FormalPara Leserbrief zu

Schmitz A (2020) Kommentar: Gefahr der COVID-19-Ansteckung durch Medikamentenvernebelung. Notfall Rettungsmed. https://doi.org/10.1007/s10049-020-00710-x

FormalPara Kommentar der Herausgeber

Trentzsch H, Flake F, Häske D et al (2020) Therapieempfehlungen in Pandemiezeiten: Richtig (be-)handeln unter Handlungsdruck. Notfall Rettungsmed. https://doi.org/10.1007/s10049-020-00739-y

Der Kommentar „Gefahr der COVID-19-Ansteckung durch Medikamentenvernebelung“ kann in dieser Form nicht unwidersprochen bleiben. Zu wenig inhaltlich substanziiert ist die schon in der Überschrift heraufbeschworene Gefahr durch Medikamentenverneblung.

Auf den ersten Blick mag es zwar logisch nachvollziehbar erscheinen, dass durch Medikamentenverneblung eine größere Menge an Tröpfchen und Aerosolen generiert wird, die in die Patientenumgebung gelangen könnte. Doch bei genauerem Hinsehen stammen diese allein aus dem Inspirationsgas und nicht direkt vom Patienten selbst. Dass ein Patient unter Verneblung ggf. mehr Tröpfchen/Aerosole wieder abatmet, ist nicht zwingend plausibel, da die Ausatemluft ohnehin bereits zu 100 % mit Wasserdampf gesättigt ist. Wie soll das Mehr an Tröpfchen wieder ausgeatmet werden? Im Gegensatz zu einer nichtinvasiven Beatmungsform (NIV, HFNC) werden die Atemwege durch den reinen Sauerstofffluss bei einer Verneblung mit mind. 6 l/min zudem auch nicht mit Überdruck ausgewaschen.

Leider sind die vom Autor ins Feld geführten Quellen nicht in der Lage, die geäußerte Behauptung inhaltlich zu stützen. In den zitierten Medscape- [1], JAMA- [2] bzw. WHO-Artikeln [3] wird die Verneblungstherapie lediglich namentlich unter den aerosolgenerierenden Prozeduren aufgeführt, ohne dass eine differenzierte Risikoanalyse mit wissenschaftlichen Belegen vorgenommen wird. Nur im zitierten „Internet Book of Critical Care“ wird explizit vor der Verneblung von Bronchodilatatoren gewarnt [4] – auch hier allerdings ohne wissenschaftliche Belege. Eine substanziierte Argumentationsgrundlage sieht anders aus.

Hingegen haben Tran et al. [5] bereits 2012 in ihrer Übersichtsarbeit das Übertragungsrisiko bei aerosolgenerierenden Prozeduren für das verwandte SARS-Virus analysiert. Auch wenn die Datenlage der drei einbezogenen Studien [6,7,8] zur Verneblungstherapie sehr dünn und eher heterogen ausfiel, konnte in der Gesamtübersicht immerhin kein Nachweis eines relevant erhöhten Übertragungsrisikos erbracht werden – ganz im Gegensatz zu deutlich erhöhten Übertragungsrisiken z. B. im Rahmen von Intubationen. Das ist zwar nicht gerade üppig, aber doch mehr als rein eminenzbasierte Meinungen.

Zugleich ist es überaus fragwürdig, etablierte Therapieformen mit unbewiesenen Aussagen einfach über den Haufen zu werfen. Es gibt sehr gute Gründe, warum bei Patienten mit akuter Obstruktion der oberen Atemwege primär inhalative Bronchodilatatoren als Therapie der ersten Wahl vernebelt werden.

Durch die angeregte primär intravenöse Gabe kommt es nicht einfach nur zu einem „unter Monitorkontrolle vertretbar“ erhöhten Tachykardierisiko. Gerade bei einem agitierten, luftnötigen Patienten mit fortgeschrittener COPD und vorher typischer Selbstapplikation seines β2-Sympathomimetikums kann die vorbestehende Tachykardie durch i.v.-Gaben sehr schnell dekompensieren (erhöhter myokardialer Sauerstoffverbrauch) und den Patientenzustand erheblich verschlechtern – gerade bei vorbestehendem Cor pulmonale oder anderen kardialen Komorbiditäten (Stichwort Nikotinabusus).

Außerdem ist der immerhin erwähnte Zeitverzug keinesfalls zu unterschätzen. Die Etablierung eines i.v.-Zugangs kann bei fortgeschritten COPD-Erkrankten oder asthmatischen Kindern nicht nur deutlich erschwert und damit zeitraubend sein. Auch die zwingend fraktionierte Gabe intravenöser β2-Sympathomimetika (sonst sehr schnell erhebliche Tachykardien) kostet Zeit. Wertvolle Zeit, in der der Patient mit einem Vernebler bereits hätte erfolgreich anbehandelt werden können. Im ungünstigsten Fall könnte dieser Zeitverzug sogar den Unterschied zu einer noch abwendbaren respiratorischen Dekompensation mit dann erst recht erforderlicher NIV-Therapie machen. Die angepriesene „sichere Praktikabilität“ dieser Maßnahme muss deshalb angezweifelt werden.

Zudem kann die erwähnte intravenöse Gabe des bekanntermaßen nur mit geringer therapeutischer Breite ausgestatteten Theophyllins getrost als obsolet betrachtet werden. In dieselbe Kategorie fällt auch die Gabe von subkutanem Bricanyl, die mir neulich von einer Notaufnahme als „neuer Standard“ für exazerbierte COPD-Patienten während der Coronapandemie vorgeschlagen wurde.

Außerdem versäumt der Autor zu erklären, warum im Falle der Adrenalinverneblung z. B. bei anaphylaktischer Atemwegsschwellung doch eine Verneblung und seiner Logik nach nicht eine i.m.-Gabe von Adrenalin zu bevorzugen ist. Warum wird nur in diesem Fall auf der inhalativen Therapie beharrt, nicht aber bei pulmonalen Obstruktionen?

Gerade im Rahmen der jetzigen Coronapandemie erscheint die Perspektive grundsätzlich nachvollziehbar, behandelndes Personal selbst vor den kleinsten denkbaren Infektionsrisiken bestmöglich schützen zu wollen. Trotz dieser „Coronabrille“ dürfen wir unseren Patienten „indizierte und vielleicht sogar lebensrettende Therapien … nicht vorenthalten.“

So wichtig es ist, neue Hypothesen zu generieren und wissenschaftlich zu falsifizieren, so gefährlich ist es aber, voreilige Schlussfolgerungen unkritisch zu publizieren und Patienten dadurch schlechtere Therapieformen zukommen zu lassen. Es kann nicht sein, tausende Patienten mit obstruktiven Atemwegserkrankungen ohne COVID-19 aufgrund unbewiesener Behauptungen schlechter zu behandeln. Primum nihil nocere.