die zu erwartende diagnostische Ausbeute der genetischen Diagnostik ein zweites, wichtiges Kriterium der Indikation. Bei Personen mit Epilepsie sollte eine genetische Diagnostik dann erwogen werden, wenn bereits vorab eine hohe Wahrscheinlichkeit (pre-test probability) besteht, einen positiven Befund zu erhalten [34]. Diese Wahrscheinlichkeit steigt maßgeblich mit jüngerem Alter bei Erstmanifestation: der Großteil der genetischen Epilepsie-Syndrome beginnt im Neugeborenen- oder frühkindlichen Alter. Hier kann die diagnostische Ausbeute bis zu 60 % erreichen [35]. Gleichzeitig sollte das Alter bei Einleitung der Diagnostik die Entscheidung nicht beeinflussen – auch Erwachsene können die retrospektive Erstdiagnose beispielsweise einer DEE erhalten und so von der Diagnostik profitieren [23, 30, 31, 36, 37]. Auch das Vorliegen bestimmter Komorbiditäten kann die Wahrscheinlichkeit eines positiven Befundes erhöhen. Dies gilt für Entwicklungsverzögerung, Intelligenzminderung, Autismus, dysmorphe Merkmale oder sonstige neurologische oder systemische Manifestationen [32]. Bei sporadischen Fällen mit später Erstmanifestation und fehlenden Komorbiditäten, d. h. isolierten generalisierten oder fokalen Epilepsien, ist die zu erwartende Ausbeute gering. Eine genetische Diagnostik kann hier in Einzelfällen dennoch erwogen werden (Tab. 4).

Tab. 4 Diagnostische Ausbeute und empfohlene Teststrategie bei Personen mit genetischen Epilepsie-Syndromen

Die ES/GS bieten einige weitere Vorteile gegenüber der bisher weit verbreiteten Panel-Diagnostik. So ermöglichen sie die Analyse auch von Genen, die nicht als bekannte krankheitsassoziierte Zielgene im Panel berücksichtigt wurden. Daraus kann im Falle eines initial negativen Befundes eine spätere Re-Analyse erfolgen, dann unter Berücksichtigung neu beschriebener Gene. Zudem bieten sie die Möglichkeit breiter Analysen der CNV, analog zur CMA. Aus diesen Vorteilen leitet sich die allgemeine Empfehlung zu einem „exome first approach“ ab, d. h. einer Durchführung der ES als erste genetische Diagnostik [38, 39].

Dennoch kann es in bestimmten Fällen erforderlich sein, zusätzliche spezifische Gentests in Betracht zu ziehen. Zum Beispiel ist bei klinischem Verdacht auf eine Repeat-Expansions-Erkrankung zu bedenken, dass diese Veränderungen den klassischen NGS-Methoden entgehen können. Diese sind bei Epilepsien nach heutigem Kenntnisstand jedoch sehr selten [31]. Als wesentliche Vertreter sind hier das Fragile X‑Syndrom zu nennen, welches mit einer Expansion des CGG-Triplets im X‑chromosomalen FMR1-Gen einhergeht. Zum anderen ist die erst kürzlich beschriebene Familiäre Adulte Myoklonische Epilepsie (familial adult myoclonic epilepsy, FAME) zu nennen, bei welcher eine Expansion eines intronischen Pentamers (TTTTA bzw. TTTCA) in folgenden Genen vorliegen kann: STARD7, YEATS2, RAPGEF2, MARCHF6, SAMD12 and TNRC6A [40]. Als weitere Ausnahme sind Imprinting-Erkrankungen wie das Angelman-Syndrom zu nennen. Besteht der Verdacht kann der ES/GS eine Untersuchung der elternspezifischen DNA-Methylierung mittels MS-MLPA (methylation-specific multiplex ligation-dependent probe amplification analysis) zur Detektion einer möglichen Deletion, UPD (uniparentale Disomie) oder eines Imprinting-Defektes der Region 15q11.2-q13 vorangestellt werden. Einen detaillierten Überblick und Abgleich der vorhandenen Diagnostikmethoden bietet Tab. 4. Genauere Erläuterungen zu den einzelnen Methoden finden sich auch bei Krey et al. [1].

Bei den leicht behandelbaren oder selbstlimitierenden Epilepsien mit neonatalem oder frühkindlichem Beginn (z. B. SeLNE) wurde die genetische Diagnostik bisher wenig eingesetzt. Dabei bietet eine frühere Diagnose hier Gewissheit für die Angehörigen und die behandelnden Ärzte und legt die Grundlage für eine genetische Beratung hinsichtlich der Prognose, vor allem des Risikos für Rezidivanfälle und der voraussichtlich notwendigen Behandlungsdauer. Beispielsweise können in bis zu einem Drittel der Fälle von KCNQ2- oder KCNQ3-assoziierten SeLNE auch noch Anfälle im späteren Leben auftreten [41]. Auch die frühkindlichen selbstlimitierenden Anfälle können schwer oder häufig sein und damit eine temporäre Behandlungsindikation begründen. Eine individualisierte Behandlung anhand des genetischen Befundes kann hier hilfreich sein, etwa mit Carbamazepin bei PRRT2-assoziierter SeLIE [42]. Letztlich verhindert die frühe Diagnosestellung auch weitere, zum Teil invasive und/oder kostenintensive diagnostische Maßnahmen.

Bei Personen mit therapieresistenten fokalen Epilepsien ist die genetische Diagnostik im Rahmen der prächirurgischen Diagnostik ein Gegenstand aktueller Forschung. Die zu erwartende diagnostische Ausbeute, sowie der Nutzen für die chirurgische Entscheidungsfindung und weitere Behandlung sind noch nicht abschließend geklärt. Eine multizentrische retrospektive Fallserie aus deutschen Epilepsiezentren erbrachte gute Ergebnisse in einigen Fällen mit Tuberöser Sklerose (TSC1/2) oder genetischen hypothalamischen Hamartomen (GLI3, PTEN), während Personen mit Kanalopathien bzw. Synaptopathien eher nicht von einem epilepsiechirurgischen Eingriff profitierten [43]. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam ein systematisches Review von Stevelink und Kollegen [44]. Zusammenfassend sollte eine genetische Diagnostik im Rahmen der Prächirurgie erwogen werden, die Ergebnisse sollten jedoch sorgfältig auf individueller Ebene interpretiert werden. Hier werden weitere prospektive Studien benötigt.

Einzelne Mitglieder von Familien mit bekannten genetischen Epilepsie-Syndromen könnten von genetischer Diagnostik profitieren, um eine Beratung hinsichtlich einer früheren Diagnose oder der Vererblichkeit im Rahmen der Familienplanung zu ermöglichen. Vorab sollte besondere Aufmerksamkeit darauf verwendet werden, über Themen wie die zu erwartende diagnostische Ausbeute, ggf. reduzierte Penetranz und variable Expressivität genetischer Diagnosen zu informieren.

5. Interpretation genetischer Testergebnisse und weiteres Vorgehen

Basierend auf den Leitlinien des ACMG werden genetische Sequenzvarianten nach einer Standardterminologie in „pathogen (krankheitsverursachend)“, „wahrscheinlich pathogen“, „unklare Signifikanz (VUS)“, „wahrscheinlich benigne“ und „benigne“ klassifiziert [26]. In Abhängigkeit des Resultats ergeben sich hieraus drei mögliche Szenarien sowie jeweilige mögliche weitere Schritte, die idealerweise interdisziplinär besprochen und abgestimmt werden sollten (Tab. 3 und Abb. 1):

Abb. 1
figure 1

Der Ablauf der genetischen Diagnostik ist anhand der schwarzen Linien gekennzeichnet. Blaue Linien zeigen in Abhängigkeit individueller Umstände mögliche zusätzliche Szenarien auf. Erstellt mit BioRender.com, adaptiert von Krey et al.[1]

Aufgrund der fortlaufenden Entwicklungen der genetischen Forschung sollten unauffällige sowie unklare Ergebnisse einer genetischen Diagnostik in regelmäßigen Abständen (ca. alle 2 Jahre) kritisch hinterfragt und überprüft werden. Die Bewertung unklarer Varianten kann sich aufgrund neuer Erkenntnisse im Laufe der Zeit verändern und zu eindeutig pathogenen oder unauffälligen Befunden führen [45]. Bspw. sollte im Fall einer mehrere Jahre zurückliegenden unauffälligen Panel-Diagnostik eine ES/GS erwogen werden, möglichst im Sinne einer Trio-ES/GS. Auch nicht eindeutige Befunde einer ES/GS sind im Verlauf zu überprüfen, da die Möglichkeiten der Interpretation von zum Zeitpunkt des Befundes unklaren Ergebnissen fortlaufend verbessert werden. Für eine erneute Überprüfung der Ergebnisse sollten die jeweiligen Labore aktiv kontaktiert werden.

6. Präzisionsmedizin

Eine genetisch gesicherte Diagnose kann in manchen Fällen zu einer individualisierten Behandlung führen (Abb. 1). Die Ziele dieser Behandlung sind im Allgemeinen eine bessere Anfallskontrolle, Linderung der begleitenden Komorbiditäten (z. B. Verbesserung der Kognition oder des Verhaltens), sowie letztlich eine Reduktion der Mortalität (z. B. Reduktion des Risikos für einen sudden unexpected death in epilepsy, SUDEP).

Die Definition der Präzisionsmedizin, die wir im Rahmen dieser Empfehlungen anwenden, ist die „(…) Möglichkeit, Personen in Kohorten einzuteilen, die sich anhand ihrer Krankheitsanfälligkeit, der zugrundeliegenden Pathophysiologie, der Wahrscheinlichkeit des Ansprechens auf eine spezifische Therapie, oder in Hinblick auf ihre Prognose unterscheiden.“ [46, 47]. Diese Einteilung der Personen wird ermöglicht durch die klinische Syndromdiagnose, die genetische Diagnose einer pathogenen Variante und damit die Zuteilung zu einem genetischen Epilepsiesyndrom, aber auch durch die Risikostratifizierung anhand von CNV oder polygenetischen Faktoren (PRS).

Aus der zugrundeliegenden begrifflichen Unschärfe dieser breit gefassten Definition ergeben sich verschiedene Abstufungen der Präzisionsmedizin. Nicht alle präzisen Therapien müssen unmittelbar am individuellen pathophysiologischen Mechanismus ansetzen. Im weitesten Sinne trifft dies schon auf die Auswahl eines anfallssuppressiven Medikaments (anti-seizure medication, ASM) anhand des bei den Personen vorliegenden Epilepsie-Syndroms zu, beispielsweise Ethosuximid bei Absence-Epilepsien. Schon spezifischer sind die zumeist auf Expertenkonsens beruhenden Beobachtungen, dass einige genetische Epilepsie-Syndrome auf bestimmte ASM gut ansprechen, auch wenn der zugrundeliegende Mechanismus noch nicht bekannt oder wahrscheinlich nicht spezifisch ist, beispielsweise Fenfluramin oder Stiripentol beim Dravet-Syndrom [48, 49].

Als nächste Abstufung können Therapien gelten, die unmittelbar die genetisch bedingte Dysfunktion auf Proteinebene korrigieren oder kompensieren. Ein frühes Beispiel für einen tatsächlich präzisionsmedizinischen Ansatz in der Epilepsietherapie ist die Supplementierung von Metaboliten bei genetisch bedingten metabolischen Enzymdefekten, beispielsweise Pyridoxin bei Varianten in ALDH7A1 oder PNPO. Weitere Beispiele sind die bevorzugte Therapie mit Natriumkanalblockern bei Varianten mit Funktionsgewinn in einem spannungsgesteuerten Natriumkanal (SCN2A-GOF) oder bei Varianten mit einem Funktionsverlust in einem spannungsgesteuerten Kaliumkanal (KCNQ2-LOF, indirekter Effekt auf die neuronale Feuerrate), oder umgekehrt auch durch Vermeiden von Natriumkanalblockern, um einen bekannten Defekt in einem spannungsgesteuerten Natriumkanal (SCN1A-LOF, Dravet-Syndrom) nicht zu aggravieren. Während diese Wirkstoffe zumeist unspezifisch auf die jeweilige (Sub)familie spannungsgesteuerter Kationenkanäle wirken, befinden sich hochspezifische Blocker in Entwicklung und bieten eine vielversprechende Perspektive, beispielsweise SCN8A-GOF präzise zu behandeln [50].

Letztlich den höchsten Evidenzgrad zur Therapie auf Proteinebene bietet die EXIST‑3 Studie, eine Phase III randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studie, die den Nutzen einer Zusatztherapie mit Everolimus (einem mTOR-Inhibitor) bei der Tuberösen Sklerose belegt hat [51].

Tab. 5 bietet einen Überblick über eine Auswahl dieser potenziellen präzisionsmedizinischen Ansätze. Ergänzend verweisen wir auf eine rezente Übersichtsarbeit von Álvaro Beltrán-Corbellini und Kollegen [52]. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich mit wenigen Ausnahmen um Einzelfallberichte oder nicht kontrollierte Fallserien, d. h. Studien geringer Evidenzstärke, handelt. Auch fehlen häufig Informationen über den natürlichen Krankheitsverlauf (natural history study) sowie das Langzeit-Behandlungsergebnis solcher Personen.

Tab. 5 Beispiele von probatorischen Behandlungsansätzen der Präzisionsmedizin bei Personen mit genetischen Epilepsie-Syndromen. Therapien mit unbekanntem oder unspezifischem Wirkungsspektrum (z. B. Natriumkanalblocker bei PRRT2, Fenfluramin oder Stiripentol bei SCN1A, Cannabidiol bei Dravet- oder Lennox-Gastaut-Syndrom, Ganaxolon bei CDKL5, Levetiracetam bei PCDH19 oder STXBP1) werden hier nicht aufgeführt. Mit Ausnahme von Everolimus bei TSC1/TSC2-Varianten (Tuberöse Sklerose) handelt es sich um Studien niedriger Evidenzgrade (nicht-kontrollierte, nicht-randomisierte Studien wie Einzelfallberichte oder kleinere retrospektive Fallserien)

Das endgültige Ziel der Präzisionsmedizin wird die Heilung der betroffenen Personen sein, etwa durch die Kompensation der Variante auf mRNA-Ebene (z. B. Antisense-Oligonukleotide), oder die Korrektur auf genetischer Ebene (z. B. CRISPR/dCAS9_Systeme, Genersatz mittels AAV9-vektorbasierter Therapien). Diese Ansätze übersteigen den Rahmen dieser Arbeit und wurden rezent an anderer Stelle zusammengefasst [53].

7. Zusammenfassung und Fazit für die Praxis

Die genetische Testung bei Personen mit Epilepsie ist bei verschiedenen Indikationen zur Sicherung der Diagnose geeignet. Sie vermeidet damit weitere unnötige, invasive oder kostspielige Diagnostik, ermöglicht eine genetische Beratung der Betroffenen und deren Angehörigen, erlaubt eine gezieltere Prognose, und eröffnet in bestimmten Fällen präzisionsmedizinische Behandlungsansätze.

Nach heutigem Stand sollte die genetische Diagnostik primär in Form einer ES/GS erfolgen, welche eine Analyse von CNV beinhaltet. Vermeintlich unauffällige genetische Befunde sollten in regelmäßigen Abständen reevaluiert werden.

Eine genetische Diagnostik sollte vorrangig für folgende Indikationen erfolgen:

  • Schwere früh-beginnende Epilepsien (v. a. vor Vollendung des 5. Lebensjahres), insbesondere bei Vorliegen eines DEE-Phänotyps

  • Epilepsie mit zusätzlicher Intelligenzminderung, Autismus-Spektrum-Erkrankung oder anderen Komorbiditäten

  • Progressive Myoklonus-Epilepsien

  • Nicht-läsionelle fokale Epilepsien bei spezifischen familiären Epilepsiesyndromen

Eine genetische Diagnostik sollte erwogen werden bei:

  • Mutmaßlich nicht-läsionelle, fokale Epilepsien mit pharmakoresistentem Verlauf im Rahmen der prächirurgischen Abklärung

  • Epilepsien bei fokalen kortikalen Malformationen bzw. anderen kortikalen Anlagestörungen (in Ausnahmen auch Analyse von DNA aus Resektionsgewebe und DNA aus anderem Gewebe (Blut, Haut, Speichel) zur Analyse somatischer Varianten)