Hintergrund

In den letzten Jahren ist der Rettungsdienst mit einem erheblichen Anstieg seiner Einsatzzahlen konfrontiert [1, 2]. Als Gründe werden Bevölkerungsmerkmale wie bspw. steigender Anteil chronisch Kranker, Familienstand, Bildung, gesundheitliche Überzeugungen und Präferenzen sowie strukturelle Gegebenheiten des Gesundheitssystems angeführt [3,4,5,6].

Das Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2018, Gesetzesvorhaben und Gesetze des Bundesministeriums für Gesundheit [7,8,9] führten zu einer breiten Diskussion unterschiedlicher Akteure zum Reformbedarf in der Notfallversorgung.

An die Diskussion setzt das vom Innovationsfonds geförderte Projekt „Integrierte Notfallversorgung: Rettungsdienst im Fokus“ (Inno_RD) an, indem es aus dem Projekt entwickelte Handlungsempfehlungen (HE) zur Verbesserung der (Notfall‑)Versorgung von Rettungsdienstpatienten in den Diskurs einbringt. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf dem Grad der Zustimmung zu den HE.

Methode

Die HE basieren auf Analysen von drei Fokusgruppen (FG; zur Methodik vgl. [10, 11]) und weiteren projektbezogenen Erkenntnissen aus unten näher beschriebenen Datenquellen. Ziel der FG war die Erhebung von Verbesserungspotenzialen der (Notfall‑)Versorgung von Rettungsdienstpatienten aus Sicht von Experten. Die FG fanden mit insgesamt 26 ausgewählten Experten der Notfallversorgung aus Deutschland und Nachbarländern im Sommer 2019 statt. Der Fokus bei der Auswahl der Experten lag u. a. auf einem breiten und langjährigen Erfahrungsspektrum, wissenschaftlicher Beschäftigung mit dieser Thematik, Veröffentlichungen oder regionaler Tätigkeit im Rettungsdienst. Die Experten vertraten folgende Bereiche: Gesundheitssystem (z. B. Ärzte aus dem ambulanten oder stationären Bereich), Rettungsdienst (z. B. Disponent, Notfallsanitäter, Notarzt), Wissenschaft, Qualitätssicherung, Ausbildung, Politik und Justiz. Sie wurden gezielt auf drei FG verteilt, die durch Leitfragen der Moderatoren einen von drei Themenschwerpunkten (a. Prozesse; b. Strukturen; c. Recht/Qualifikation) diskutierten. Allen drei Gruppen wurden zwei einheitliche Fallbeispiele (sog. Fallvignetten [FV], s. Online-Zusatzmaterial 1; zur Methodik vgl. [12]) vorgelegt, um zunächst eine offene Diskussion anzuregen.

Die Inhalte der zwei FV kommen im rettungsdienstlichen Alltag vermehrt vor, stellen aber nicht zwingend eine Notfallsituation dar (Alkoholintoxikation und Katheterwiedereinlage [s. Online-Zusatzmaterial 1]). Die FV umfassen die Zeit vom Beschwerdebeginn im häuslichen/außerhäuslichen Setting bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus, um u. a. auch Übergänge in der Versorgung abzubilden. Jede FG diskutierte die jeweiligen Ausschnitte der Geschichte, bspw. den Anruf in der Leitstelle oder das Eintreffen der Notfallsanitäter mit ihren entsprechenden Entscheidungen.

Alle Gespräche wurden aufgezeichnet, transkribiert und inhaltsanalytisch nach Mayring [13] durch zwei unabhängige Codierer induktiv und deduktiv ausgewertet. Beim deduktiven (gerichteten) Vorgehen wurde im Vorfeld ein Kategoriensystem erstellt, während beim induktiven Verfahren aus dem Text heraus Kategorien entwickelt wurden (ungerichtetes Vorgehen). Beide Verfahren dienten dazu, Verbesserungspotenziale für Prozesse, Strukturen und Qualifikationen sowie rechtliche Aspekte aus den Transkripten unabhängig voneinander herauszuarbeiten.

Weitere Erkenntnisquellen des Projekts waren pseudonymisierte Rettungsdienstprotokolle, Abrechnungsdaten von Betriebskrankenkassen und eine Befragung von Versicherten zu ihren Erfahrungen mit dem Rettungsdienst [6, 14]. Auf der Einsatz- bzw. Patientenebene wurden Verknüpfungen dieser Datenquellen umgesetzt (siehe hierzu exemplarisch „linkage“ Rettungsdienstprotokolle mit Abrechnungsdaten [15]).

Aus den Daten der FG, Analysen von Befragungs- und Sekundärdaten sowie Erfahrungen des Projektkonsortiums wurden 55 Aussagen (davon 35 HE und 20 vertiefende Statements) abgeleitet. Zum Teil wurden auch HE zu Sachverhalten formuliert, die in den FG kontrovers diskutiert worden waren. Mit der Befragung von FG-TN und weiteren Experten der Notfallversorgung sollte überprüft werden, ob die abgeleiteten HE die Veränderungsbedarfe aus Expertensicht richtig wiedergeben. Die Aussagen wurden nach Prätest und Diskussion mit dem wissenschaftlichen Beirat des Projekts insbesondere sprachlich überarbeitet.

Die HE orientieren sich hinsichtlich der Stärke der Formulierung an dem AWMF-Regelwerk „Leitlinien: Graduierung der Empfehlungen“ [16]. Sie sind daher als „sollte/sollte nicht“ formuliert. Prätest (n = 14) und Hauptbefragung (n = 442; Juli/August 2020) wurden mit dem Online-Befragungstool SoSci-Survey (SoSci Survey GmbH, München, Deutschland; https://www.soscisurvey.de/) durchgeführt. Insgesamt 34 HE und neun Statements konnten mit vier Antwortalternativen bewertet werden („stimme überhaupt nicht zu“ bis „stimme voll und ganz zu“; ergänzt um „keine Angabe“). Für zwölf Aussagen gab es andere Antwortskalen (bspw. eine Auswahl zukünftiger Disponierungsmöglichkeiten). Die 26 FG-TN erhielten einen separaten Link zur Befragung. Ein gesonderter Link zum identischen Fragebogen wurde den Beiratsmitgliedern, den Kooperationspartnern (z. B. den beteiligten Betriebskrankenkassen), notfallmedizinischen Fachgesellschaften (z. B. DIVI, DGINA), dem Bundesverband Ärztliche Leiter Rettungsdienst und Hilfsorganisationen des Rettungsdienstes mit der Bitte um Streuung an ihre Experten übermittelt (Schneeballprinzip). Die anonyme Befragung beruhte auf Freiwilligkeit ohne Einsatz von Incentives.

Es wurden alle Fragebögen ausgewertet, deren letzte inhaltliche Seite erreicht wurde; n = 165 Fragebögen wurden aus diesem Grund ausgeschlossen. Für jede HE musste eine Aussage getroffen werden. Bei Filterfragen reduzierte sich die Fallzahl auf jene Befragten, die diese Subfragen angezeigt bekamen. Personen, die die Option „keine Angabe“ wählten, wurden in der Analyse fallweise ausgeschlossen. Antworten zu HE, die auf einer Vier-Punkte-Skala bewertet werden konnten, wurden dichotomisiert (43 HE). Die anderen zwölf Aussagen wurden ohne Dichotomisierung deskriptiv ausgewertet. Die Ergebnisse werden für beide Gruppen der Befragten gemeinsam dargestellt (n = 442).

Nach dem AWMF-Regelwerk [17] besteht ein „starker Konsens“ bei einer Zustimmung von >95 % der TN; „Konsens“ bei >75–95 %, „mehrheitliche Zustimmung“ bei >50–75 % und „kein Konsens“ bei <50 %.

Die Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität hat das Forschungsprojekt positiv begutachtet (65/18). Die Landesdatenschutzbeauftragten Bayerns, Baden-Württembergs und Sachsen-Anhalts, das Bundesversicherungsamt und die Datenschutzbeauftragte der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität haben dem Forschungsvorhaben zugestimmt.

Ergebnisse

Insgesamt wurden 442 Fragebögen berücksichtigt. Von den 26 FG-TN nahmen 19 an der Befragung teil. Antworten zum aktuellen Beruf gaben 431 TN an (Mehrfachantworten möglich; Abb. 1). Alle Teilnehmer weisen überwiegend mehrjährige Berufserfahrung auf (n = 425; Median = 16; Modus = 20). Die weiteren erhobenen Merkmale wie Tätigkeitsfeld und dessen regionale Zuordnung sowie Aktivität in Fachgesellschaften sind für die Zielsetzung des Artikels nicht relevant.

Abb. 1
figure 1

Berufsgruppen der Teilnehmer der Online-Befragung (n = 431; Mehrfachantworten möglich; absteigend sortiert). * „Organisatorische Mitarbeiter RD“ sind bspw. Referenten eines Trägers wie der Malteser etc; „Übungsleiter“ sind u. a. nebenberufliche Ausbilder mit Schwerpunktqualifizierungen

Alle 43 dichotomisierten Empfehlungen wurden durch beide Gruppen mit mindestens „mehrheitlicher Zustimmung“ bewertet (jeweils ≥50 % der Befragten). 20 HE fallen für beide Gruppen in die Kategorie „starker Konsens“, 21 in den Bereich „Konsens“ und zwei Empfehlungen in die Gruppe „mehrheitliche Zustimmung“.

Handlungsempfehlungen für Leitstellen

Von 14 HE erhielten neun „starken Konsens“, vier „Konsens“ und eine „mehrheitliche Zustimmung“ (Abb. 2). Vertiefend zu den in Abb. 2 aufgelisteten HE Nr. 3 und 11 äußerten beide Gruppen mehrheitlich den Wunsch nach einer bundesweit einheitlichen Etablierung der Notrufabfrage (Nr. 3; zusammen 74 %; n = 412) und nach einem bundesweiten Mindestqualifikationsprofil für Disponenten (Nr. 11; 71 %; n = 438).

Abb. 2
figure 2

Handlungsempfehlungen für die Leitstelle für die Gesamtheit der Teilnehmer (n = 442; sortiert nach Abfragereihenfolge in der Online-Befragung; dunkelgrün starker Konsens [>95 %], hellgrün Konsens [>75–95 %], orange mehrheitliche Zustimmung [>50–75 %])

Antworten auf die Frage, welche Disponierungs- und Weitervermittlungsmöglichkeiten die Leitstellen zukünftig haben sollten, sind dem Online-Zusatzmaterial 2 zu entnehmen.

Handlungsempfehlungen für Patientenversorger

Von 13 HE im Bereich der Patientenversorger erhalten drei HE „starken Konsens“, neun „Konsens“ und eine „mehrheitliche Zustimmung“ (Abb. 3). Bezüglich der Dateneinsicht in die elektronische Patientenakte durch Notärzte und kassenärztlichen Bereitschaftsdienst (Nr. 25) – bei der insgesamt starker Konsens besteht – sprechen sich 76 % für eine Widerspruchslösung und 24 % für eine Zustimmungslösung durch Patienten aus (n = 406).

Abb. 3
figure 3

Handlungsempfehlungen für die Patientenversorger für die Gesamtheit der Teilnehmer (n = 442; sortiert nach Abfragereihenfolge in der Online-Befragung; dunkelgrün: starker Konsens [>95 %]; hellgrün: Konsens [>75–95 %]; orange: mehrheitliche Zustimmung [>50–75 %])

Handlungsempfehlungen für die Dokumentation und Evaluation von Einsätzen

Weitere 13 HE betreffen die Dokumentation und Evaluation von (Notfall‑)Einsätzen (Abb. 4). Sieben HE wurden von beiden Expertengruppen mit „starkem Konsens“, sechs mit „Konsens“ bewertet. Zugleich wurde sich in den Statements mehrheitlich für bundesweite Standards ausgesprochen (siehe Online-Zusatzmaterial 3).

Abb. 4
figure 4

Handlungsempfehlungen für den Themenbereich Dokumentation und Evaluation von Einsätzen für die Gesamtheit der Teilnehmer (n = 442; sortiert nach Abfragereihenfolge in der Online-Befragung; dunkelgrün starker Konsens [>95 %], hellgrün Konsens [>75–95 %])

Handlungsempfehlungen, die die Bevölkerung adressieren

Folgender HE, die die Bevölkerung adressiert, wurde von beiden Gruppen mit 96 % (n = 436) zugestimmt: „Es bedarf Angebote zur Stärkung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung, damit diese den Rettungsdienst bei potenziell bedrohlichen Anlässen wie ziehenden Brustschmerzen häufiger und bei in der Regel unkritischen Situationen (wie z. B. Harnblasenkatheterwechsel) nur noch in Einzelfällen mit besonderem, medizinisch begründetem Bedarf nutzen.“ Zwei weitere HE erreichten Konsens: „Die Bevölkerung sollte stärker über Alternativen zur Rufnummer 112 informiert werden.“ (92 %; n = 438) und „Patienten und Angehörige sollten häufiger vom klinischen oder prähospitalen Personal über psychosoziale Unterstützungsangebote informiert werden (z. B. Informationen bei Alkoholabusus).“ (79 %; n = 428).

Diskussion

Der hier berichtete Konsensprozess ergänzt eine Analyse sektorübergreifender Daten zu Rettungsdiensteinsätzen um Problemsichten und Handlungsempfehlungen von Experten aus dem Praxisfeld. An Politik und Verbände gerichtete Handlungsempfehlungen wurden u. a. in Fokusgruppen vorbereitet, anschließend kondensiert und durch einen Survey konsentiert.

Leitstellen sollten aus Expertensicht erweiterte Disponierungs- und Weitervermittlungsmöglichkeiten erhalten, wobei (u. a. durch entsprechenden Personalschlüssel, technische Unterstützung und Weiterbildung) sichergestellt sein muss, dass Kernaufgaben der Leitstellen nicht darunter leiden. Alternativen zur Rufnummer 112 sollten gestärkt und deren Aufgaben und Erreichbarkeit der Bevölkerung wirksamer vermittelt werden [18].

Aus Sicht der Befragten sollte es für Rettungsdienstpersonal – bei vertiefter Aus- und Weiterbildung (vgl. z. B. [19, 20]) – mehr Handlungsspielraum bei der Auswahl des adäquaten Versorgungsziels und der Versorgung vor Ort ohne anschließenden Transport geben. Dass sich die Mehrheit für evidenzbasierte Standard Operating Procedures für allein durch Notfallsanitäter betreubare Patienten ausspricht, könnte das Bedürfnis nach einer besseren rechtlichen Absicherung der Notfallsanitäter widerspiegeln.

Die Expertenempfehlungen konkretisieren den Referentenentwurf zur Reform der Notfallversorgung [8] dahingehend, dass sowohl die Erfassung von Notrufen in den Leitstellen als auch die Dokumentation durch das Einsatzpersonal bundeseinheitlich erfolgen soll. Eine einheitliche, bundesländerübergreifende und pseudonymisierte Datenbank aller im Rettungsdienst Beteiligten kann zukünftig helfen, Qualität in der Patientenversorgung zu sichern. Wie bereits das Eckpunktepapier 2016 zur notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung in der Prähospitalphase und in der Klinik fordert, bedarf es auch aus Sicht der Befragten einer sektorenübergreifenden Versorgungsforschung, die auf einheitlichen Dokumentations- und Datenbankstrukturen beruht [21]. Hinzu kommt die Expertenempfehlung, auch bundesweite Evaluationskriterien zu etablieren.

Limitationen

Das Hauptaugenmerk lag auf der Identifizierung von konsensfähigen HE, um diese in die Diskussion um die Fortentwicklung des Rettungsdiensts einfließen zu lassen. Ein kleiner Teil der Handlungsempfehlungen basiert auf Analyseergebnissen der Rettungsdienstdaten, die aufgrund der bestehenden Rechtsgrundlagen und ausbaufähigen Digitalisierung auf Bayern und Baden-Württemberg beschränkt sind. Insgesamt sind durch die Analyse bundesweiter Krankenkassen- und Befragungsdaten, den Einbezug von Experten und Studien aus Deutschland und den Nachbarländern Handlungsempfehlungen entstanden, die für Deutschland insgesamt relevant sind. Aufgrund aktuell fehlender Statistiken über die Grundgesamtheit der im Rettungsdienst eingebundenen Personen sind keine Angaben möglich, ob z. B. das prozentuale Verhältnis der Notfallsanitäter zu Notärzten dem Verhältnis der aktuell in diesen Berufsgruppen in Deutschland aktiv Tätigen entspricht. Gleichwohl erscheinen die hier vorgelegten Ergebnisse mit einer adäquaten Teilnehmerzahl und der hohen Übereinstimmung zwischen den Gruppen als belastbare Grundlage für eine Diskussion über konkrete strukturelle und prozedurale Verbesserungen der integrierten Notfallversorgung.

Fazit für die Praxis

  • Für Leitstellen bedarf es eines bundeseinheitlichen Mindestqualifikationsprofils für Disponenten, einer Überarbeitung der Ersteinschätzungs- und Disponierungsverfahren mit einheitlicher Dokumentation und Optionen einer bedarfsgerechten Weitervermittlung an andere Versorger.

  • Einsatzpersonal sollte – bei vertiefter Aus- und Weiterbildung – mehr Handlungsspielraum bei der Auswahl des adäquaten Versorgungsziels und der Versorgung vor Ort ohne anschließenden Transport erhalten.

  • Es sollte eine Einsicht in elektronische Patientenakten durch Notärzte und ärztlichen Bereitschaftsdienst ermöglicht werden, sofern kein Widerspruch des Patienten vorliegt.

  • Die Digitalisierung und vernetzte Kommunikation zwischen Leitstelle und Einsatzmitteln und die digitale Stärkung interoperabler Schnittstellen (z. B. zw. prähospitalen und hospitalen Versorgern) sowie die Evaluierung der Dokumentation sollten optimiert werden.

  • Trotz Zuständigkeit der Bundesländer sollte ein bundeseinheitlicher Rahmen für Qualitätssicherungszwecke angestrebt werden.