Vom Abbrecher einer akademischen Karriere zum Stubengelehrten

Paul Julius Möbius [22,23,24, 27] hat außer während seines Medizinstudiums Leipzig nie länger verlassen. Er ist am 24.01.1853 hier in eine bürgerliche Gelehrtenfamilie hineingeboren worden und am 18.01.1907 auch hier verstorben. Zunächst begann er, wie erwartet, eine akademische Karriere. Er erwarb 1874 in Gießen einen philosophischen [23, S. 28–29] und 1876 einen medizinischen [28] Doktorgrad in Leipzig, wo er 1883 auch auf dem Gebiet der Medizin habilitierte. Nach einem Antrag wurde er dafür sogar von einer extra anzufertigenden Habilitationsschrift befreit, da er schon eine ausreichende Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten vorliegen habe [23, S. 49–55]. Dafür hatte sich Wilhelm Erb (1840–1921) mit einem sehr positiven Gutachten [29, Bl. 2–2b] während des Habilitationsverfahrens eingesetzt. Möbius war während der zweiten Jahreshälfte 1882 als Volontärassistent in das von Erb geleitete Medizinisch-Poliklinische Institut der Universität eingetreten, wo er 1884, indessen die neurologisch-elektrotherapeutische Abteilung leitend, auch endlich eine ersehnte bezahlte Assistenzartstellung erhielt. Mit seinen beiden Chefs, Wilhelm Erb sowie ab April 1883 mit Erbs Nachfolger Adolf Strümpell (1853–1925), hat Möbius offenbar sehr „freudig und einträglich“ gearbeitet [26, S. 138]. Erb und Strümpell haben sich im Laufe ihres Schaffens immer wieder sehr positiv über Möbius’ klinische Tätigkeit und viele seiner Publikationen geäußert. Als Strümpell zum April 1886 nach Erlangen berufen wurde, ist Möbius vonseiten der Fakultät gemeinsam mit Hugo Dippe (1855–1929) die interimistische Direktorenschaft der Poliklinik übertragen worden – allerdings nur für einige Monate. Im August 1886 wurde Friedrich Albin Hoffmann (1843–1924), der später auf dem Gebiet der Stoffwechselerkrankungen hervortreten sollte, nicht zuletzt auch aufgrund persönlicher Verbindungen mit einem Mitglied der Leipziger Fakultät aus Dorpat als Direktor der Poliklinik berufen. Möbius hatte große Hoffnung gehegt, dass ihm die Poliklinik übertragen werden würde. Endgültig enttäuscht und vergrätzt war er, als er Hoffmann nicht als Interimsdirektor vertreten durfte, während dieser vorübergehend zu einer anderen Dienstverpflichtung bestellt wurde, sondern ein altersmäßig und dienstjüngerer Kollege. Als radikale Konsequenz kündigte Möbius daraufhin unverzüglich zum 01.04.1888 seine Assistenzarztstelle [23, S. 58–88].

In die erste Zeit in der Poliklinik fällt der Beginn der Kollegenfreundschaft mit Emil Kraepelin (1856–1926). Dieser beschäftigte sich ebenfalls als Volontär bei Erb in der Poliklinik, nachdem er von Paul Flechsig (1929) wegen vorgeworfener Vernachlässigung seiner Patienten aus der Universitäts-Irrenklinik entlassen worden war [21]. Noch begleitet von jungen Kollegen aus dem universitätsklinischen Milieu unternahmen beide Stadtrundgänge, die oft in einer „Orgie … in Form einer Tasse Kaffee“ oder in ähnlicher Weise als „Hexensabbat“ mündeten, wenn nicht in der Restauration „Schweizerhäuschen“ im großen Park und Freigelände Rosental, dann auch schon mal im berühmten „Café Français“ (auch bekannt als „Café Felsche“) am Augustusplatz, dem sog. ersten Haus am Platze [5, S. 24, 28]. Beide blieben brieflich ein Leben lang verbunden und besuchten einander, nachdem Kraepelin Leipzig verlassen hatte. In seiner Korrespondenz vertraut Möbius seinem Freund durchaus auch Persönliches an [23].

Demgegenüber glaubte er sich in den folgenden Jahren darin bestätigt zu sehen, dass er vonseiten der medizinischen Fakultät hinsichtlich einer akademischen Karriere hintangesetzt werde. Mehrere Kollegen, die nach ihm habilitiert hatten, waren zu Professoren ernannt worden. Aus einigen Schriftstücken kann deutlich herausgelesen werden, dass Möbius dies außerordentlich in seiner Ehre verletzte, er sich persönlich missachtet und mit seinen wissenschaftlichen Leistungen nicht anerkannt fühlte. Wie beleidigt fragt er dann v. a. mit dem Hinweis auf die einerseits auch für Lehrzwecke vor ihm verschlossene Poliklinik und andererseits auf seine von Fachgenossen anerkannten Publikationen unumwunden am 11.03.1893 direkt beim Königlich Sächsischen Kultusminister Paul von Seydewitz (1843–1910) an, was er „weiter zu thun“ habe oder „die Aussicht auf Beförderung überhaupt nicht vorhanden“ sei [29, Bl. 4–6]. Daraus ergibt sich ein Schriftverkehr zwischen Minister, Fakultät und Möbius, an dessen Ende Möbius am 26.05.1893 dem Dekan der Medizinischen Fakultät raptusartig sich „beehr[t] … anzuzeigen“, dass er auf seine Venia Legendi „verzichte“ [29, Bl. 27].

Damit ist Möbius’ universitäre Laufbahn beendet. und er findet sich angewiesen auf seine Privatpraxis, die er seit 1878 als „Spezialarzt für Nervenkranke und Elektrotherapeut“ an verschiedenen Orten Leipzigs betreibt, seit 1896 in der im Stil des frühen Historismus erbauten Villa Rosenthalgasse 1–3. Nebenher stand er bis 1898 15 Jahre ärztlicherseits der Nervenpoliklinik des Albertvereins vor, einer sächsischen Gemeinschaft zur Verbesserung der akut-medizinischen Versorgung v. a. auch ärmerer Bevölkerungsschichten [23, S. 40–48].

Möbius erscheint fortan als sehr isoliert. Sein Neffe oder Kollegen beschreiben ihn als selten lachend, traurig, einsam, auch als ausgesprochen schwierigen Charakter, als Kautz, als merkwürdige Person, sich von Menschen zurückziehend, eher den Kontakt zu Hunden suchend, von denen er immer einige als Studienobjekte gehalten habe. So spazierte Möbius möglicherweise nahezu täglich, an der Leine einen seiner großen schwarzen Pudel oder seinen Foxterrier führend, stark parfümiert, in seiner extravaganten Garderobe – etwa mit einem gelben Nerzkragen, einer Krawattennadel, die eine voluminöse echte Perle krönte, und stets ein großes seidiges Taschentuch zur Hand – in Gedanken mit etwas beschäftigt durchs nahe gelegene Rosental ([2, S. 24, 3, S. 180, 16, S. 97–98, 26, S. 138–142, 30, S. 225–227]; Abb. 1).

Abb. 1
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Paul Julius Möbius (1853–1907; Entstehungszeit der Aufnahme unbekannt, vermutlich zwischen 1900 und 1906). (Quelle: Forschungsstelle für die Geschichte der Psychiatrie, Medizinische Fakultät, Universität Leipzig)

Im Jahr 1879 war Möbius eine Ehe mit der 11 Jahre älteren Constanze Drobisch (1842–1902), einer Gelehrtentochter, eingegangen. Die Beziehung wird von Bekannten und Kollegen durchweg als unglücklich bezeichnet [23, S. 35]. Strümpell erinnert sich einer „ganz amüsanten und klugen, aber sehr redseligen Frau, die einem, wie man zu sagen pflegt, wohl etwas auf die Nerven fallen konnte“ [26, S. 141]. Das kinderlos gebliebene Paar trennte sich zu Beginn der 1890er-Jahre [23, S. 36]. Den Mangel an direktem menschlichem Kontakt kompensierend, wandte sich Möbius immer mehr dem schriftlichen Verkehr zu. Er führte Hunderte von Briefwechseln und hinterließ ein riesiges publizistisches Schaffen. Neben ca. 30 meist mehrfach aufgelegten Büchern verfasste er über 300 Aufsätze – meist klinisch-deskriptive oder reflektierende Arbeiten, da er mikroskopisch oder anderweitig apparativ in seiner Privatpraxis nicht arbeiten konnte und wollte. Daneben können ihm Tausende von Rezensionen zugeordnet werden [23, S. 113–124, 304–324]. Gerade hier blüht er auf und sucht den Diskurs, mitunter sogar Streit mit den Kollegen, führt auch einige wissenschaftliche, bis in das Persönliche hineinreichende Dispute. Bekannt wurde eine Jahre währende in Fachzeitschriften geführte Debatte mit dem Direktor der Neuropsychiatrischen Klinik der Universität Graz und späteren Nobelpreisträger Julius Wagner-Jauregg (1857–1940) [1]. Da Möbius immer wieder in Opposition zur akademischen Schulmedizin geht, auch zu Kollegen der Leipziger Medizinischen Fakultät wie dem Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik Paul Flechsig (1847–1929) [19], wird dies seiner ersehnten akademischen Karriere abträglich gewesen sein.

Im Herbst 1903 wurde bei Möbius ein Karzinom am Unterkiefer diagnostiziert, worüber er auch Kraepelin berichtete ([6], Postkarte 27.11.1903). Trotz mehrerer Operationen verstarb er daran am 08.01.1907. Die Grabstelle Möbius’ auf dem Leipziger Südfriedhof (1. Abteilung, Wandstelle Nr. 35) wurde 1978 eingezogen [20]. Unnötigerweise, denn sie wurde seitdem nicht neu vergeben und macht bis heute einen verlassenen, trostlosen Eindruck.

Einige Beiträge von Möbius zur Neurologie

In Leipzig erinnert an Möbius heute nichts mehr, aber in der Neurologie und Neuroophthalmologie werden einige Eponyme verwendet, die mit seinem Namen verbunden geblieben sind. So ist der Terminus Möbius-Krankheit bis heute in Gebrauch, die lange auch als ophthalmoplegische Migräne bezeichnete wurde, heute aber als ophthalmoplegische Neuropathie. Möbius hatte dieses Leiden als periodisch wiederkehrende Okulomotoriuslähmung beschrieben, als Augenmuskellähmungen, die Doppelbilder erzeugen [18]. Er litt selbst an Migräne und hatte 1894 über sie ein Standardwerk der deutschsprachigen Neurologie vorgelegt [12, 17]. Auch das Eponym Möbius-Zeichen ist bis heute immer wieder anzutreffen. Möbius hatte den Symptomenkomplex Insuffizienz der Konvergenz genannt, den man v. a. bei der endokrinen Orbitopathie sieht. Über die pathologische Konvergenzschwäche der Augen hatte er bei der Schilderung der Störung der Augenmuskelkonvergenz beim Exophthalmus des Morbus Basedow berichtet [18]. Er war es auch, der 1886 den richtigen Weg zur Ursachenklärung des Morbus Basedow wies und klärte, dass dieser keine neurologische Erkrankung ist [8]. Auch das Eponym Möbius-Syndrom bzw. Möbius-Kernaplasie findet man immer wieder für diejenige Störung, die er selbst als infantilen Kernschwund bezeichnete. Heute nimmt man an, dass es sich bei diesen Abduzens- und Fazialislähmungen, diesen motorischen Ausfällen im Gesichts- und Augenfeld, um ein Fehlentwicklungssyndrom des Rhombencephalons handelt [18]. Sehr bald und bis in die Gegenwart hinein verdeckt leider das von Möbius 1900 erstmals und bis 1922 12-mal aufgelegte Pamphlet „Ueber den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ [14] diese und weitere seiner bedeutenden Beiträge zur Nervenheilkunde. An der früh sich entwickelnden Kümmernis leidend, immer noch nicht in der wissenschaftlichen Welt wahrgenommen und geschätzt zu werden, posaunte er, nur noch Aufsehen erregen wollend, seine Auffassung hinaus, dass die intellektuelle Förderung von Frauen diesen selbst und der Gesellschaft Schaden brächte.

Wenig bekannt ist, dass Möbius eine ätiologische Einteilung der Nervenkrankheiten vorgelegt hat, für deren Zuordnung er als Erster die Termini endogene bzw. exogene Erkrankung verwendete. Er meinte, für exogene Erkrankungen, für von außen auf den Menschen wirkende Einflüsse, kämen qualitativ verschiedene Ursachen infrage, so v. a. Alkohol, Blei und Toxine. Für die endogene Gruppe aber, im Individuum selbst beruhende krank machende Umstände, existiere nur eine einzige Ursache, nämlich die Vererbung. Wobei er dafür den zeittypischen Begriff Entartung benutzte [10]. Vorüberlegungen lieferte Möbius der im deutschsprachigen Schrifttum völlig unbekannte französische Mediziner und vehemente Anhänger der Degenerationstheorie Evariste Jean Bruno Marandon de Montyel (1851–1908). Möbius hatte dessen nosologische Grundsätze aufgespürt, 1890 rezensiert und sie 1892 erweitert und verfeinert [9, 10, 23]. „Mit Stolz und Befriedigung begrüsst“ Möbius die Übernahme seiner Einteilung durch Kraepelin für das Gebiet der psychischen Krankheiten, denn es sei ja „seine eigene“ [13]. Kraepelin hatte mit namentlichen Verweis auf seinen Leipziger Kollegen in der 5. Auflage seines berühmten Psychiatrie-Lehrbuches von 1896 die neue Unterteilung der psychischen Krankheiten in exogene und endogene eingeführt – und Möbius hatte dies seinerseits in einer Rezension dieses Kompendiums herausgestrichen [4, 13]. Die Möbiussche Dichotomie verdankt ihr nachhaltiges und bleibendes Gewicht wohl ganz wesentlich der Aufnahme durch Kraepelin, und Möbius seinerseits trägt wesentlich dazu bei, dass Kraepelin die Ätiologie als wichtiges Kriterium seiner wirkmächtigen multifaktoriellen klinisch-empirischen Nosologie erkennt [25]. Möbius selbst hatte diese Einteilung – und damit erstmals für das Gebiet der Neurologie überhaupt – 1893 in seinem „Abriss der Lehre von den Nervenkrankheiten“ ausgearbeitet vorgelegt [11].

Möbius zur Epilepsie

Die Epilepsie teilt er darin den endogenen Erkrankungen zu, und er räumt ihr in seinem 180-seitigen Abriss zwischen Hysterie und Migräne etwa 7 ½ Seiten ein [11, S. 162–170]. Eingangs ist es ihm wichtig, zwischen epileptischen Krämpfen und der „Krankheit Epilepsie“ zu unterscheiden. Epileptische Krämpfe sieht er bei starken Reizungen auf die Großhirnrinde auftreten, als Folge von Giften, etwa durch Alkohol oder Harnvergiftung, oder bei Hirnerkrankungen wie Geschwülsten, progressiver Paralyse und Enzephalitis. Von der „Krankheit Epilepsie“ solle man aber nur sprechen, wenn es zu Anfällen „allein“ käme und wenn eine bekannte Hirnerkrankung nicht anzunehmen sei. Die Ursache für die sog. „echte“ Epilepsie sieht Möbius in einer angeborenen Anlage, worauf ihre Zuteilung zu den endogenen Störungen basiert. Allerdings sei es „wohl möglich, dass ein mehr oder weniger beträchtlicher Theil“ auf einer vorausgegangenen infektiösen Hirnerkrankung beruhe. Dass sich aus dieser Kenntnis dann wohl „unecht“ zu nennender Fälle Wirren für seine ätiologische Zuordnung ergeben könnten, erörtert er nicht.

Für die Diagnose der Epilepsie sieht Möbius keine großen Schwierigkeiten. Eine Familienanamnese helfe, „sehr oft“ litten Verwandte ebenfalls an Epilepsie oder „an irgendeiner Form der Entartung“. Differenzialdiagnostisch bereiteten am ehesten „grobe Gehirnerkrankungen mit epileptischen Krämpfen“ oder die Hysterie Probleme. Mit Sicht auf die lang anhaltende Diskussion über eine postulierte Hysteroepilepsie, also ein wie auch immer geartetes Ineinandergreifen beider Entitäten [15], scheint es interessant, dass Möbius klar 2 getrennte Erkrankungen ausmacht. Die Anfälle selbst würden durch „Gelegenheitsursachen“ ausgelöst. Das könnten Gemütsbewegungen wie Schreck oder Ärger sein oder Überreizungen wie Trunk, sexuelle Ausschweifungen, körperliche Strapazen, Verdauungsstörungen oder körperliche Schmerzen, hier v. a. auch Narbenschmerzen. Als „negative Gelegenheitsursachen“ sieht er fieberhafte Krankheiten und die Schwangerschaft, während denen es praktisch nicht zu Anfällen komme. In seiner niedergelassenen Praxis konnte und wollte der Kliniker Möbius nicht unter Laborbedingungen mikroskopisch arbeiten, auch deswegen verwundert es kaum, dass er von der Neuroanatomie und -pathologie wenig hielt. Auch zur Epilepsie hätten beide Fächer „bisher nichts Sicheres“ ergeben, und „die meisten Befunde bedeuten wohl secundäre Veränderungen, die Ausdruck der Hirnatrophie sind“.

Dann beschreibt er sehr eingehend den epileptischen Anfall. Er unterscheidet 3 Formen: 1. den „vollständigen epileptischen Anfall“ mit den 3 Stadien „Vorläufererscheinungen“, dem „Krampfanfall“ und den „Nachwirkungen“; 2. die „unvollständigen Anfälle“, „die nur Bruchstücke darstellen, oder in denen doch gewisse Bestandtheile des Anfalles nur angedeutet sind“; 3. „Anfallreihen“, wenn „Anfälle … Schlag auf Schlag folgen … können“.

Den Krankheitsverlauf sieht Möbius so, dass die Epilepsie meist in der frühen Kindheit oder Jugend beginne, es in der Pubertät zu einer Anfallshäufung komme und in den folgenden Jahren die Anfälle dann meistens noch zunähmen. Offenbar macht er 2 hauptsächliche Verlaufsformen aus. Erstere sei durch Krampfanfälle mit „kurzen Nachwirkungen“ und dazwischenliegenden „kleinen Anfällen“ geprägt, Zweitere weise „in der Regel nur kleinere Anfälle, sehr selten einen vollständigen“ auf. Epileptische Patienten seien Stunden bis Jahre anfallsfrei, und „manche Kranke … erscheinen“ dann „als leidlich normale Menschen“. Gerade bei schweren Fällen stellt der Autor des Abrisses eine sehr schlechte Prognose, meistens endeten sie allmählich in Schwachsinn, weniger mit einem intellektuellen als v. a. mit einem „moralischen Defect“. Die Patienten würden „eigensinnig, selbstsüchtig, hochmüthig, jähzornig“, manche nähmen „ein frömmelndes Wesen“ an. Mitunter träten aber auch vornehmlich Gedächtnis- und Urteilsschwäche auf, aber „keine sittlichen Mängel“. Die schweren Fälle des Schwachsinns könnten „mit der Zeit“ in den Blödsinn übergehen, dann seien Zustände krankhafter Erregung mit oder ohne Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen „nicht selten“. „Wenn auch der Anfall selten den Tod direct herbeiführt“ – es sei denn beim allerschwersten oder durch einen Unfall, meint Möbius bei Epileptikern eine geringere Lebenserwartung auszumachen, weil sie körperlich herabkommen und gegen Krankheiten widerstandunfähiger würden. Die Epilepsie sei unheilbar. Dennoch sei die Behandlung „von grosser Bedeutung“. Es gelte, die Anfälle in ihrer Frequenz und in ihrer Stärke zu mildern. Bei „geistiger Ruhe und körperlicher Schonung“ hörten nämlich „nicht selten … die Anfälle ganz auf“. Der Kranke sei also „von allem abzutrennen, was ihn aufregt und anstrengt“. Alkohol sei zu verbieten, die Nahrung solle leicht verdaulich und „vorwiegend vegetabilisch“ sein. Wichtig ist für Möbius eine effektive Schmerztherapie, da er Schmerz als eine bedeutende „Gelegenheitsursache“ einschätzte. Das Therapeutikum der ersten Wahl ist für Möbius wie für viele andere Erkrankungen [23] auch bei Epilepsie das Bromkalium – einerseits generell zur Erregungsverminderung des Patienten, um ihn sozusagen in Ruhe zu halten, andererseits aber auch zur gezielten Verminderung der Anfälle. „Wahrscheinlich“ helfe das Bromkalium, da es „die Erregbarkeit der Hirnrinde vermindert“. Seine „Wirksamkeit bei Epilepsie“ sei „so sicher, dass man es geradezu als diagnostisches Mittel verwerthen“ könne.

Abschließend sollte betont werden, dass Möbius kein Epileptologe gewesen ist, Patienten mit anderen wie etwa psychogenetischen, neuroophthalmologischen und Migräneerkrankungen oder syphilitischen Folgeerscheinungen haben ihn wissenschaftlich zweifelsohne mehr interessiert. Wenngleich er Epileptiker in seiner Praxis gesehen haben wird, ist ihm aber bisher kein einziger Aufsatz zuzuordnen, in dem er die Epilepsie explizit in den Fokus stellte, sie klinisch oder wissenschaftlich eingehend diskutierte. So ist wohl davon auszugehen, dass er in seinem „Abriss der Lehre von den Nervenkrankheiten“ den Wissensstand der 1880er- und 1890er-Jahre zur Epilepsie referiert, zumal sich in seiner einige Jahre zuvor vorgelegten „Allgemeinen Diagnostik der Nervenkrankheiten“ [7] ein über sehr weite Strecken vollkommen deckungsgleicher Text über diese Erkrankung findet.

Fazit für die Praxis

Epilepsie basiert nach Möbius’ Darstellung von 1893 in der Regel auf einer angeborenen Anlage. Differenzialgnostisch stellen nur grobe Hirnkrankheiten und die Hysterie gewisse Probleme dar. Besonders sollten die Krampfanfälle vermieden werden. Als dereren Auslöser sah Möbius vor allem Gemütsbewegungen oder Überreizungen. Bromkalium sei hier hochwirksam. Die Epilepsie sei unheilbar. Sie beginne meist schon in Kindheit und Jugend. Schwere Fälle hätten eine schlechte Prognose mit Übergang in Schwachsinn und schließlich Blödsinn.