Hintergrund

Epilepsie ist eine häufige neurologische Erkrankung, die allein in Deutschland etwa eine halbe Million Menschen betrifft. Prävalenz und Inzidenz der Erkrankung sind im fortgeschrittenen Alter höher als in jungen Jahren. Gleichzeitig sind im fortgeschrittenen Lebensalter diagnostische und therapeutische Unterschiede zu beachten. Die Relevanz der Kenntnis um diese Unterschiede nimmt mit der Bevölkerungsentwicklung und dem Trend alternder Gesellschaften weiter zu. In diesem Artikel soll die Epidemiologie der Epilepsie des höheren Lebensalters eingehender betrachtet werden.

Was ist Epidemiologie?

Epidemiologie ist die Lehre von der Verteilung, den Ursachen und den Folgen von Erkrankungen und (gesundheitsbezogenen) Zuständen in der Bevölkerung. Anders als die klinische Medizin hat sie nicht die optimale Behandlung einzelner Patienten zum Ziel, sondern die Erforschung der Grundgesamtheit unterschiedlicher Populationen. Dadurch trägt sie zu einem umfassenderen Verständnis von Erkrankungen bei. Sie bildet die Grundlage klinischer Studien und ermöglicht die Erkennung von Risiko- oder Schutzfaktoren zur Prävention, ermöglicht gesundheitspolitische Entscheidungen und die Verteilung von Ressourcen im Gesundheitswesen.

Die Definition der Epilepsie

Um die Vergleichbarkeit epidemiologischer Kennzahlen zu ermöglichen, ist eine einheitliche Definition der Epilepsie erforderlich. Die Internationale Liga gegen Epilepsie (ILAE) hat eine konzeptionelle Definition verfasst, der zufolge eine Epilepsie durch eine anhaltende Prädisposition für das Auftreten epileptischer Anfälle und deren neurobiologische, kognitive, psychologische und soziale Folgen charakterisiert ist und mindestens einen Anfall voraussetzt [1]. Sie ermöglicht v. a. die klinische Diagnosestellung [2]. Im Kontext epidemiologischer Studien ist eine Operationalisierung der Definition nötig. Hier wird auch weiterhin die Anwendung der konservativeren, zuvor gültigen und in der Praxis etablierten Definition von mindestens 2 epileptischen Anfällen im zeitlichen Abstand von über 24 h empfohlen [3, 4]. Die Vorteile dieser Empfehlung liegen in der oft einfacheren und einheitlicheren Beurteilung v. a. für Fälle, in denen die Rekurrenz der einzige verfügbare Hinweis auf eine anhaltende Prädisposition ist, und in der Vergleichbarkeit über die vergangenen Jahrzehnte [4]. Im Hinblick auf die Altersepilepsie (mit einem höheren Anteil symptomatischer Epilepsien) ist die Miteinbeziehung bildgebender und elektrographischer Befunde sinnvoll. Ohne sie ist aufgrund einer oft subtileren Anfallssemiologie im höheren Lebensalter eine Untererfassung zu befürchten [5].

Altersepilepsie und fortbestehende Epilepsie

Epilepsien im höheren Lebensalter umfassen sowohl neu aufgetretene als auch bis ins höhere Lebensalter persistierende Epilepsien. Unter dem Begriff „Altersepilepsie“ werden alle ab dem 65. Lebensjahr (LJ) an neu auftretenden Epilepsien zusammengefasst. Diese Unterscheidung ist in vielfacher Hinsicht sinnvoll, da De-novo-Epilepsien des höheren Lebensalters häufig andere Ursachen zugrunde liegen als Epilepsien der Kindheit, Jugend oder des Erwachsenenalters. Das 65. LJ als Grenze zur Altersepilepsie ist willkürlich gewählt, da in diesem Alter weder die Inzidenz noch die Morbidität sprunghaft ansteigt, und orientiert sich an der Festlegung des Renteneintrittsalters [6].

Prävalenz der Epilepsie im höheren Alter

Die Prävalenz beschreibt die Verteilung eines Ereignisses oder einer Eigenschaft in der Grundgesamtheit einer räumlichen oder zeitlich definierten Population. Da sie einen Ist-Zustand abbildet, ist sie weder für die Beurteilung der Ätiologie noch der Prognose dienlich. Sie eignet sich hingegen eher zur Verteilung von Ressourcen im Gesundheitssystem.

Die Anzahl der Studien zur Prävalenz der Epilepsien übersteigt die Anzahl der Inzidenzstudien deutlich, was v. a. an ihrem geringeren Aufwand und Kosten liegt. Zur Abschätzung der Prävalenz werden in den meisten Studien Menschen mit aktiver Epilepsie berücksichtigt, also Patienten, bei denen nach der operationalen ILAE-Definition eine Epilepsie besteht und die mindestens einen Anfall in den 5 Jahren vor der Erhebung erlitten haben.

Die Punktprävalenz der aktiven Epilepsien liegt bei ca. 6,4/1000 (95 % CI 5,6–7,3) und unterscheidet sich nach Herkunftsland, Alter und Geschlecht mitunter erheblich [7]. In einer Übersichtsarbeit europäischer Studien lag die Prävalenz aller Altersgruppen zwischen 3,3 und 7,8/1000 Einwohner [8]. Bei einem Anteil von 0,6 % der Bevölkerung (6/1000) leiden in Deutschland etwa 500.000 Menschen (von 83 Mio., Stand 2021) an einer Epilepsie. In der EPIDEG-Studie (EPIDemiology of Epilepsies in Germany) wurde 1995 erstmalig an einer repräsentativen, bundesweiten Stichprobe die Prävalenz behandelter Patienten mit Epilepsie in Deutschland erhoben und 2010 in der zweiten Studie erneut erfasst. In diesem Zeitraum stieg die Prävalenz von 4,7 auf 5,5/1000 [9], vergleichbar mit der Prävalenz in anderen europäischen Ländern und früheren Studien in Deutschland. In Europa lag die Prävalenz bei Erwachsenen zwischen 20 und 64 Jahren bei etwa 5,3 bis 6,3/1000 (1,9 Mio.) und im Vergleich dazu bei Kindern und Jugendlichen im Bereich von 3,2 bis 5,1/1000 (0,9 Mio.). Bei älteren Menschen gehen die Angaben zur Prävalenz weiter auseinander (3,0 bis 7,6/1000; 0,6 Mio. bei den über 65-Jährigen) [8]. Eine weitere Studie konnte mithilfe von Rezeptdaten in Deutschland 2009 eine Periodenprävalenz von 9,1/1000 für Medikamentenverordnungen aufgrund einer Epilepsie feststellen. Bei älteren Menschen (≥ 65. LJ) war sie mit 12,5/1000 deutlich höher als bei Kindern und Jugendlichen (< 18. LJ, 5,2/1000) und höher als bei Erwachsenen (8,9/1000) [10]. In Island wurde ein Anstieg von 6,7/1000 bei den 55- bis 64-Jährigen auf 7,3/1000 bei den über 85-Jährigen beschrieben, eine dänische Studie zeigte für dieselben Altersgruppen einen Anstieg von 7,1 auf 12,1/1000, und in England und Deutschland wurden Werte bis maximal 20/10.000 beschrieben [11].

Unterschätzung der Anfälle im Alter

Als Grund für die in einigen Studien niedrigere Prävalenz im höheren Lebensalter sind eine unvollständige Identifizierung von Menschen mit aktiver Epilepsie und damit eine Unterschätzung in dieser Altersgruppe anzunehmen. In 4 Seniorenheimen im Raum Erlangen war bei 2,8 % von 389 befragten Bewohnern im Alter von 82,5 Jahren (66 bis 105 Jahre) eine Epilepsie festzustellen, die vor Beginn der Studie lediglich bei 1,8 % diagnostiziert war [5]. Zudem leben 30 % aller über 60-Jährigen in Deutschland alleine, bis 2040 werden es 33 % sein [12]. Mit 80 Jahren lebt die Hälfte der Frauen (56 %) und 22 % der Männer leben alleine [13]. Daher ist anzunehmen, dass Anfälle bei älteren Menschen häufig unbeobachtet bleiben. Zudem treten in höherem Lebensalter häufiger Anfälle mit subtiler Semiologie auf [5].

Inzidenz der Epilepsie im höheren Alter

Die Inzidenz beschreibt die relative Häufigkeit für das Auftreten einer Erkrankung oder eines Merkmals in einer Population in einem definierten Zeitraum. In einer Metaanalyse von 48 Inzidenzstudien war die jährliche kumulative Inzidenz 67,8/100.000/Jahr [7]. Die Inzidenzrate, also der Anteil der neu erkrankten Personen, lag im Mittel bei 61,4/100.000 Personenjahre [7]. Beide Kennzahlen unterscheiden sich je nach untersuchtem Ereignis und den Eigenschaften der Stichprobe mitunter erheblich. Wichtige Einflussgrößen sind v. a. Alter, Geschlecht und Herkunftsland (z. B. Industrie- oder Entwicklungsland) [14, 15].

Altersabhängigkeit der Inzidenz

Epilepsie ist eine Erkrankung aller Altersgruppen. Ihre Inzidenz zeigt jedoch einen U‑förmigen Verlauf mit den höchsten Inzidenzraten bei den jüngsten und ältesten Betroffenen [7]. Bis Anfang der 1980er-Jahre galt Epilepsie v. a. als eine Erkrankung des Kindesalters [5]. Die Verschiebung der höchsten Inzidenz ins höhere Lebensalter ist ein Resultat der besseren medizinischen Versorgung (Vermeidung perinataler Komplikationen) und der zunehmenden Lebenserwartung (s. unten). In einer prospektiven Studie zwischen 1984 und 1987 waren 25 % der Patienten mit neu aufgetretener Epilepsie jünger als 15 Jahre [16]. Bei Kindern schwankt die Inzidenz mit rund 80 bis 130/100.000/Jahr mit der höchsten Rate im ersten LJ [17, 18]. Nach dem 1. bis zum 9. LJ liegt die Inzidenz bei etwa 50 bis 60/100.000/Jahr [17] und sinkt dann bis zum 17. LJ auf das erwachsene Niveau mit knapp 20 bis 40/100.000/Jahr ab [17, 19, 20]. Hier bleibt sie zwischen dem 20. und 65. LJ stabil (ca. 30/100.000/Jahr oder weniger) [8]. Mit zunehmendem Alter steigt die Inzidenz erneut an, bis sie um das 85. LJ mit bis zu 180/100.000/Jahr ihren höchsten Wert erreicht [17].

Risikofaktoren für Altersepilepsie

Grund für diesen zweiten Erkrankungsgipfel sind v. a. die mit dem Alter zunehmende Häufigkeit zerebrovaskulärer Erkrankungen (40 %) [5], der mit Abstand häufigsten Ursache für Anfälle in dieser Altersgruppe, sowie toxisch-metabolischer Prozesse, neurodegenerativer Erkrankungen, Tumoren und Schädel-Hirn-Traumata. Die höhere Lebenserwartung führt dadurch zwangsläufig zu einem Anwachsen der Risikopopulation [14] und das trotz einer wahrscheinlichen Unterdiagnose im höheren Lebensalter [5]. Jenseits des 85. Lebensjahrs nimmt die Inzidenz aufgrund der zunehmenden Sterblichkeit im hohen Alter erneut ab.

Deutschlands Bevölkerung altert

Von 1991 bis 2019 registrierte das Bundesamt für Statistik eine Zunahme der über 65-Jährigen von 12 auf 18 Mio. Das entspricht einem Anstieg von 50 % in etwas weniger als 30 Jahren. Aufgrund rückläufiger Geburtenzahlen nahm der Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung im gleichen Zeitraum von 15 % auf 22 % zu. Bis 2060 werden es der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (06/2019) zufolge rund 30 % sein [21]. Unter Berücksichtigung unterschiedlicher Annahmen zu Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung und Bevölkerungswanderungen entspricht das einer mittleren Zunahme der über 65-Jährigen auf 22 bis 24 Mio. bis zum Jahr 2060 [22]. Mittelfristig werden es ca. 20 Mio. bis 2035 sein [23]. Aufgrund dieser Entwicklungen werden Kenntnisse über die Besonderheiten der Altersepilepsie in Diagnostik und Therapie in Zukunft eine zunehmend wichtigere Rolle spielen.

Geschlecht

Insgesamt zeigt die Mehrheit der Studien eine etwas höhere Inzidenzrate für Epilepsien bei Männern. Der Unterschied wird meist durch die höhere Inzidenz von Schlaganfällen, Traumata und der unterschiedlichen Prävalenz der häufigsten Risikofaktoren zwischen Männern und Frauen erklärt [14], und das, obwohl der Frauenanteil ab 65 Jahren 2019 mit 10,2 Mio. bei 56 % lag (vgl. Männer 7,9 Mio., 44 %). Das entspricht einem relativen Rückgang von rund 10 % im Vergleich zu den 1990er-Jahren, in denen der Anteil der Männer ab 65 Jahren als Folge der Weltkriege rund ein Drittel der Altersgruppe ausmachte (1991: Frauen 7,9 Mio. [66 %]; Männer 4,1 Mio. [33 %]). In der Untergruppe der Hochbetagten (ab 85 Jahren) besteht dieses Verhältnis ebenfalls. Für beide Geschlechter folgt die Verteilung dem U‑förmigen Verlauf der Altersverteilung.

Inzidenz nach Herkunftsland

Eine Metaanalyse von 33 Studien unterschiedlicher Herkunftsländer berichtete in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen („low- and middle-income countries“ [LMIC]) eine deutlich höhere Inzidenz (ca. 82/100.000/Jahr) als in Ländern mit hohem Einkommen (45/100.000/Jahr; „high-income countries“ [HIC]) [15]. Die Ursache dafür ist vermutlich multifaktoriell. Diskutiert werden die höhere Inzidenz von Schädel-Hirn-Traumata, Infektionen und parasitären Erkrankungen (z. B. Malaria oder Neurozystizerkose) in ressourcenschwachen Regionen. Der zweite Altersgipfel konnte für Entwicklungsländer bislang nicht bestätigt werden. Grund dafür ist vermutlich die geringere Lebenserwartung in LMIC.

Die Inzidenz akut symptomatischer Anfälle

Akut symptomatische Anfälle sind besonders im ersten Lebensjahr und im höheren Lebensalter häufig. Die Inzidenz eines akut symptomatischen Anfalls liegt im Median bei ca. 30–40/100.000/Jahr [24]. Sie nimmt mit dem Alter zu und ist für Männer (52,0/100.000 PJ) höher als für Frauen (29,5/100.000 PJ) [25]. Die häufigsten Ursachen akut symptomatischer Anfälle sind Schädel-Hirn-Traumata, zerebrovaskuläre und metabolische Erkrankungen, Fieber und Infektionen [14]. Das relative Risiko epileptischer Anfälle nach Schädel-Hirn-Traumata ist für milde Traumata jenseits des 65. LJ höher als in jüngeren Jahren (RR 2,5 vs. RR 1,8 < 65. LJ), nicht aber für schwere Traumata (RR 10,7 < 65. LJ vs. RR 4,6 > 65. LJ) [26]. Erkrankungen des höheren Lebensalters sind nicht selten mit einem erhöhten Risiko für unprovozierte epileptische Anfälle assoziiert. Schlaganfälle, Parkinson-Krankheit, Alzheimer und andere Demenzformen gehen mit einem erhöhten Risiko unprovozierter Anfälle einher [11]. Als gemeinsame Ursache symptomatischer Epilepsien und dieser zerebrovaskulären und neurodegenerativen Erkrankungen werden beispielsweise zelluläre Schädigungen und oxidativer Stress diskutiert [27]. Auch der Status epilepticus ist meist akut symptomatisch bedingt, und seine Inzidenz nimmt mit dem Alter zu [28].

Mortalität epileptischer Anfälle im Alter

Die Mortalität bei Epilepsie ist um den Faktor 2 bis 3 erhöht [14, 29]. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung haben Menschen mit Epilepsie ein erhöhtes Risiko für eine vorzeitige Mortalität. Die standardisierte Mortalitätsrate (SMR), ein Inzidenzverhältnis zwischen beobachteter und erwarteter Mortalität, liegt für Epilepsie im Mittel bei 1,6 bis 3,6 und ist für alle Altersgruppen erhöht [29]. Sie ist abhängig von der zugrunde liegenden Erkrankung und v. a. bei konvulsiven Anfällen und fehlender Anfallsfreiheit erhöht [11]. Jenseits des 64. LJ werden geringere SMR berichtet (1,4 bis 2,6) als bei den unter 45-Jährigen (6,4 bis 8,5) [29], wobei die Zunahme konkurrierender Todesursachen im höheren Alter als Ursache diskutiert wird [11]. Häufige Todesursachen bei älteren Menschen sind v. a. Pneumonien (SMR 3,5 bis 7,2; mittleres Alter 81,3 Jahre), Neoplasien und zerebrovaskuläre Erkrankungen [30]. Todesfälle als unmittelbare Folge einer Epilepsie oder von Anfällen sind in 17 % der plötzliche unerwartete Tod bei Epilepsie (engl. „sudden unexpected death in epilepsy“ [SUDEP]), Status epilepticus oder unbeabsichtigte Verletzungen und Suizid [14].

Fazit für die Praxis

  • Die höchste altersadjustierte Prävalenz der Epilepsie besteht im höheren Lebensalter bei ca. 7/1000 und höher.

  • Ursachen der Altersepilepsie sind v. a. zerebrovaskuläre Erkrankungen, toxisch-metabolische Prozesse, neurodegenerative Erkrankungen, Tumoren und Schädel-Hirn-Traumata.

  • Eine steigende Lebenserwartung und die bessere medizinische Versorgung mit längerem Langzeitüberleben der zugrunde liegenden Erkrankungen werden den Anteil der Menschen mit Epilepsie im höheren Lebensalter in den kommenden Jahren weiter verstärken.

  • Durch Epilepsie besteht eine erhöhte Mortalität in allen Altersgruppen, aber besonders in der Gruppe der Älteren. Häufige Todesursachen sind aber auch hier Pneumonien oder die Folgen der Grunderkrankung.