Einführung

Zur strukturierten Darstellung von Risiken, denen Patient:innen im Rahmen eines Krankenhausaufenthalts ausgesetzt sind, hat sich die Abbildung entlang eines bestehenden Patientenpfads bewährt [1]. Insbesondere die Anforderung an eine Notaufnahme, kritisch kranken, in der Regel unbekannten Patient:innen eine adäquate und zeitgerechte Behandlung garantieren zu können, lässt eine Vielzahl möglicher Risiken mit zum Teil hohem Schadenspotenzial erwarten. Missverhältnisse zwischen verfügbaren und notwendigen Ressourcen und eine hohe Anzahl an interprofessionellen und -personellen Schnittstellen lassen ferner ein risikosensibles Umfeld vermuten [2]. Der Risikomanagementprozess nach ÖNORM D 4902‑2 (ehem. ONR 49002‑2; [3]) kann zur Identifikation, Analyse und Bewertung von Risiken einer Organisation durch die Anwendung von Top-down- oder Bottom-up-Methoden beitragen. Bewährt haben sich hier insbesondere reaktive Methoden durch Schadensanalysen oder (Critical) Incident Reporting System (CIRS) bzw. präventive Methoden der Szenario- oder Prozessrisikoanalyse [4]. Letztere soll nachfolgend beschrieben sowie am Beispiel der Versorgung eines unerwartet in der Kindernotfallaufnahme eintreffenden, nicht rettungsdienstlich vorversorgten bzw. angemeldeten Kindes mit vital bedrohlicher Erkrankung angewendet werden.

Grundlagen der Prozessrisikoanalyse

Anwendbarkeit der Prozessrisikoanalyse

Vor Beginn einer Prozessrisikoanalyse ist der gewählte Prozess hinsichtlich seiner Eignung für die Anwendbarkeit der Methode anhand von fünf Kriterien zu untersuchen sowie der Erfüllungsgrad zu bewerten [2]. Wird das Anforderungsprofil wie in Tab. 1 erfüllt, ist nachfolgend eine detaillierte Prozessbeschreibung sowie Formulierung von Ziel und Zweck der Überprüfung vorzunehmen.

Tab. 1 Anwendbarkeit Prozessrisikoanalyse

Prozessdefinition und -eingrenzung

Eine anwendbare Risikoanalyse erfordert initial die explizite Beschreibung bzw. Definition des zu analysierenden Prozesses inklusive thematischer Abgrenzung bzw. Eingrenzung des Umfangs. Diese kann z. B. anhand von definierten Schnittstellen, Behandlungsverantwortungen o. Ä. vorgenommen werden. Als sogenannte Risikoeigner sind jene Personen zu benennen, die im Rahmen des Prozesses verantwortlich und entscheidungsbefugt sind, hinsichtlich eines Risikos zu handeln [3]. Ferner ist eine Einschätzung des zu erwartenden Ausmaßes vorzunehmen.

  • Patient:in in Kindernotfallaufnahme ohne vorherige medizinische Sichtung bzw. Avisierung

    (Ausschluss bereits durch medizinisches Fachpersonal vorgesichteter Patient:innen)

  • Einstufung des Patientenzustands als „kritisch krank“

    (Ausschluss von Patient:innen niedrigerer Behandlungsprioritäten)

  • Prozessumfang auf Verantwortungsbereich Kindernotfallaufnahme beschränkt

    (Betrachtung bis Übergabe der Behandlungsverantwortung an nachfolgende Schnittstelle)

  • Definition der Risikoeigner

    (Ärztliche und pflegerische Leitung, Klinik- und Krankenhausleitung, Risikomanagement)

  • Zu erwartender Umfang

    (Retrospektive Analyse zurückliegender Fälle o. g. Kriterien im Betrachtungszeitraum x)

  • Definition von Ziel und Zweck der Risikoanalyse

    (Detektion von Prozessrisiken und Implementation von Instrumenten zur Bewältigung dieser)

Vorgehen Prozessrisikoanalyse

Das weitere Vorgehen orientiert sich an der industriell etablierten Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA). Diese zerlegt ein System bzw. einen Prozess kleinteilig in Haupt- und Teilabschnitte, nimmt eine Struktur- und nachfolgend Funktionsanalyse vor, um abschließend aus detektierten Fehlfunktionen mit Gefährdungen und Risiken adäquate Gegenmaßnahmen ableiten zu können [1]. Adaptiert an medizinische Prozesse ist für das vorliegende Beispiel das in Abb. 1 beschriebene Vorgehen möglich [5].

Abb. 1
figure 1

Vorgehen Prozessrisikoanalyse. NRS numerische Rating-Skala

Identifikation von Gefährdungen nach Prozesselementen

Durch Zerlegung des Gesamtprozesses in Teilabschnitte können den zugehörigen Funktionen bzw. Tätigkeiten potenzielle Fehler oder Gefährdungen zugeschrieben werden. Detektierte Risiken werden nachfolgend numerisch aufgelistet sowie ggf. zusammengefasst (vgl. Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Übersicht Prozessanalyse

Nachfolgend sind die detektierten Risiken in Abhängigkeit von ausgewählten Risikokriterien in einer prozessbezogenen Risikomatrix zu verorten, um eine Priorisierung zugunsten der am dringlichsten zu ergreifenden Abwehrmaßnahmen vornehmen zu können.

Auswahl der Risikokriterien

Im Rahmen der Auswahl von Risikokriterien hat sich u. a. eine Bewertung der detektierten Risiken nach Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkungen bewährt. Referenzpunkte können hier u. a. Tabelle A.3 und A.9 der ONR-Norm 49002-2:2014 darstellen, welche die Eintrittswahrscheinlichkeit von häufig (≥ einmal pro Monat) bis unwahrscheinlich (< einmal in 3 Jahren) sowie das Schadenspotenzial von katastrophal bis unbedeutend jeweils fünfstufig graduieren [3]. Wichtig ist eine Beurteilung nach dem sogenannten Credible-worst-case-Prinzip, d. h. eine Einstufung hinsichtlich der denkbar folgenschwersten, aber dennoch glaubhaften Konsequenz [1].

Beispiel.

Das Risiko, die vitale Bedrohung eines Kindes zu übersehen, scheint aufgrund der Tendenz zur pädiatrischen Übertriagierung [6] nicht regelhaft vorzukommen, ist aber möglich (≙ einmal pro Quartal, Stufe 4/5). Die Konsequenz wäre potenziell katastrophal (≙ schwerer Gesundheitsschaden mit Dauerfolgen bis Tod, Stufe 5/5). Aus Multiplikation von Eintrittswahrscheinlichkeit (4) und Schadenspotenzial (5) resultiert die Einstufung als „extrem hohes Risiko“ (∑ 20; vgl. Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Darstellung des Risikoprofils, adaptiert nach ÖNORM D 4902‑2

Maßnahmen zur Risikobewältigung

Maßnahmen zur Risikobewältigung lassen sich nach ihren Stärkegraden einteilen, d. h. danach, wie wahrscheinlich ihr Ergreifen eine Bewältigung bzw. Reduktion des Risikos erwarten lässt. Vereinfacht kann eine Kategorisierung in starke, mittlere und schwache Maßnahmen vorgenommen werden [7]. Als „stark“ werden z. B. bauliche Maßnahmen, IT-gestützte Lösungen oder die Etablierung einer Risikokultur bewertet. Maßnahmen mittlerer Stärke beziehen sich insbesondere auf die Erstellung von Anweisungen, Checklisten oder die Durchführung von (Risiko‑)Audits. Als „schwach“ werden dementgegen Informations- bzw. Diskussionsrunden, Warnungen, aber auch Training und Ausbildung bewertet [7]. Ursächlich hierfür ist, dass besagte Maßnahmen auf individuelle Verhaltensänderungen abzielen, die oftmals schwer zu erzielen sind. Dennoch ist z. B. die Simulation in der Medizin heutzutage ein fester Bestandteil zur Erhöhung der Patientensicherheit [8]. Das ökonomische Spannungsfeld eines Krankenhauses veranlasst ferner dazu, den potenziellen Wirkungsgrad von Maßnahmen notwendigen Ressourcen gegenüberzustellen.

Prozessrisikoanalyse Kindernotfallaufnahme

Unter Berücksichtigung der beschriebenen Grundlagen ist eine Prozessanalyse für das unerwartete Eintreffen eines kritisch kranken Kindes in der Kindernotfallaufnahme untersucht und eine Auswahl von vier Gefährdungen vorgenommen worden. Diese sollen in nachfolgender Übersicht dargestellt und mögliche Gegenmaßnahmen zur Reduktion bzw. Bewältigung entsprechender Risiken aufgezeigt sowie eine dreistufige Graduierung der zu erwartenden Bindung finanzieller und personeller Ressourcen von „gering“ (€ bzw.

figure c

) bis „hoch“ (€€€ bzw.

figure d

) vorgenommen werden.

Untertriagierung

Tab. 2.

Tab. 2 Risiko der Untertriagierung

Eine der Herausforderungen von Notaufnahmen besteht darin, auch in Situationen einer möglichen Diskrepanz zwischen personellen Ressourcen und Patientenaufkommen die zielgerichtete Zuteilung von Behandlungsdringlichkeiten vornehmen zu können [9]. Neben Ausbildung und Schulung sowie Anpassung des Personalschlüssels an saisonale bzw. tägliche Schwankungen des Patientenaufkommens wird die Verwendung von Triagesystemen als positiv für das Patientenoutcome angesehen [10]. Bei vorhandenen Tendenzen zur Übertriagierung zeigen sich die etablierten Systeme im Rahmen der Anwendung für pädiatrische Patient:innen aber insbesondere hinsichtlich einer Untertriagierung von bis zu 15 % als anpassungsbedürftig [11]. Mittels retrospektiver Auswertung kann die Treffsicherheit zurückliegender Ersteinschätzungen überprüft werden, etwaige Schwachstellen können detektiert und behoben werden.

Fehl‑/Nichtdiagnostik

Tab. 3.

Tab. 3 Risiko der Fehl‑/Nichtdiagnostik

Das vergleichsweise geringe Aufkommen vital bedrohter Kinder in der Notaufnahme erschwert die Gewinnung von Expertise und Routine. Die Implementierung strukturierter Untersuchungs- und Behandlungskonzepte wie des bei Erwachsenen etablierten ABCDE-Schemas [12] kann an dieser Stelle zur Erhöhung der Versorgungsqualität beitragen [13], sofern die Anwendung mittels regelmäßiger Teamtrainings erprobt wird [14]. Der in Notfall- oder Akutsituationen wiederkehrend auftretenden Herausforderung, einen hohen Komplexitätsgrad bei geringem Informationsgrad erfolgreich zu bewältigen, kann insbesondere durch regelmäßiges Simulationstraining begegnet werden [15]. Darüber hinaus ist die Hinterlegung von klinischen Behandlungspfaden und Handlungsanweisungen als SOP, basierend auf aktuellen Leitlinien bzw. Empfehlungen der Fachgesellschaften, förderlich [16].

Fehler in Medikation und Auswahl von Devices

Tab. 4.

Tab. 4 Risiko von Fehlern in Medikation und Auswahl von Devices

Bei der Behandlung kritisch kranker Kinder sind unter Zeitdruck adäquate Therapiemaßnahmen zur Abwehr einer unmittelbaren vitalen Bedrohung vorzunehmen. Behandlungsdringlichkeit und fehlende Routine lassen u. a. generell bestehende Risiken bei der Anwendung von Arzneimitteln oder Devices in Akutsituationen aggravieren [17]. Neben Ausbildung, Training und Simulation kommt der Verwendung von Hilfsmitteln eine besondere Bedeutung zu [18]. Etabliert haben sich hier kognitive Hilfen wie papierbasierte oder digitale pädiatrische Notfallbänder [19], Verdünnungsanleitungen oder standardisierte Spritzenkennzeichnungen [20] sowie allgemeine Maßnahmen zur Erhöhung der Pharmakovigilanz, wie Applikation im Vier-Augen-Prinzip, konnektionsgeschützte Applikationswege, die Verwendung von gewichtsadaptierten Fertigpräparaten oder eine Vermeidung optisch ähnlicher Medikamente – sogenannter „look-alikes“ [21].

Unzureichende Infrastruktur und interdisziplinäre Abstimmung

Tab. 5.

Tab. 5 Risiko der unzureichenden Infrastruktur und interdisziplinären Abstimmung

Die Versorgung vital bedrohter Patient:innen stellt ferner Anforderungen an Infrastruktur und Funktion einer Notaufnahme als Schnittstelle für mit- bzw. weiterbehandelnde Fachrichtungen dar [22]. Bauliche Maßnahmen oder Investitionen in Technik und Equipment sind starke Maßnahmen der Risikobewältigung, gestalten sich jedoch in Umsetzung und Finanzierung schwieriger [7]. Aus diesem Grund ist die optimale Nutzung bereits vorhandener Ressourcen unter klarer Definition des eigenen Leistungsspektrums sowie Abstimmungen bzgl. der Inanspruchnahme fremder Ressourcen – z. B. durch Etablierung von Alarmierungsschleifen – notwendig [23].

Fazit

Das unerwartete Eintreffen eines kritisch kranken Kindes in der Kindernotfallaufnahme stellt beteiligte Personen und Professionen vor die Herausforderung, unter Zeitdruck komplexe Entscheidungen bei eingeschränktem Informationsgehalt treffen zu müssen. Ein vergleichsweise geringes Aufkommen entsprechender Fälle kann nur bedingt zu Handlungssicherheit durch Routine beitragen, sodass eine adäquate Vorbereitung auf das mögliche Eintreten dieser Notfallbilder obligat erscheint. Hierzu kann die Anwendung der im klinischen Risikomanagement etablierten Prozessrisikoanalyse beitragen, die definierte Prozesse in zugehörige Einzelschritte unterteilt und diese nach etwaigen Risiken und Fehlerpotenzialen untersucht. Auf diese Weise können Ursachen und mögliche Folgen aufgezeigt sowie ein resultierendes Risikoprofil erstellt werden. Dieses gibt Auskunft über Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenspotenzial der glaubhaft folgenschwersten Konsequenzen bei Eintreten entsprechender Risiken und erlaubt, die Dringlichkeit des Ergreifens abwehrender Maßnahmen priorisiert einschätzen zu können. Im Kontext des hier beispielhaft untersuchten Prozesses werden Maßnahmen zur Verhinderung von Untertriagierung, z. B. durch Schulungen und Ausbildung oder durch die Einführung bzw. Anpassung von Triagesystemen, als dringlich zu ergreifend angesehen. Gleiches gilt für Mängel im Behandlungsprozess aufgrund fehlerhafter Medikation oder falscher Devices, deren Auftreten durch Techniken zur Erhöhung der Pharmakovigilanz und des CRM sowie mittels kognitiver Hilfsmittel wie pädiatrischer Notfallbänder reduziert werden könnte. Eine Optimierung der Infrastruktur und interdisziplinären Zusammenarbeit kann darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit erhöhen, teamorientiert entsprechenden Akutsituationen begegnen und diese adäquat bewältigen zu können.