Shared decision-making oder partizipative Entscheidungsfindung beschreibt die Idee, dass ÄrztInnen und PatientInnen gemeinsam medizinische Entscheidungen treffen, wenn mehr als eine Option vertretbar ist. Während diese Versorgungsform in anderen Fachdisziplinen und Ländern bereits erprobt und mitunter implementiert worden ist, fehlen solche Bestrebungen in der deutschen Notfallmedizin gänzlich. Mit Blick auf das Patientenrechtegesetz und die gesellschaftspolitischen Diskussionen, wie eine den PatientInnenbedürfnissen angemessene Medizin in Zukunft stattfinden kann, sollte auch die deutsche Notfallversorgung in den kommenden Jahren mehr Entscheidungsteilhabe ermöglichen. LeserInnen erfahren hier, warum partizipative Entscheidungsfindung ethisch und rechtlich geboten ist und welches Potenzial sie in der deutschen Notfallmedizin entfalten könnte.

Geschichte und Konzepte hinter partizipativer Entscheidungsfindung

Die Idee um partizipative Entscheidungsfindung kommt vor der Jahrtausendwende auf. Initial von Veatch [27] und später von Charles [6] methodisch umrissen, erscheinen in dieser Zeit auch die ersten Interventionsstudien, die überwiegend simpel gestaltet sind und einzelne Komponenten beinhalten. Jene Interventionen werden zu ihrer Zeit noch nicht explizit als partizipative Entscheidungsfindung benannt, obgleich sie den heutigen Grundzügen ebendieser entsprechen. Stattdessen finden noch Begriffe wie informierte Einwilligung Verwendung. Interessanterweise haben auch jene Urstudien schon notfallmedizinische Fragestellungen im Studienkonzept – beispielhaft Fieber bei Kindern [30]. In den folgenden Jahren dann entwickeln sich die Konzepte und Definitionen rund um partizipative Entscheidungsfindung stetig weiter. So findet sich heute in den biomedizinischen Datenbanken eine beinahe exponentiell steigende Anzahl von Studien – sowohl quali- als auch quantitativer Natur. Getragen wird diese Entwicklung von den weltweit Forschenden, die folglich die International Shared Decision Making Society gründeten, die heute regelmäßig Statements und Konzepte zur Vereinheitlichung der Methoden hinter partizipativer Entscheidungsfindung veröffentlicht [4]. In diesen Konzepten sowie weiteren Publikationen [7] stechen wiederkehrende Muster hervor, die als aktuell geltende Begriffsdefinition von partizipativer Entscheidungsfindung verstanden werden sollten:

  • ÄrztInnen und PatientInnen treffen gemeinsam eine medizinische Entscheidung, die mehr als eine vertretbare Option innehält.

  • ÄrztInnen tragen das Wissen zu verfügbaren Optionen und deren Erfolgsrate sowie Risiken, während PatientInnen ihre Lebensumstände und Präferenzen einbringen.

  • Der Entscheidungsprozess kann durch verschiedene Interventionen unterstützt werden.

Schaut man weiter vom Was auf das Wie, ist der Ablauf eines Gesprächs im Sinne partizipativer Entscheidungsfindung in Abb. 1 illustriert – übernommen aus dem Konzept von Clayman et al. [7]. Zu beachten ist, dass sich der genaue Gesprächsablauf zwischen den existierenden Studien – in Analogie zu der zuvor erwähnten Begriffsdefinition – in einzelnen Punkten unterscheiden kann.

Abb. 1
figure 1

Ablauf eines Gesprächs im Sinne partizipativer Entscheidungsfindung. (Übersetzt und modifiziert nach Clayman et al. 2023 [7])

Für die Implementierung partizipativer Entscheidungsfindung bedient sich die dahinterstehende Wissenschaft über die Jahre immer komplexer werdender Vorhaben. So existieren heute ganze Krankenhäuser umspannende Programme [8] samt unterschiedlicher Methodik in der Durchführung und Endpunktauswahl. Und obgleich die Komplexität dieser Programme zugenommen hat, lassen sich die beinhalteten Interventionskomponenten vereinfachend in vier verschiedene Bereiche aufteilen (Tab. 1):

  • Entscheidungshilfen sind die mit großem Abstand am häufigsten erprobten Interventionen zur Förderung partizipativer Entscheidungsfindung. Neben dem Informationsaspekt sollen sie PatientInnen aktivieren, sich mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen, oder sie auf die bevorstehende medizinische Entscheidung vorbereiten. Die verfügbaren IPDAS-Kriterien gelten als Leitfaden zur Erstellung solcher Entscheidungshilfen [10].

  • In den diversen und heterogenen Trainingsprogrammen für Gesundheitspersonal und PatientInnen wird deren Verständnis für und Teilhabe am Prozess der partizipativen Entscheidungsfindung geschult. Dazu zählt unter anderem, dass ÄrztInnen lernen, aktiv den PatientInnenwillen zu eruieren, oder PatientInnen angeregt werden, ihre Bedürfnisse im Gespräch mitzuteilen [17].

  • Ergänzend zu Entscheidungshilfen und Trainingsprogrammen steht das Entscheidungscoaching, bei dem meist nichtärztliches Personal die PatientInnen ergänzend zum ärztlichen Gespräch in ihrer Entscheidungsfindung unterstützt. In den evaluierten Programmen sticht dabei wiederholt die Vorbereitung der PatientInnen auf das ärztliche Gespräch und die PatientInnenaktivierung hervor, die ihre Bedürfnisse in den Entscheidungsprozess einbringen sollen [16].

  • Die vierte Interventionsgruppe umfasst ein heterogenes Feld von vorrangig aktivierenden Maßnahmen. Hier kommen Flyer, Poster, Plakate oder anderweitige Erinnerungshilfen zum Einsatz, die Gesundheitspersonal und PatientInnen zu partizipativer Entscheidungsfindung anregen sollen und die anderen Interventionskomponenten bewerben.

Kombiniert erprobt wurden diese vier verschiedenen Interventionsarten jüngst in der weltweit bislang umfassendsten Implementierung partizipativer Entscheidungsfindung an einer deutschen Universitätsklinik [8].

Auswirkungen partizipativer Entscheidungsfindung auf Gesundheitsversorgung

Die größte Herausforderung bei der Literaturbetrachtung ist, sich in der Flut verfügbarer Studien über partizipative Entscheidungsfindung zu orientieren. So existieren neben zahlreichen qualitativen oder randomisiert-kontrollierten Studien mittlerweile auch systematische Literaturübersichten samt Metaanalysen. Die Ergebnisse all dieser Studien lassen sich unmöglich als Ganzes herunterbrechen. So finden sich Interventionen ohne nennenswerte Veränderungen in den Endpunkten neben solchen mit Verbesserungen. Nur selten sind Endpunkte durch partizipative Entscheidungsfindung negativ beeinflusst [26]. Das prominenteste Gegenargument, partizipative Entscheidungsfindung führe zu signifikant längeren Gesprächszeiten, hat 2024 keinen Bestand mehr, wie in randomisiert-kontrollierten Studien sowie Metaanalysen außerhalb der Notfallmedizin aufgezeigt [28]. Dies hat auch Bestand beim Blick auf die durchgeführten randomisiert-kontrollierten Studien innerhalb der Notfallmedizin [13,14,15, 23]. Obgleich die Gesprächszeiten darin formal zwischen ein bis zwei Minuten verlängert waren, müssen der Interventionseffekt sowie die auf lange Sicht verringerte Gesamtgesprächszeit durch ausbleibende weitere Diagnostik beachtet werden.

In einem kürzlich veröffentlichten Literaturreview wurde der Versuch unternommen, alle neueren Interventionen ab 2015 systematisch zu sortieren [29]. Darin schlussfolgern die AutorInnen, dass partizipative Entscheidungsfindung grundsätzlich das Potenzial habe, Endpunkte der Gesundheitsversorgung zu verbessern – abhängig vom medizinischen Kontext, in dem die Intervention stattfindet. Gleichzeitig seien Aspekte, die PatientInnen und Ökonomie beleuchten, deutlich häufiger untersucht als Veränderungen innerhalb einzelner organisatorischer Einheiten wie Krankenhäusern oder Behandlungsteams. Hier wäre wünschenswert, dass Entscheidungsträger im Gesundheitssystem und der Gesellschaft zukünftig eine Gewichtung der verschiedenen Auswirkungen herausarbeiten. So bleibt insbesondere zu diskutieren, ob die partizipative Entscheidungsfindung überhaupt zu Verbesserungen bei Kosten oder klinischen Endpunkten führen muss, oder ob nicht andere Aspekte überwiegen. Denn erstens respektiert die partizipative Entscheidungsfindung die PatientInnenautonomie – eines der vier ethischen Grundprinzipien nach Beauchamp und Childress [2] – und wird folglich auch als ethischer Imperativ beschrieben [9]. Zweitens fördert die partizipative Entscheidungsfindung durch Berücksichtigung der individuellen Situation der PatientInnen deren Gesundheitskompetenz (sogenannte Health Literacy) und bessert Lücken im Krankheitswissen auf [19]. Drittens ergänzt die partizipative Entscheidungsfindung breiter angelegte Programme für PatientInnen mit fortgeschrittenen Krankheiten mitsamt deren besonderen Situationen und Bedürfnissen (sogenanntes Advance Care Planning; [11]).

Die aktuelle Situation in Deutschland

Partizipative Entscheidungsfindung ist im Jahr 2024 noch nicht als fester Grundsatz in der deutschen medizinischen Versorgung verankert, obgleich mehrere Forschungsprogramme dazu in den vergangenen Jahren stattfanden. Gleichzeitig ist das Recht deutscher PatientInnen zur ausreichenden Aufklärung und informierten Einwilligung bei medizinischen Maßnahmen im Besonderen gestärkt (§§ 630d, 630e BGB). Die existenten Implementierungsstudien zur partizipativen Entscheidungsfindung in Deutschland verteilen sich primär auf psychiatrische, onkologische oder chronische Krankheitsbilder. Beispielhaft seien hier die Arbeiten von Härter [12] oder Buhse [5] genannt. Das bislang umfassendste Programm SHARE TO CARE fand am Kieler Campus des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein statt, gefördert vom Gemeinsamen Bundesausschuss im Zeitraum 01.10.2017 bis 30.09.2021 [8]. Aspekte der Entscheidungsfindung und PatientInnenzufriedenheit konnten darin nachweislich verbessert werden [24]. Folglich hat der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Stellungnahme zum Projekt eine Empfehlung zur Routineimplementierung der partizipativen Entscheidungsfindung in das deutsche Gesundheitssystem ausgesprochen und an das Bundesgesundheitsministerium übermittelt. Aus diesem Projekt hervorgehend können ambulante PatientInnen in Bremen sowie Behandelte am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein bereits jetzt über Selektivverträge besondere Beachtung finden, wenn sie in partizipativer Entscheidungsfindung eingebunden waren. Hier bleibt abzuwarten, wie sich das Bundesgesundheitsministerium positionieren wird und welche strukturellen Vorhaben zur Implementierung in Deutschland in den nächsten Jahren folgen könnten.

Die aktuelle Situation in der Notfallmedizin

Einen umreißenden Rahmen zur partizipativen Entscheidungsfindung in der Notfallmedizin bietet der Grundsatzartikel von Probst et al. aus 2017 [22]. Darin werden auch die Unterschiede zur informierten Einwilligung herausgearbeitet. Denn beschreibt letztere die vor einer Maßnahme einhergehende Informierung und Einwilligung von PatientInnen bezüglich selbiger, ist die partizipative Entscheidungsfindung die konsequente Weiterentwicklung mit aktiver Einbeziehung der PatientInnenbedürfnisse in den Entscheidungsprozess.

Während Arbeiten aus Deutschland zu partizipativer Entscheidungsfindung in der Notfallmedizin gänzlich fehlen, stammt die vorhandene Evidenz vor allem aus den USA. LeserInnen finden eine Übersicht zu existierenden randomisiert-kontrollierten Studien in Tab. 2. Auch hier variieren die Ergebnisse in den Endpunkten von ausbleibenden Effekten zu Verbesserungen. Hervorzuheben ist die von Hess [13, 15] gezeigte Reduktion in kardialer Diagnostik bei atraumatischen BrustschmerzpatientInnen mit gleichzeitig unveränderter PatientInnensicherheit (Mortalität und Häufigkeit unerwünschter Ereignisse). Auf Grundlage dieser Ergebnisse lässt sich der partizipativen Entscheidungsfindung im notfallmedizinischen Kontext ein ressourcensparendes (bzw. Überdiagnostik verringerndes) Potenzial zuschreiben.

Tab. 1 Interventionen zur Förderung partizipativer Entscheidungsfindung
Tab. 2 Übersicht randomisiert-kontrollierter Studien zu partizipativer Entscheidungsfindung in der Notfallmedizin

Neben den in Tab. 2 genannten quantitativen Studien existiert auch qualitative Forschung, die das Verständnis um die Besonderheiten von partizipativer Entscheidungsfindung in der Notfallmedizin erweitert. PatientInnen beschreiben darin ein Bedürfnis, über ihre Behandlungsoptionen wissen zu wollen und von den Behandelnden gehört zu werden [25]. Die Behandelnden andererseits sehen verbunden mit der partizipativen Entscheidungsfindung sowohl großes Potenzial als auch bestehende Barrieren in der Implementierung [3].

In den USA ist die partizipative Entscheidungsfindung mittlerweile Bestandteil notfallmedizinischer Leitlinien. Beispielhaft seien hier die Empfehlungen des American College of Cardiology aufgeführt, die für PatientInnen mit atraumatischem Brustschmerz und niedrigem bis mittlerem Risikoprofil partizipative Entscheidungsfindung als vorrangige Methode zur Gesprächsführung und Entscheidungsfindung empfehlen. Solche Berücksichtigung in deutschen Leitlinien dauert zu diesem Zeitpunkt noch an.

Herausforderungen und Potenzial partizipativer Entscheidungsfindung für die deutsche innerklinische Notfallmedizin

Die deutsche Notfallmedizin sieht sich aktuell großen Reformbemühungen ausgesetzt, die vorrangig darauf abzielen, den Zugang potenzieller NotfallpatientInnen gezielter zu steuern. Dieser Ansatz vernachlässigt die Sorgen und Bedürfnisse, mit denen PatientInnen Notfallzentren aufsuchen. Möchte man dazu postulieren, dass die Schwelle von PatientInnen, mit medizinischen Problemen direkt eine Notaufnahme aufzusuchen, zunehmend sinkt, bietet sich die partizipative Entscheidungsfindung auch hier an. Sie spielt die Verantwortung von der ärztlichen partiell zurück auf die PatientInnenseite, bekommen Letztere eine aktivere Rolle und damit mehr Eigenverantwortung. Darüber hinaus ist partizipative Entscheidungsfindung – wie zuvor umrissen – ethisch impliziert, rechtlich in der deutschen Gesetzgebung indirekt gefordert und es besteht die Chance, überflüssige Diagnostik, von der PatientInnen nicht profitieren, zu verringern. Auf diesen Gedanken aufbauend, sollte eine Überführung dieser Versorgungsform in die deutsche Notfallmedizin geprüft werden.

Herausfordernd wird dabei erstens die Überzeugungsarbeit beim Gesundheitspersonal sein. So sind hier die häufig frequentierten Gegenargumente zu erwarten, die PatientInnen und Krankheitsbilder seien ungeeignet für solche Gespräche oder die Gespräche würden per se länger werden [1, 3]. Lassen sich diese Befürchtungen auf Grundlage der vorhandenen Literatur noch gut ausräumen [15, 28], wird die zweite Herausforderung sein, partizipative Entscheidungsfindung sinnhaft in notfallmedizinische Handlungsabläufe zu integrieren. Ob dies am besten mit Entscheidungshilfen oder Training für Personal zu erreichen ist und wie die PatientInnen dabei beteiligt werden können, bleiben Fragestellungen zukünftiger Forschungsvorhaben. Die dritte und größte Herausforderung hingegen muss in der konkreten Ausgestaltung des rechtlichen Spielrahmens gesehen werden. Dieser wird von amerikanischen NotfallmedizinerInnen in Interviewstudien wiederholt als Implementierungsbarriere beschrieben [3]. Gleiches dürfte für deutsches Notfallmedizinpersonal zu erwarten sein. Insbesondere für Situationen, in denen nach partizipativer Entscheidungsfindung eine Komplikation auftritt, braucht die deutsche Notfallmedizin einen gesellschaftlichen und juristischen Leitfaden, der für Gesundheitspersonal und PatientInnen nachvollziehbar, fair und verbindlich ist. Und obgleich ein Versterben die Maximalform einer Komplikation darstellt, wird es für die Justiz vermutlich gerade um solche Fälle gehen, in denen ein Patient/eine Patientin nach partizipativer Entscheidungsfindung eine unvorhersehbare, dauerhafte Einschränkung seiner/ihrer Erwerbstätigkeit erleidet und Kompensationszahlungen anfallen.

Ein fiktives Patientenbeispiel für Entscheidungsteilhabe in der Notaufnahme

In der Notaufnahme einer deutschen Universitätsklinik, mitsamt allen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten eines Maximalversorgers, wird eine 65-jährige Patientin vom Hausarzt eingewiesen. Die Patientin hatte in den letzten Wochen mehrfache, selbstlimitierende Brustschmerzepisoden, die den Notaufnahmearzt unter anderem an eine mögliche koronare Genese denken lassen. Es bestehen keine Vorerkrankungen und auf der Medikationsliste findet sich lediglich ein übliches Antihypertonikum. In der Notaufnahme werden ein unauffälliges EKG sowie Labor samt negativem D‑Dimer bei niedrigem Wells-Score und hochsensitivem Troponin erhoben. Die Patientin ist über den Aufenthalt beschwerdefrei. Der Heart-Score sei in diesem Fall bei vier Punkten (moderates Risiko). Vor einer Dispositionsentscheidung stehend, geht der behandelnde Arzt die vorhandenen Managementoptionen durch: die Patientin stationär aufnehmen, nach Hause entlassen oder auf der Observation Unit beobachten? Und wie soll die weitere koronare Testung aussehen – invasiv, nichtinvasiv oder gänzlich auf Diagnostik verzichten?

Die vorhandenen Risikostratifizierungstools (Heart-Score, Diamond-Forrester etc.) geben Arzt und Patientin zwar Zahlen an die Hand, nicht aber eine Unterstützung, wie beide diese Zahlen interpretieren könnten – ein Problem, das auch künstliche Intelligenz in Zukunft nicht lösen wird. Die Interpretation eines – beispielhaft – 20 %igen Risikos für ein unerwünschtes Ereignis in den nächsten drei Monaten bewertet jeder Patient vor seinem Hintergrund anders. An dieser Stelle sei weiterhin postuliert, dass PatientInnen Notaufnahmen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen aufsuchen. Während die eine mit dem Ausschluss akuter, zeitsensitiver Pathologien zufrieden ist, möchte der andere genau wissen, woher seine Beschwerden kommen.

Partizipative Entscheidungsfindung ist die Antwort auf die Frage, wie mit den Ergebnissen des technischen Prozesses der Risikostratifizierung und den PatientInnenbedürfnissen umgegangen werden könnte. Und obgleich die Realität an deutschen Krankenhäusern von diesem fiktiven Beispiel aufgrund fehlender diagnostischer Alternativen oder anderslautender, krankenhausinterner Verfahrensanweisungen abweichen könnte, ist eben jenes beschriebene Szenario in den randomisiert-kontrollierten Studien von Hess aus Amerika bei BrustschmerzpatientInnen erfolgreich erprobt worden [13, 15].

Ausblick auf die präklinische Notfallmedizin

Für partizipative Entscheidungsfindung lässt sich die präklinische Notfallmedizin in zwei grobe Bereiche teilen. Der erste Bereich umfasst solche PatientInnen mit unmittelbarem notfallmedizinischem Behandlungsauftrag (akutes Trauma, einschränkende Symptome, wahrscheinliche zeitsensitive Pathologie), die einer Zuführung in eine dem Krankheitsbild angemessene Versorgungsstruktur bedürfen. Der zweite Bereich umfasst solche PatientInnen, bei denen kein dringlicher notfallmedizinischer Behandlungsauftrag besteht und eine weitere Anbindung mit Zeitverzug gerechtfertigt wäre. Während partizipative Entscheidungsfindung für den erstgenannten Bereich untauglich erscheint, existiert für den zweiten Bereich aktuell nur spärliches, qualitatives Datenmaterial, in dem Rettungsdienstmitarbeitende zu ihrem Vorgehen in eben solchen nichtzeitsensitiven Situationen befragt wurden [21]. Diese Daten sind weit entfernt von einem ersten Konzept zu partizipativer Entscheidungsfindung in der Präklinik, doch zeigen sie Faktoren auf, die Einfluss haben könnten. Beispielhaft seien hier die Versorgungssituation vor Ort oder die Tragweite und Komplexität der möglichen medizinischen Auswirkungen der Entscheidung erwähnt.

Obgleich für die Präklinik noch belastbare Daten fehlen, wird an dieser Stelle insbesondere für die deutsche Rettungsmedizin das Belassen von PatientInnen vor Ort als Alltagsrealität proklamiert. Gerade vor dem Hintergrund einer Nutzung des Rettungsdiensts für vermeintlich aufschiebbare, im ambulanten Sektor zu versorgende medizinische Probleme, könnte ein auf partizipativer Entscheidungsfindung basierendes Handlungsprotokoll den rechtlichen Druck auf das Rettungsdienstpersonal verringern. Dafür existieren allerdings noch zahlreiche ungeklärte Fragen: Bedarf es für präklinische partizipative Entscheidungsfindung der Anwesenheit eines Notarztes/einer Notärztin oder ist die Durchführung an NotfallsanitäterInnen delegierbar? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein Patient ambulant belassen werden kann? Wie könnte Dokumentationsmaterial für derartig getroffene Entscheidungen aussehen?

Fazit für die Praxis

  • Partizipative Entscheidungsfindung beschreibt die Idee, dass ÄrztInnen gemeinsam mit PatientInnen medizinische Entscheidungen finden, wenn mehr als eine vertretbare Handlungsoption zur Verfügung steht.

  • Die wachsende Zahl an internationalen Publikationen sowie die kürzlich stattgehabte, groß angelegte Implementierungsstudie in Deutschland (SHARE TO CARE) legen nahe, dass sich auch die deutsche Notfallmedizin langfristig mit dem Thema auseinanderzusetzen hat.

  • Verschiedene Interventionen können den Einsatz partizipativer Entscheidungsfindung fördern – am weitläufigsten sind in der Literatur sogenannte Entscheidungshilfen beschrieben.

  • Die partizipative Entscheidungsfindung ist ethisch und rechtlich geboten und hat darüber hinaus das Potenzial, Aspekte der Entscheidungsfindung und Ökonomie zu verbessern.

  • Partizipative Entscheidungsfindung führt nicht unweigerlich zu längeren Gesprächszeiten.

  • Für eine Implementierung in der deutschen Notfallmedizin fehlen Konzepte zur sinnvollen Integration in Behandlungsabläufe und ein rechtlicher Rahmen, in dem sich die beteiligten Akteure (ÄrztInnen und PatientInnen) sicher bewegen können.