Walter Christian – 1922 in Karlsruhe geboren – ist 2012 wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag in Heidelberg gestorben. Hier hatte er mit Unterbrechungen durch Arbeits- und Kriegsdienst seit dem Beginn seines Studiums 1940 gelebt, studiert und gearbeitet.

Der Verehrung für seinen über ein Jahrzehnt älteren Bruder Paul ChristianFootnote 1 [1], der als Student noch Ludolf von Krehl gehört hatte und 1935 Assistent an der Nervenabteilung bei Viktor von Weizsäcker geworden war, ist wohl die Wahl von Disziplin und Fach zu danken. In deren Folge trat Walter Christian dann nach dem medizinischen Staatsexamen 1948, der Promotion und dem klinischen Volontariat 1949 als Assistenzarzt in die von Paul VogelFootnote 2, einem Schüler Weizsäckers, geleitete Universitätsklinik ein. Dem Fach und der Klinik blieb er treu, auch als er nach einer halbjährigen EEG-Ausbildung bei Richard JungFootnote 3 in Freiburg i. Br. verantwortlich für die Auswertung der EEG und die EEG-Ausbildung der Assistenten an der Klinik wurde und nach der Emeritierung von Paul Vogel 1968 und meinem Weggang nach Berlin 1973 die Leitung der zusammengelegten Abteilungen für EpiIeptologie und Neurophysiologie übernahm. Ja, selbst noch nach seiner Pensionierung 1989 durfte er, der die Seminare an der Klinik weiterbesuchte und die Entwicklung der Neurologie weiterverfolgte, sich mit Recht als „interessierter Beobachter“ bezeichnen, wie es in seinem Bericht über „Die Neurologie in Heidelberg heute“ steht, den er auf dem Heidelberger „Symposium anlässlich des 100. Geburtstags von Prof. Dr. Paul Vogel“ im Herbst 2000 vorgetragen hat [2].

Wir waren beide über 20 Jahre zusammen an der Klinik. Unter der pädagogischen Anleitung eines verehrten Lehrers sind wir zu klinischen Neurologen herangewachsen und haben auch unser wissenschaftliches Interesse Spezialgebieten zuwenden können, die in unserem Fall sachlich eng miteinander verflochten waren. Seine Erfahrungen führten 1968 zu dem Standardwerk Klinische Elektroenzephalografie, das 3 Auflagen erlebte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde [3]. Mein Opus magnum Die Epilepsien, dessen mustergültige EEG-Beispiele ihm zu verdanken sind, erschien kurz danach im selben Verlag [4]. Wenige Jahre zuvor hatten wir einmal unsere Zusammenarbeit in einer gemeinsamen Arbeit dokumentiert, in der wir eine durchaus nicht seltene Form von Epilepsie bei Jugendlichen beschrieben haben, deren Eigenart bisher nicht bekannt war. Der Titel hieß schlicht „Impulsiv-Petit mal“, weil kleine Anfälle in Form heftiger Stöße das leitende Symptom des Syndroms sind [5]. Zwanzig Jahre später wurde unsere Arbeit, die bisher der angelsächsischen Welt, weil in Deutsch geschrieben, unbekannt geblieben war, von amerikanischen Forschern entdeckt und bestätigt. Das Syndrom wurde seither mit meinem Namen etikettiert und weltweit bekannt gemacht [6, 7]. Als ich ihm bei Gelegenheit vom Ruhm unserer Arbeit erzählte und bedauerte, dass dieser Fund nicht unter unser beider Namen durch die medizinische Welt gehe, wehrte er ab mit der Bemerkung, wichtig sei doch, dass sich unsere Beschreibung noch nach Jahrzehnten bewährt habe und immer noch interessant sei. Bescheidenheit war ein bemerkenswerter Zug seines Charakters, ebenso Beständigkeit und Treue. Als ich ihn nach der Beerdigung unseres Lehrmeisters aufsuchte, berichtete er mir – wie er auch in seinem Vortrag erinnert –, dass er ihn nach seiner Emeritierung regelmäßig besucht und lange Gespräche über medizinische, naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Probleme mit ihm geführt habe. Paul Vogel sei für ihn „der entscheidende klinische Mentor“ gewesen, bei dem er „nicht nur das ärztliche Handwerk gelernt habe, sondern vor allem das Weiterdenken in vielen klinischen Fragestellungen“, und er schließt mit den schönen Worten: „Erinnerung ist auch Dankbarkeit des Herzens“ [2]. Als wir uns das letzte Mal trafen, empfahl er mir mit Nachdruck, Augustin zu lesen. Die „Bekenntnisse“ seien ihm die wesentlichste Lektüre geworden.

Wir, d. h. seine Koassistenten, nahmen sein zuverlässiges Wissen und die Anregungen, die er vonseiten seines Bruders einbrachte, gerne in Anspruch. Den Gestaltkreis kannte er gründlich, wie wir aus einem Klinikseminar wussten. Daher wurde er auch gebeten, die folgenreiche Gestaltkreisklausur an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft Heidelberg e. V. (FEST) in Heidelberg mit einem Referat über Gestaltkreis und Kybernetik zu eröffnen, wodurch ein diskursiver Zusammenhang mit dem seinerzeit an der FEST verfolgten Forschungsschwerpunkt „offene Systeme“ zu erwarten war [8]. Was nach 5 Tagen gründlicher Diskussion allerdings nicht mehr überraschte, war, dass die Klausur mit der allgemeinen Überzeugung zu Ende ging, dass die Schriften Viktor von Weizsäckers eine größere Publizität verdienten – woraus dann letztlich die Initiative zur Ausgabe der „Gesammelten Schriften“ hervorging [9, 10].