Es gibt im deutschsprachigen Raum immer noch keinen flächendeckenden Einsatz von standardisierten Notrufabfragesystemen. Aufgrund empfundener Einschränkungen in Flexibilität und Handlungsspielraum der Notrufexperten scheint das Vertrauen in solche Systeme grundsätzlich aber noch zu fehlen, obwohl sich mittlerweile die Hinweise aus Studien mehren, dass der Einsatz das Erkennen einer vitalen Bedrohung besser ermöglicht als eine freie Notrufabfrage. Zudem ist die Qualität der freien Variante nicht dokumentiert und damit nicht messbar.

Standardisierte Notrufabfragesysteme

Leisten standardisierte bzw. strukturierte Notrufabfragen eigentlich das, was sie versprechen zu leisten? Um diese Frage beantworten zu können, soll im Vorfeld geklärt werden, was solche Systeme überhaupt vorgeben zu leisten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden dafür kurz Auszüge der beworbenen Leistungen einiger Hersteller aufgelistet.

NOAS

Der Hersteller NOAS Notrufabfragesysteme GmbH (Egling-Deining, Deutschland) schreibt über sein System:

… entwickelte Software, die eine skriptgestützte algorithmische Abfrage des Notrufgespräches für den Leistellendisponenten ermöglicht. Am Ende der erfolgreich durchlaufenen Notrufabfrage mit logischen Einstiegs- und Schlüsselfragen stehen etwa 25.000 bereinigte und eindeutige Einsatz-Codes („Diagnosen bzw. Meldeergebnisse“) … [10]

NoraTec

Zum System von NoraTec GmbH (Schwabmünchen, Deutschland) heißt es:

… Mit DIASSOPweb wird beim Prozess der Einsatzerfassung eine zügige und qualitätsgesicherte Ermittlung des Abfrageergebnisses gewährleistet … Die NoraTec GmbH berücksichtigt anerkannte Standards und Empfehlungen nationaler und internationaler Fachgesellschaften … [11]

IAED ProQA

Die Leistung von IAED ProQA (International Academies of Emergency Dispatch [IAED], Salt Lake City, Utah, USA) wird wie folgt beschrieben:

… During the course of an emergency medical call, ProQA guides you through the process of collecting the vital information from the caller, obtaining the patient’s status, choosing an appropriate dispatch level, and instructing the caller with medically approved protocols until the dispatched units arrive at the scene … ([9], deutsche Übersetzung: „… Im Verlauf eines Notrufs führt Sie ProQA durch den Prozess der Erfassung von essenziellen Informationen des Anrufers, wobei der Patientenstatus ermittelt, eine geeignete Dispositionsstufe gewählt und der Anrufer mithilfe medizinisch anerkannter Protokolle angeleitet wird, bis die disponierten Einheiten am Einsatzort eintreffen …“).

Notruf Navigator N2

Zum Notruf Navigator N2 von BST Informatik GmbH (St. Gallen, Schweiz) heißt es:

… Mit dem Notruf Navigator N2 wird die Produktivität und Qualität der Abläufe in Ihrer Notrufzentrale verbessert und optimiert. Die einfache und intuitive Bedienung des Notruf Navigator N2 unterstützt Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jederzeit strukturiert und transparent die Frage und Antwort-Prozess anzuwenden … [8]

Die Notrufabfragesysteme sollen eine einheitliche Entscheidungsbasis herstellen

Allen Systemen ist gemeinsam, dass sie Fragen und Antworten in Form von Struktur, Algorithmen oder Protokollen vorgeben, die bei der Anwendung in der Kommunikation mit einem Anrufer zu einer einheitlichen Informationsbasis führen (sollen). Damit soll auch eine einheitliche Entscheidungsbasis für die Entsendung von Einsatzkräften bzw. die Auswahl entlang einer Alarm- und Ausrückordnung erreicht werden. Zudem unterstützen alle Systeme den Notrufexperten und Disponenten bei der Gabe von Hinweisen und Maßnahmen für Ersthelfer. Alle bieten zusätzlich Features zur Qualitätssicherung an.

Aber was sind die Erwartungen einer Leitstelle und ihrer Systempartner an solche Produkte? Woran wird gemessen, ob ein Abfragesystem gut funktioniert oder nicht?

Der Erfahrung nach wird die Qualität bzw. Evidenz der Systeme häufig an der Anzahl von Notfallteameinsätzen, Anzahl von Fehleinsätzen, aber auch an der Übereinstimmung des Meldebilds mit den tatsächlich vorgefundenen Situationen gemessen. Bestätigt wird diese Annahme nicht nur durch Qualitätsberichte der zuständigen Verwaltungsbehörden und Organe, sondern auch in zahlreichen Publikationen [1, 16].

Abweichend von der Erwartung, dass das Ergebnis einer standardisierten Notrufabfrage mit jeder vor Ort vorgefundenen Situation übereinstimmen muss, stellt sich die Frage, ob es nicht vielmehr darum geht, die Notrufbearbeitung selbst zu standardisieren, um zu gewährleisten, dass, egal wer wann anruft und egal welcher Notrufexperte den Anruf bearbeitet, das selbe Dispositionsergebnis entsteht. Eine andere Frage ist, ob die Qualität der Abfrage nicht messbar wird, wenn beispielsweise eine vitale Bedrohung unter Anwendung der Abfragesysteme sicher erkannt werden kann.

Einleitendes Fallbeispiel

Notfallmeldung „Sohn, 14 Jahre alt, seit einer Stunde hohes Fieber 41,6“

Eine Kurzbefragung dreier Mitarbeiter zeigt, dass trotz gleicher medizinisch-rettungsdienstlicher Qualifikation alle drei individuell unterschiedlich entscheiden. Ihre Alarmempfehlungen reichen von Rettungswagen über Rettungswagen dringlich bis hin zu Notfallteamindikation. Keiner der befragten Mitarbeiter eruiert die Vitalparameter Bewusstsein und Atmung. Die Entscheidungsgrundlage ist erfahrungsbasiert und individuell unterschiedlich. Woran soll nun gemessen werden, welches Vorgehen korrekt war?

Durch den Einsatz standardisierter Abfragesysteme ist die Situation eindeutig abbildbar und resultiert bei korrekter Anwendung innerhalb eines Systems immer im selben Ergebnis.

Egal, wer wann anruft, und unabhängig davon, wer abhebt – es resultiert das gleiche Ergebnis

Dabei sollen standardisiert vitale Bedrohungen und oder Begleitsymptome so abgefragt werden, dass am Ende messbar wird, ob der vorgegebene Algorithmus eingehalten wurde, ob es Abweichungen gab und welches Ergebnis erzielt wurde. Das Vorgehen des Disponenten wird dadurch nachvollziehbar, und damit auch der Kernprozess einer Leitstelle. Deren zentrale Aufgabe ist es, die Anruferinformationen korrekt zu erfassen und daraus eine Dispositionsentscheidung zu generieren.

Standardisiertes Notrufgespräch

Die National Association of EMS Physicians empfiehlt seit 1989 die Nutzung und Anwendung von Protokollen zur Entscheidungsfindung. „… the EMD (emergency medical dispatcher) should follow a structured, predetermined interrogation process to activate preprogrammed response modes and provide medical instructions to caller prior to EMS arrival“ ([3]; deutsche Übersetzung: „… der Notrufexperte sollte ein strukturiertes, vorbestimmtes Abfrageschema befolgen, um vorprogrammierte Antwortmodi zu aktivieren und dem Anrufer vor Eintreffen des Rettungsdiensts medizinische Anweisungen geben zu können“).

Bereits die Entgegennahme des Notrufs mit einleitender Gesprächseröffnung soll standardisiert erfolgen. Nicht alle Abfragesysteme beinhalten einen standardisierten Gesprächseinstieg, manche Systeme beginnen erst mit der Abbildung der Notfallmeldung. Zur Reduktion von Fehlern bei der Adresseingabe empfiehlt es sich, in jedem Fall den Einstieg zu standardisieren und Adressdaten sowie Melderdaten abzufragen und wenn möglich zu verifizieren.

Im Jahr 2014 analysierte Rampl [14] 82 Notrufgespräche in Bezug auf ihre Eröffnung und Notwendigkeit von Fokussierung und Reduktion geselliger Teile im Dialog, was der klassischen Eröffnungsform eigentlich widerspricht. Der primäre Fokus eines Notrufgesprächs liegt im Auffinden des Einsatzorts. Daher empfiehlt es sich, bereits die Gesprächseröffnung zu standardisieren. Rampl bezeichnet die Eröffnung mit „Wo genau ist der Einsatzort?“ als erfolgreich. In 63 % der Fälle wurde eine Ortsinformation direkt auf die Frage gegeben. Er hält in seiner Arbeit allerdings auch fest, dass es in der allgemeinen Konversation regional sprachliche Unterschiede gibt, was unter anderem die Begrüßungsformel und die Selbstidentifikation am Telefon angeht.

Der Standard zur Gesprächseröffnung kann also für verschiedene Länder durchaus unterschiedlich aussehen. Wichtig ist, dass er definiert ist. Die knappe Eröffnung mit „Feuerwehr und Rettungsdienst Notruf“ lässt beispielsweise völlig offen, was der Anrufer antwortet. Eine standardisierte Gesprächseröffnung spart Zeit und strukturiert bereits zu Beginn den Gesprächsverlauf.

Wer fragt, führt

Die Einsatzorterfassung wird mittlerweile in Bezug auf die Übermittlung aktueller GPS-Koordinaten technisch gut unterstützt, das Zeitintervall von Gesprächsannahme bis zur tatsächlichen Notrufabfrage kann damit zusätzlich reduziert werden.

Nach Einsatzorterfassung und Verifizierung wird die Notfallsituation mithilfe von Einstiegs- und Schlüsselfragen abgebildet, ehe dem Anrufer erste Hinweise zur Bewältigung der Notfallsituation gegeben werden. Diese reichen von allgemeinen Hinweisen bis hin zur Anleitung der Herzdruckmassage. Je nach Produkt gestaltet sich auch dieser Bereich streng standardisiert (Medical Priority Dispatch System [MPDS]) oder frei konfigurierbar (NOAS).

Je nach Struktur der Leitstelle (vor allem in personeller Hinsicht) erfolgt die Alarmierung der Einsatzkräfte nach dem Aufnahme-Weitergabe-Prinzip (Abb. 1), wobei der Notrufexperte den Anrufer bis zum Eintreffen der Rettungskräfte begleitet, während ein Disponent die Alarmierung und Begleitung der Einsatzkräfte übernimmt, oder sie erfolgt nach dem Sachbearbeiterprinzip (Telefonat und Disposition werden von einem Mitarbeiter durchgeführt).

Abb. 1
figure 1

Kernprozesse Notrufgespräch und Disposition, Aufnahme-Weitergabe-Prinzip. (Mit freundl. Genehmigung, ©Leitstelle Tirol GmbH, alle Rechte vorbehalten.)

Am Ende der Abfrage resultiert ein Abfrageergebnis, dem über ein Einsatzstichwort eine Ausrückorder zugewiesen wird – entsprechend oder abweichend von der Alarmempfehlung des jeweiligen Produkts. Wenn bezüglich der Notfallsituation im einleitenden Fallbeispiel nach erfolgter Protokollabfrage für sich allein der Parameter 41,6 Grad Fieber ohne sonstige Notfall- und Begleitsymptome übrigbleibt, empfiehlt NOAS über das Abfrageergebnis „Fieber vitalgefährdet >41 °C“ eine Notfallteamindikation, während MPDS in einer niederen Dringlichkeit resultiert und die Alarmierung eines Rettungswagens empfiehlt. Das liegt darin begründet, dass sich NOAS bei der Entscheidungsfindung vermehrt an Diagnosen und Krankheitsbildern orientiert, während MPDS Symptome identifiziert.

Dringliche und nichtdringliche Notfälle

Allen Produkten ist für den medizinischen Bereich gemein, dass speziell für Situationen mit vitaler Bedrohung die Alarmierung schnellstmöglich erfolgt. Diesbezüglich geht es in einem ersten Schritt darum, die Vitalparameter des Patienten zu eruieren. Das Vorliegen von Bewusstsein und Atmung entscheidet über den weiteren Verlauf der Abfrage. Je nach Software endet die Abfrage nach dem Erkennen eines vital bedrohlichen oder kritischen Patientenzustands oder die Abfrage wird nach Alarmierung der Einsatzkräfte („pre alert“) fortgeführt.

Sobald NOAS zu einem Ergebnis kommt, werden keine weiteren Fragen mehr zur Notfallsituation gestellt. Das Ergebnis löst die Alarmierung der Einsatzkräfte nach hinterlegter Ausrückorder aus. MPDS hingegen führt das Notrufgespräch für spezielle Situationen weiter, um Zusatzinformationen zum Patientenzustand zu erfragen.

Über alle Leitstellenbereiche hinweg zeigt sich, dass die Anzahl der weniger dringlichen Notfälle im Vergleich zu dringlichen stark ansteigt. Daher müssen Notrufabfragesysteme auch in der Lage sein, nicht dringliche Notfälle von dringlichen zu unterscheiden. In weniger dringlichen Notfallsituationen bleibt durchaus Zeit, Detailinformationen zu erfassen bzw. Trigger zu finden, die eine rettungsdienstliche Alarmierung erfordern. Sofern ein solcher Trigger im Notrufgespräch nicht gefunden wird, sind die Systeme auch in der Lage, die geeignete Versorgungsstufe („level of care“) bis hin zur Vermittlung an einen Hausarzt zu empfehlen.

Der Anteil weniger dringlicher Notfälle steigt stark an

Für die Abbildung des Low-level-Bereichs hat sich in einigen Ländern, so etwa in Großbritannien, Dänemark und der Schweiz, die Installation eines eigenen Bereichs für Anfragen zu gesundheitlichen Beschwerden bewährt. Für Österreich wird seit Anfang des Jahres 2020 unter der Rufnummer 1450 flächendeckend und rund um die Uhr eine Gesundheitsberatung durch diplomiertes Gesundheits- und Pflegepersonal angeboten. Die hierfür verwendete Software Low Code (ein Produkt der IAED) bildet über 200 Krankheitsbilder ab und triagiert diese standardisiert, um am Gesprächsende eine Versorgungsstufe verbunden mit einem Versorgungsort („point of care“) empfehlen zu können. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Anwendung der beiden IAED-Produkte MPDS und Low Code die optimale Synergie ergibt. Niederschwellige Notfallsituationen können zur Detailbetrachtung direkt an eine „emergency communication nurse“ übergeben und standardisiert weiterbearbeitet werden. Damit sollen die rettungsdienstliche Ressource langfristig geschont und auch höherwertige Behandlungseinrichtungen entlastet werden, sofern das lokale Gesundheitssystem alternative Versorgungsorte anbietet, beispielsweise einen funkärztlichen Bereitschaftsdienst oder Gemeindenotfallsanitäter. So kann eine effiziente und effektive Anrufbearbeitung erfolgen – effizient im Sinne der Gesprächsdauer und -qualität, effektiv im Sinne der Entsendung angepasster Einsatzmittel. Zum Mehrwert des Systems gibt es für Österreich noch keine wissenschaftlichen Belege, die Evaluierung läuft.

Telefonreanimation

Die „dispatcher-assisted cardiopulmonary resuscitation“ (DA-CPR), derzeit noch besser bekannt als Telefonreanimation (T-CPR), ist mittlerweile im deutschsprachigen Raum beinahe flächendeckend etabliert. Sie folgt anerkannten Leitlinien und leitet den Notrufexperten wie auch den Ersthelfer standardisiert durch das Reanimationsszenario.

Die Anleitung zur Durchführung der DA-CPR lässt jedoch die Situation eines Atem-Kreislauf-Stillstands am Telefon selbst nicht erkennen. Die Empfehlungen folgen lediglich einer Struktur zur Anleitung von Reanimationsmaßnahmen, beinhalten aber keine vorher notwendigen Werkzeuge zum Erkennen einer vitalen Bedrohung oder eines „out-of-hospital cardiac arrest“ (OHCA). Leitlinien und Empfehlungen fokussieren darauf, was zu tun ist, beschreiben allerdings nicht, wie man einen vital bedrohten Patientenzustand erkennt. Standardisierte Abfragesysteme berücksichtigen beide Bereiche. Die Protokolle geben für verschiedene Situationen vor, welche Fragen wie genau zu stellen sind und was weiter zu tun ist. Der Notrufexperte muss sich dabei an die Protokollvorgaben halten: „… a protocol says you shall, while a guideline says you may if you want … on the other hand, a guideline does not require compliance …“ ([3]; deutsche Übersetzung: „… ein Protokoll sagt, dass man soll. Eine Leitlinie dagegen sagt, dass man kann, wenn man möchte … andererseits verlangt eine Leitlinie keine Befolgung …“).

Der Deutsche Rat für Wiederbelebung hat unter anderem eine Anleitung zur Reanimation unter fernmündlicher Anleitung veröffentlicht, die eine medizinische Abfrage voranstellt. „Es hat sich in der Praxiseinführung der Anleitung gezeigt, dass bei der Notrufabfrage übermäßig viele Anrufer, die einen leblos vorgefundenen, bereits biologisch toten Patienten meldeten, zur Reanimation angeleitet worden sind. Ebenso wurden viele unmittelbar kollabierte Patienten mit Schnappatmung nicht reanimiert, da der Disponent fälschlich von einer vasovagalen oder konvulsiven Synkope ausgegangen ist“ [5].

Allein die Empfehlung einer vorgestellten Abfrage zu Bewusstsein und Atmung bringt allerdings nicht den gewünschten Erfolg. Die Qualität der Abfrage hängt maßgeblich von der Compliance (Einhaltung) der Anwender, also des Notrufexperten selbst ab. Wichtige Aussage: „It is through these actions that the tele communicator can make the difference between life and death“ ([7]; deutsche Übersetzung: „Diese Maßnahmen sind es, durch die der kommunizierende Notrufexperte den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen kann“). Es gilt, die Notrufexperten gut in den Systemen zu schulen, ihnen deren Philosophie näherzubringen, Hintergründe zu erläutern und kontinuierlich Feedback zur ihrer Leistung zu geben, um die Protokolle korrekt und effizient anwenden zu können. Ein Abfragesystem versteht sich als Werkzeug der Notrufbearbeitung, dessen Handhabung erlernt und geübt werden muss, so wie beispielweise das Legen eines periphervenösen Zugangs.

Bezüglich der DA-CPR sei hier beispielhaft auf die Frage „Atmet die Person normal?“ eingegangen, um zu zeigen, wie Schulung auf die Leistung der Notrufexperten Einfluss nehmen kann. In einer englischsprachigen Studie von Riou [15] wurden Anrufe mit rückgemeldeten OHCA durch die Einsatzkräfte vor Ort analysiert. Der Fokus lag auf sprachlichen Faktoren der Beantwortung der Frage „Atmet der Patient normal?“ durch den Anrufer. In 64 % der Fälle antwortete der Anrufer mit Ja. Dabei wurden zwei Ja-Antwort-Typen identifiziert: 56 % waren eindeutige Ja-Antworten, 44 % Ja-Antworten mit zusätzlichen Informationen und Beschreibungen. Diese „Ja, aber“-Antworten wurden in der Studie als hinweisend für einen OHCA identifiziert, von den Notrufexperten wurden sie aber häufig nicht als solche eingestuft bzw. klassifiziert.

Die Studie stellt Verbesserungsbedarf in Bezug auf das Erkennen einer ineffektiven Atmung im Notrufdialog fest. Mit entsprechenden Trainings und Feedbacks kann man die Notrufexperten dafür sensibilisieren, dass „Ja, aber“-Antworten sehr häufig ein Indiz für einen Atem-Kreislauf-Stillstand sind. Im besten Fall definiert man einen Standard, so wie es beispielsweise MPDS tut. MPDS differenziert neben einer ineffektiven Atmung auch die Indikatoren für eine agonale Atmung (nur ein wenig, schnappt nach Luft, seltsame Geräusche; [4]).

Begründungen für die „Ja, aber“-Antworten findet Riou im Übrigen im sprachlichen Kontext wissenschaftlicher Untersuchungen. „Research on spontaneous conversation has identified a social preference for confirming answers to questions“ ([15]; deutsche Übersetzung: „Studien zu spontanen Gesprächen zeigen eine soziale Tendenz, auf Fragen bestätigend zu antworten“). Auf den Notrufdialog bezogen tendieren Ersthelfer mit Zweifel, „ob der Patient atmet oder nicht“, dazu, bejahend beschreibend zu antworten, beispielsweise mit „Ja, aber er/sie keucht/schnarcht“.

Der Einsatz von Standards in der der Notrufabfrage reduziert/vermeidet menschliche Fehler

Es liegt demnach nicht allein am Abfragesystem, ob ein OHCA erkannt wird oder nicht, sondern auch am Notrufdialog, an der Interpretation von Antworten und an sprachlichen Faktoren im Notrufdialog. Des Weiteren behindert die fehlende visuelle Informationsquelle ein sicheres Erkennen. Es ist erforderlich, den Notrufexperten Werkzeuge in Form von Standards, Definitionen und Regelwerken zur Verfügung zu stellen, an denen sie sich orientieren können, um das Vorliegen eines Herz-Kreislauf-Stillstands (OHCA) besser erkennen zu können. Durch den Einsatz von Standards in der Notrufabfrage können menschliche Fehler reduziert und vermieden werden.

Qualitätsmanagement

Sehr häufig wird die Qualität der Notrufabfrage noch an der Übereinstimmung von Notfallmeldung und Situation vor Ort (Auffindesituation) gemessen. Ob die Alarmierung dann den Erwartungen und Vorstellungen der beteiligten Einsatzkräfte entspricht oder nicht, ist nicht dem eingesetzten Abfragesystem geschuldet, sondern den dazu definierten Rahmenbedingungen wie Alarm- und Ausrückorder sowie der Tatsache, dass das hundertprozentige Übereinstimmen von Meldesituation und Auffindesituation immer noch ein häufiger Anspruch der Blaulichtorganisationen an die Leitstellen ist.

Michael Bayeff-Filloff empfiehlt, über alle Einsätze hinweg die Übereinstimmungsquote zu erheben, wobei er davon ausgeht, dass diese deutlich höher liegt, als man denkt [12]. Es gilt, geeignete Methoden zu entwickeln, die alle Faktoren und Einflussgrößen erfassen, um eine kompetente Aussage zu Ex-ante- und Ex-post-Betrachtungen machen zu können. Schutz und Rettung Zürich [13] bestätigt in einer Auswertung diese Annahme. Bei 5000 untersuchten Notfalleinsätzen wurde eine Übereinstimmungsquote zwischen eruierter Hauptbeschwerde (Abfrageprotokoll) und dem Zustand des Patienten von 84 % festgestellt.

Für die Blaulichtorganisationen scheint der Anspruch einer Übereinstimmung eine klare Forderung an die Leitstelle zu sein. Bei der Alarmierung soll ein reelles Bild übertragen werden. Dieses Bild birgt allerdings ohne Anwendung eines Standards beginnend mit der Notrufabfrage große Gefahren („mentales Modell“, Abb. 2). Entstehen beim Notrufexperten Assoziationen (Bilder im Kopf), können sich diese negativ auf den Einsatzablauf auswirken. Assoziationen entstehen aufgrund von Vorerfahrungen, die oft vorurteilsbehaftet sind. Im Sinne des mentalen Modells nehmen wir wahr, was wir wahrnehmen wollen bzw. was wir erwarten.

Abb. 2
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Modifizierte Programmempfehlungen der American Heart Association (AHA). OHCA „Out-of-hospital cardiac arrest“ (außerklinischer Herz-Kreislauf-Stillstand), T‑CPR „telephone-guided cardiopulmonary resuscitation“ (Telefonreanimation). (Nach [7]; Icons: Mit freundl. Genehmigung, ©Büro Maisengasse, Tirol, alle Rechte vorbehalten)

Wahrnehmungen und Erfahrungen sind also individuell unterschiedlich (siehe einleitendes Fallbeispiel). Redelsteiner vertritt dabei die Auffassung, dass – solange die Kommunikation zwischen der Leitstelle und dem Anrufer in Form der klassischen Non-Face-to-Face-Kommunikation erfolgt, also ohne zusätzlichen visuellen Eindruck des Hilfesuchenden – die Einschätzungen des Disponenten bei fehlender Übereinstimmung nicht zwangsläufig auch eine Fehleinschätzung darstellen [6].

Um der Gefahr von Assoziationen und Interpretationen zu entgehen, ist die Anwendung standardisierter und strukturierter Abfragesysteme unumgänglich. Diese stellen sicher, dass alle erhobenen Informationen sachlich und zur Vermeidung von Informationsverlusten (Interpretationen und Fixierungen) lückenlos für die weitere Alarmierung erfasst werden.

Es stellt sich die Frage, ob der alleinige Anspruch der Übereinstimmung eigentlich der richtige ist oder ob es nicht viel mehr darum geht, für den kurzen Moment des Notrufgesprächs zu beurteilen, ob die zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Informationen eine korrekte Alarmierung angestoßen haben.

Qualitätssicherung

Integraler Bestandteil eines jeden standardisierten Notrufabfragesystems ist ein umfangreiches Qualitätsmanagementsystem. Neben der Evaluierung des Kernprozesses (Notrufabfrage) sollen bei der Qualitätssicherung auch die Gesprächsführung sowie die Effizienz und Effektivität der Disposition betrachtet werden.

Allen Abfragesystemen ist gemein, dass im Zuge der Qualitätssicherung die Einhaltung der für die Anrufbearbeitung und Disposition definierten Arbeitsprozesse überprüft wird. Je nach Produkt werden dabei Standards, Qualitätskennzahlen und Zielerreichungsgrade vorgegeben oder als konfigurierbar ausgeliefert.

Das „Komplettpaket“ stellt momentan jenes der IAED mit Produkten wie MPDS und Fire Priority Dispatch System (FPDS) dar. Hinter IAED verbirgt sich eine übergeordnete Organisation, die Richtlinien zur Notrufabfrage und Disposition formuliert und vorgibt. Beinhaltet sind neben Protokollstandards, Vorgaben zur Schulung, Zertifizierung und Rezertifizierung auch Qualitäts- und Leistungskriterien zur Qualitätssicherung und vieles mehr. Im weltweiten Einsatz werden pro Jahr Dutzend Millionen Anrufe mit den standardisierten Protokollen geführt, was kontinuierliche Evaluierungen, evidenzbasierte Wissenschaft und Benchmarking zur Weiterentwicklung ermöglicht. Auch für kurzfristig aktuelle Situationen, wie die COVID-19-Pandemie, werden unmittelbar Empfehlungen formuliert, kommuniziert und entsprechende Protokolle zur spezifischen Abfrage eingebunden, um mögliche Verdachtsfälle identifizieren zu können. Manchen mag dieses System zu starr und unflexibel erscheinen, aber was die Standardisierung angeht, gilt dieses System sicherlich nicht nur als Vorreiter, sondern als außerordentlich umfangreich und darf daher als führend bezeichnet werden.

Natürlich ist ein solches Paket auch für Nutzer anderer Systeme denkbar, wünschenswert und auch möglich, bedarf aber entsprechender Vorbereitungen und Definitionen von Standards zur Anwendung, die für den deutschsprachigen Raum noch nicht flächendeckend formuliert sind, was unter anderem auch der Tatsache geschuldet ist, dass von den Systemen zunehmend mehr Flexibilität und Anpassbarkeit gefordert wird, um lokale Anforderungen abbilden zu können, wie etwa im Notruf Navigator N2, der den Frage- und Antwortkatalog auf einfache Weise erweitern und verändern lässt. Notruf Navigator N2 und NOAS entsprechen somit mehr einer strukturierten als tatsächlich standardisierten Notrufabfrage. Die Struktur ist klar vorgegeben, die Prozesse und Standards zur Anwendung können in vielen Bereichen selbst festgelegt werden. Ein Vergleich zur Qualität der Notrufabfrage zwischen Leitstellen wird dadurch erschwert.

Der Notrufdialog ist nicht nur ein medizinisches, sondern vor allem ein linguistisches Thema

Für den deutschsprachigen Raum wäre eine übergeordnete interprofessionelle Fachgesellschaft zur Erstellung von Abfrageprotokollen und Kriterien für die Notrufabfrage und Disposition wünschenswert, anhand derer die eigentliche Qualität des Kernprozesses gemessen werden kann.

Die 2015 vom European Resuscitation Council (ERC) veröffentlichten Leitlinien zur Reanimation messen dem Erkennen des Kreislaufstillstands durch den Disponenten bereits eine große Bedeutung bei, einen definierten Standard für die Abfrage selbst gibt es allerdings bisher nicht. Der Fokus liegt vor allem im medizinischen Bereich, nicht aber auf dem Notrufdialog selbst, also auf der Definition konkreter Fragestellungen, dem Umgang mit den Antworten des Anrufers und dem zeitlichen Verlauf eines Notrufgesprächs. Riou zeigt, dass der Notrufdialog nicht nur ein medizinisches, sondern vor allem ein linguistisches Thema ist. Der Einbezug von Experten aus Kommunikations- und Konversationsbereichen wäre für die Erstellung von Abfragestandards wertvoll.

Forschungsprojekte

Abschließend soll auf aktuelle Forschungsprojekte eingegangen werden, die auf notwendige Anpassungen einzelner Abfrageprotokolle hinweisen, um die Sensitivität und Spezifität von standardisierten Abfragesystemen zu erhöhen.

Im Jahr 2018 wurde die Austrian Prehospital Stroke Scale (APSS) in die Notrufabfrage eines Schlaganfalls mit NOAS integriert. Sie dient als präklinisches Screeninginstrument zur Unterscheidung von schweren und leichten Schlaganfallsyndromen. Durch die Erweiterung des FAST-Tests („face, arms, speech, time“/Gesicht, Arme, Sprache, Zeit) im Abfragealgorithmus um die Dimensionen Beinschwäche und Herdblick sollen Schlaganfälle sicherer erkennbar und von anderen neurologischen Beschwerden besser abgrenzbar werden. NOAS hat für die Erprobung am Notruf eine eigene Version des Abfrageprotokolls zur Verfügung gestellt. Dabei wird bei allen Schlaganfallabfragen ein erweiterter FAST-Test durchgeführt.

Erweiterte FAST-Tests im Abfragealgorithmus erkennen und grenzen Schlaganfälle sicherer ab

Beträgt die Summe der Punktwerte (je nach Antwort auf die Frage) für Gesicht, Sprache und Arme 0, endet die Abfrage und das Abfrageergebnis lautet „unklare neurologische Symptome“. Eine Abgrenzung zum tatsächlichen Schlaganfall ist somit möglich, was vor einigen Jahren noch in verschiedenen Publikationen als verbesserungswürdig erkannt wurde. Bei einem ermittelten APSS von 1 oder mehr Punkten folgt die Abfrage zweier weiterer Symptome, um einen möglichen proximalen Schlaganfall zu erkennen. Anschließend werden die Summe der APSS-Punkte und die Zeitdifferenz zwischen Symptombeginn und Notrufabfrage in mehreren Abfrageergebnissen ausgedrückt, die mit unterschiedlichen Alarmempfehlungen belegt werden können. So ist es beispielsweise möglich, ein Abfrageergebnis mit einem APSS-Wert von 4 oder mehr mit einer Notfallteamindikation zu versehen. Abhängig von der Einsatzörtlichkeit und der wahrscheinlichen Notwendigkeit einer Thrombektomie im Zielkrankenhaus kann auch die Alarmierung eines Hubschraubers in Betracht gezogen bzw. als Standard festgelegt werden.

Noch im Jahr 2020 erfolgt – basierend auf der wissenschaftlichen Arbeit von Bleiler [2] – die Anpassung der Abfrage für typische Brustschmerzen bei akutem Koronarsyndrom. Das NOAS-Abfrageprotokoll Brustschmerzen kann zukünftig die Symptomatik „Schwitzen“ und „veränderte Hautfarbe“ in Mehrfachauswahl und unterschiedlichen Kombinationen abbilden und mit unterschiedlichen Abfrageergebnissen belegen. Zudem werden die Schmerzcharakteristika Abbildung finden, was laut Bleiler die Treffsicherheit (Sensitivität und Spezifität) signifikant erhöhen soll.

Es bleibt abzuwarten, ob die noch ausstehenden Evaluierungen zu Empfehlungen und Definitionen von Standards für die Notrufabfrage führen werden.

Fazit für die Praxis

  • Standardisierte Abfragesysteme bleiben in Leitstellen das Mittel der Wahl, um eine Notrufabfrage unabhängig von Nutzer, Uhrzeit und Tagesform zu machen, also eine gleichbleibende Anrufbearbeitung zu ermöglichen.

  • Das standardisierte Vorgehen erhöht nach der hier vertretenen Auffassung die Patientensicherheit ebenso wie die Rechtssicherheit der Leitstellenmitarbeiter und der Unternehmensführung.

  • Optimierungsbedarf besteht vor allem in der Erstellung der Standards zur Anwendung von Abfragesystemen und in der Ausbildung der Mitarbeiter.

  • Die Qualität hängt maßgeblich von der Compliance der Notrufexperten und den definierten Anwendungsstandards ab, und zwar unabhängig davon, welches Produkt zur Notrufabfrage zum Einsatz kommt.

  • Aktuell bieten die Produkte von IAED (International Academies of Emergency Dispatch) das tatsächlich einzig umfangreich standardisierte Notrufabfragesystem, das einem kontinuierlichen Evaluationsprozess unterliegt, auf wissenschaftlichen Studien und Daten basiert sowie Weiterentwicklung und Anpassungen publiziert, auf die aktuelle deutschsprachige Produkte bisher nicht verweisen können.

  • Ungeachtet dessen leisten die eingehend dargestellten Abfragesysteme das, was sie versprechen zu leisten.