Selbstverständlich benötigt die medizinische Wissenschaft immer wieder aktualisiert aufgrund neuer Erkenntnisse eine Revision ihrer Systematik. In der Epileptologie ist die wichtigste Systematik überhaupt die Klassifikation epileptischer Anfälle und Erkrankungen. In diesem Heft erscheint die von einem von uns (GK) vorgenommene Übersetzung des in diesem Jahr in Epilepsia publizierten neuen Klassifikationsvorschlags der Klassifikations- und Terminologiekommission der Internationalen Liga gegen Epilepsie [1]. Sie löst die bislang gültigen Klassifikationen von 1985 [2] bzw. 1989 [3] verbindlich ab und unterscheidet sich in dieser Verbindlichkeit von auch in dieser Zeitschrift z. T. überaus kritisch kommentierten Verbesserungsvorschlägen, die zwischenzeitlich publiziert worden waren und aus unserer Sicht teilweise das Papier nicht wert waren, auf dem sie gedruckt wurden [4, 5, 6].

Was also hat sich wesentlich geändert?

Die Klassifikation epileptischer Anfälle behält die Begriffe fokal und generalisiert bei, wobei generalisierte Anfälle als Resultat einer bilateralen Netzwerkstörung aufgefasst werden, während fokale Anfälle einem unihemisphärischen Netzwerk entspringen. Neonatale Anfälle wurden als Entität gestrichen, epileptische Spasmen aufgenommen. Die Klassifikation generalisierter Anfälle wird vereinfacht. Myoklonisch-atonische Anfälle werden in ihr jetzt aufgeführt. Bei den fokalen Anfällen wird hinsichtlich der Semiologie eine Deskription eingefordert, die sich des bereits publizierten Glossars bedient [7].

Die Klassifikation der Epilepsien verzichtet auf die Begriffe „fokal“ und „generalisiert“. Hinsichtlich der ätiologischen Einteilung ersetzt „genetisch“ „idiopathisch“, „strukturell-metabolisch“ „symptomatisch“ und „unbekannte Ursache“ „kryptogen“. Die Klassifikation gliedert sich in elektroklinische Syndrome, also solche Syndrome, die eindeutige elektroklinische Charakteristika aufweisen, und in Konstellationen, womit Krankheiten auf dem Boden spezifischer Läsionen oder anderer Ursachen gemeint sind. Von großer Bedeutung ist in der neuen Klassifikation der natürliche Verlauf der Erkrankung. Dies wird unterstrichen durch die Wiedereinführung des Begriffs der epileptischen Enzephalopathie. Prognostisch wegweisende Vokabeln wie „benigne“ oder „katastrophal“ werden gestrichen.

Warum also jetzt eine verbindliche neue Systematik? Muss das jetzt sein? Ohne der Leserschaft in ihrem kritischen Urteil vorgreifen zu wollen, meinen wir schon, dass es an der Zeit war, eine neue Klassifikation zu erarbeiten und zu publizieren. Die über viele Jahre bewährte und in der klinischen Anwendung sicherlich auch nicht ernsthaft infrage gestellte Dichotomie zwischen fokaler und generalisierter Epileptogenese, die wiederum über viele Jahre fast deckungsgleich mit den elektroklinischen Syndromen symptomatischer bzw. idiopathischer Ätiopathogenese korrelierte, ließ sich eigentlich schon wegen der kindlichen idiopathischen fokalen Epilepsien so nicht mehr aufrechterhalten.

Fließende Übergänge in der Pathophysiologie epileptischer Anfälle zwischen fokaler und generalisierter Epileptogenese sind gerade in der präoperativen Epilepsiediagnostik immer offensichtlicher geworden; eine von Netzwerktheorien inspirierte pathophysiologische Vorstellung eines Kontinuums zwischen bilateraler (generalisierter) und regionaler (fokaler) Epileptogenese erscheint heutzutage realitätsnäher.

Wir meinen, dass gerade im Hinblick auf die neu vorgeschlagene Syndromklassifikation im Vergleich zur bislang gültigen Terminologie [2, 3] Fortschritte erzielt worden sind. Wichtig ist dabei, dass die aktuelle neue Klassifikation der sprunghaft verbesserten Kenntnis über Krankheitsentitäten im Kontext der Epileptologie Rechnung trägt.

Es wurde kritisiert, dass unter den Autoren der neuen Klassifikation doch einige der Genetik verpflichteten Kollegen vertreten sind, ferner gewisse Arbeitsgruppen überrepräsentiert sind. Beides ist richtig, möglicherweise aber dennoch nicht zu verurteilen. Schließlich hat gerade das zunehmende Verständnis genetischer Ursachen epileptischer Dispositionen dazu beigetragen, das Verständnis der Ätiologie von Epilepsien zu verbessern und dahingehend zu modifizieren, dass eben häufig nicht nur ein, sondern u. U. mehrere Bedingungsfaktoren für die individuell dann recht einmalige Phänotypisierung verantwortlich sind. Das zunehmende Verständnis genetischer, aber auch metabolischer Bedingungsfaktoren für Epilepsien hat letzten Endes notwendig gemacht, zwar praxisbewährte, aber doch unangemessen vereinfachende pathophysiologische Vorstellungen zu revidieren. Dass dabei „idiopathisch“ zu „genetisch“ und „symptomatisch“ zu „strukturell-metabolisch“ wird, bedeutet zwar in der Patientenaufklärung v. a. in den deutschsprachigen Ländern ganz sicherlich umfangreichere und letztlich entlastende Gespräche führen zu müssen, gilt es doch, den politisch vergifteten Terminus der Erbkrankheit ernsthaft zu diskutieren, ist aber sicherlich nachvollziehbar und aus unserer Sicht durchaus korrekt.

Ob sich in puncto Anfallsklassifikation tatsächlich durchsetzen wird, fokale Anfälle mit im klinischen Vordergrund stehender Bewusstseinsstörung „dyskognitiv“ zu nennen und somit dem bereits publizierten Glossar einer deskriptiven Terminologie für iktale Semiologie [7] zu folgen, wird sich zeigen. Immerhin wird durch die Aufgabe der für klinische Studien sehr sinnvollen, in der klinischen Realität höchst arbiträren Unterscheidung zwischen einfach-fokal und komplex-fokal endlich der Tatsache Rechnung getragen, dass es selbstverständlich stets überaus zweifelhaft und fast schon aus philosophischer Sicht eigentlich unhaltbar war, ein phänomenologisch so überaus vielschichtiges Geschehen wie das einer epileptischen Aura als einfach-fokal abzustempeln und somit die irrige Behauptung aufzustellen, dass das Bewusstsein eines Patienten im Verlauf einer Aura nicht beeinträchtigt oder verändert sei. Wir sind sicher, dass sich für die Beschreibung fokaler Anfälle eine pragmatische und realitätsnahe Lösung von selbst ergeben wird. Griffige Termini wie der „hypermotorische Anfall“ haben sich ja in der Vergangenheit auch sofort durchgesetzt, wenn solche neuen Begrifflichkeiten wirklich alle bekannten Anfallsphänomene beschrieben, die zuvor nicht praxisnah genug benannt werden konnten.

Wir glauben, dass der hier vorgestellte Text ganz sicherlich einige Unklarheiten der bisherigen Klassifikationen adäquat erkannt und beseitigt hat. Bevor die nun vorgelegte Klassifikation zerpflückt und zersetzt wird, möchten wir unter Hinweis auf die hohe Risikobereitschaft der internationalen Autorengruppe schon jetzt um akademische Nachsicht bitten und schließlich auch darauf verweisen, dass sie selbst ausdrücklich betonen, dass ihre Publikation gewiss noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Auf jeden Fall würden wir uns freuen, wenn wir im kommenden Heft möglichst viele Diskussionsbeiträge der Leserschaft veröffentlichen könnten.

Bernhard J. Steinhoff (Kehl-Kork)

Günter Krämer (Zürich)