Einleitung

Im „Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften“ nach einem Gesetzesentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD (BT-Drucks. 18/11161 vom 14.02.2017) lautet es: „Respekt und Wertschätzung verdienen aber auch die Hilfskräfte der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes und der Rettungsdienste. Ein Angriff auf sie ist zugleich ein Angriff auf die öffentliche Sicherheit, da er zu einer Beeinträchtigung der Hilfeleistung führen kann. Die vorgeschlagenen Änderungen werden daher auch auf sie übertragen“. Das Personal von Notaufnahmen oder anderer Krankenhausbereiche fand hierin zunächst noch keine Erwähnung, vielleicht auch weil viele in der Notfallmedizin Beschäftigte das Erleben von Gewalt als „Teil des Jobs“ betrachten [1]. Im Zuge der öffentlichen Diskussion zur Überfüllung von Notaufnahmen und der oftmals langen Behandlungszeiten erhielt aber auch die Gewalt gegen das in Notaufnahmen beschäftigte Personal in Deutschland verstärkt mediale Aufmerksamkeit und die Notaufnahmen wurden jüngst ebenso unter den „besonderen“ gesetzlichen Schutz gestellt.

Nach der Definition der International Labour Organisation (ILO) und der Europäischen Union ist unter Gewalt am Arbeitsplatz „jede Handlung, Begebenheit oder von angemessenem Benehmen abweichendes Verhalten, wodurch eine Person im Verlauf oder in direkter Folge ihrer Arbeit schwer beleidigt, bedroht, verletzt oder verwundet wird“, zu verstehen. Bei der in diesem Artikel nachfolgend beschriebenen Gewalt weiß der spätere Verursacher zu Beginn der Versorgung noch nicht, dass er im weiteren Verlauf Gewalt ausüben wird. Dieses ist abzugrenzen von Fällen, in denen Täter*innen bereits mit der festen und zielgerichteten Absicht, einem bestimmten Menschen zu schaden, die Einrichtung der Gesundheitsversorgung aufsuchen, in der das Opfer arbeitet (zum Bsp. im Rahmen eines erweiterten Suizids oder eines Mordes).

Häufigkeit von Gewalt in der Notfallmedizin

Notaufnahmen

Erste Berichte über gewalttätiges Verhalten in der klinischen Notfallmedizin stammen aus der Mitte der 1990er-Jahre aus Militärkrankenhäusern in den USA, die schwerpunktmäßig Kriegsveteranen mit Substanzabhängigkeit und psychiatrischen Erkrankungen behandelten [2]. Auch aus zivilen Krankenhäusern finden sich in der Literatur zunehmend Berichte über Gewalt. Bei der gegen das Personal von Notfallbereichen gerichteten Gewalt handelt es sich um ein weltweites Problem, welches Ärzt*innen und Pflegekräfte gleichermaßen betrifft [1,2,3,4, 10, 11, 13,14,15,16,17,18,19,20,21,22,23,24]. In einem aktuellen systematischen Literatur-Review zum Auftreten von Gewalt in Notaufnahmen berichten Nikathil et al. [12] auf Basis von 22 Studien, dass es unter Berücksichtigung aller Arten von Gewalt bei 36 von 10.000 Behandlungsfällen zu gewalttätigen Ereignissen kommt. Gewalt gegenüber Mitarbeiter*innen von Notaufnahmen wird anhand internationaler Daten auf mindestens einen Vorfall pro Woche und Notaufnahme geschätzt [13], wobei generell von einem „under-reporting“ ausgegangen wird. In allen von Nikathil ausgewerteten Studien traten die Patient*innen selber am häufigsten als Aggressor auf. Die meisten Vorfälle wurden ab dem Nachmittag und bis in die Nachtschicht reichend verzeichnet [12]. In allen Studien dominiert die nichtkörperliche Gewalt. In der Ausbildung befindliche Pflegekräfte sind dabei häufiger Opfer von Übergriffen als erfahrene [26]. In einer retrospektiven Studie beschrieben Gates et al. [3] nach einer Befragung von 242 Angestellten in fünf Notaufnahmen, dass 98 % der Pflegekräfte und 96 % der Ärzt*innen in den vorangegangenen sechs Monaten beschimpft und 83 % der Ärzt*innen und 78 % der Pflegekräfte bedroht wurden. 44 % der Pflegekräfte wurden zudem (verbal) sexuell belästigt. Über mindestens einen Vorfall physischer Gewalt berichteten 67 % der Pflegekräfte und 51 % der Ärzt*innen [3]. Ähnliche Studien mit vergleichbaren Ergebnissen folgten in Europa und Australien [4,5,6,7,8,9,10,11]. In einer eigenen retrospektiven Untersuchung der Notfallbereiche der Charité [25] zeigten sich mit den internationalen Ergebnissen vergleichbare Werte. Innerhalb von 6 Monaten vor der Befragung waren fast alle Antwortenden (95 %) einer verbalen und ein Drittel (33 %) einer körperlichen Aggression ausgesetzt. Während Ärzt*innen und Pflegepersonal ungefähr in gleichem Ausmaß verbalen Aggressionen begegneten, gab fast jede zweite Pflegekraft, aber „nur“ jeder fünfte Arzt an, körperliche Gewalt erlitten zu haben.

Präklinische Notfallmedizin/Rettungsdienst

Auch präklinisch ist die nichtbrachiale Gewalt vorherrschend. Laut einer Erhebung von September 2014 bis Januar 2015 sind besonders Beleidigungen und Beschimpfungen (93,4 %) sowie Bedrohungen (74,8 %) häufig. Jedoch scheint auch die physische Gewalt gegenüber Rettungskräften (Schubsen/Anrempeln, Schlagen, Fußtritte, Bedrohung oder Angriff mit Waffe) ein alltägliches Problem zu sein. Bei der direkten Befragung von Einsatzkräften berichtete jeder Dritte, dass er im Einsatz schon geschlagen, getreten (36,1 %) oder geschubst bzw. angerempelt worden ist (ca. 75 %). In Großstädten wie Berlin, Hamburg und Köln ist schon fast jede(r) Zweite mit einer Waffe bedroht worden, in München jede(r) Dritte [27]. Explizit sei hier auch das Bewerfen mit Feuerwerkskörpern genannt, das insgesamt 60,8 % der Befragten erlebt hatten, in Berlin sogar 83,3 %.

Ursachen für gewalttätiges Verhalten in der Notfallmedizin

Patientenseitige Faktoren

Durch Alkohol oder andere Drogen somatisch beeinträchtigte, meist männliche, Patienten sowie psychiatrische Notfallpatient*innen werden in der Literatur als Hauptverursacher von Gewalt in der Notfallmedizin genannt [2, 22, 27,28,29]. Der Substanzmissbrauch wird für bis zu 50 % der Vorfälle mitverantwortlich gemacht [5, 12, 21, 29]. Auch weniger konkret fassbare patientenseitige Faktoren können zu einer Eskalation während der Notfallbehandlung führen. Eine Notfallsituation trifft Patient*innen und Angehörige meist unvorbereitet. Durch die Ungewissheit über die Ernsthaftigkeit der Erkrankung und einen Mangel an Vorerfahrung über die Prozesse der Notfallmedizin sind sie oftmals voller Angst, Anspannung und Sorge oder erleiden Schmerz. In der präklinischen Situation kann das „Eindringen Fremder“ in die Privatsphäre, z.B. die eigene Wohnung, trotz eines ggf. selbst durchgeführten Notrufs als Bedrohung und die „Festlegung“ des weiteren Geschehens durch die Rettungskräfte als Autonomieverlust und Bevormundung empfunden werden. Zusammen mit der Erkenntnis der Ausweglosigkeit kann dies zu sozial unerwünschtem Verhalten führen.

Patientenunabhängige Faktoren

In der Klinik können neben der Frustration über eine lange Behandlungsdauer auch unerfüllte Erwartungen an die Art der medizinischen Versorgung im Rahmen der organisatorisch-strukturellen Vorgaben der notfallmedizinischen Versorgung eine Rolle spielen [17]. Sowohl für den präklinischen als auch für den klinischen Bereich der Notfallversorgung gilt es aber insbesondere auch zu beachten, dass „human factors“ aufseiten der in der Notfallmedizin Beschäftigten zumindest eine wegbereitende Rolle für eine Eskalation spielen können (Tab. 1).

Tab. 1 Beispiele häufiger Ursachen von Gewalteskalation in der Notfallmedizin

Nach einer qualitativen Befragung von 12 kürzlich mit einem Gewalterlebnis konfrontierten Pflegekräften einer irischen Notaufnahme zu den Gründen von Gewalt an ihrem Arbeitsplatz kritisieren Angland et al. die Art und Weise der Kommunikation des Personals untereinander und mit den Patient*innen, die nicht empathisch und in der Menge ausreichend geführt würde. Unter anderem machen die Autoren Zeitdruck und Stress, aber auch schlechte Erfahrungen und eine daraus entstandene Angst und Verletzbarkeit aufseiten des Personals dafür verantwortlich [30]. Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen Patientenaufkommen und der Inzidenz von Gewalt in Notaufnahmen. An Tagen mit einer hohen Inzidenz von Gewalt waren auch Surrogatparameter für eine Überfüllung, wie die Behandlungszeit und die Patientenanzahl pro Arzt oder pro Pflegekraft, erhöht [31]. Das Personal kann insbesondere in solchen Überlastungssituationen passiv (z.B. durch absichtliches Ignorieren oder Nichterkennen oder zu wenig Kommunikation), aber auch aktiv durch „machtausübende“ und „bevormundende“ Kommunikation („Jetzt setzen Sie sich doch hin“, „Sie müssen jetzt hier drinnen bleiben“) zu einer Eskalation einer angespannten Lage beitragen. Das Gefühl der Angewiesenheit auf Hilfe (asymmetrische Konstellation) auf der einen und die Wahrnehmung der eigenen Hilflosigkeit bzw. des Autonomieverlusts auf der anderen Seite kann bei Patient*innen und Angehörigen Wut erzeugen. Wird die bedrohliche Situation vom Personal erkannt, so ist ihm aus Eigenschutz anzuraten, entsprechend der Lage den hauseigenen Sicherheitsdienst und/oder die Polizei zu informieren. Es sollte aber auch zu Bewusstsein kommen, dass ein Sicherheitsdienst oder ein massives Auftreten von Polizei von Patient*innen oder Angehörigen als bedrohlich wahrgenommenen werden kann. Oftmals schwelen diese Empfindungen unerkannt weiter vor sich hin, bis sich im Verlauf ggf. die Gelegenheit ergibt, die angestauten Aggressionen, abgelöst von der eigentlich auslösenden Situation und somit oft völlig unerwartet, zu entladen. Alternativ werden häufig Drohungen ausgesprochen für eine Nachzeitigkeit, in der sich Patient*innen wieder in einer symmetrischen Machtkonstellation sieht („Ich weiß, wie Du heißt“, „Ich finde heraus, wo Du wohnst“, „Warte nur ab, bis Dein Dienst hier zu Ende ist, dann werde ich auf Dich warten“).

Auswirkungen von Gewalt

Gewalterfahrungen am Arbeitsplatz können mittel- und langfristig negative Folgen für die Mitarbeiter*innen der Notaufnahme selbst (körperliche und seelische Verletzungen) und auch für das Krankenhaus und das Gesundheitssystem (Ausfall der Arbeitskraft) haben. In letzter Konsequenz verursachen Gewalterfahrungen der Mitarbeiter*innen also zusätzliche Kosten [13, 32]. Eine Statistik des US-amerikanischen Arbeitsministeriums von 2010 zeigt, dass die meisten verletzungs- und krankheitsbedingten Fehltage im Gesundheitssystem als Folge von Gewalt gegen das Personal verzeichnet wurden [33].

In der akuten Phase nach einem Gewalterleben besteht die Gefahr, dass betroffene Mitarbeiter*innen und das im Dienst befindliche Team nicht mehr in der Lage sind, weiterhin eine den Anforderungen entsprechende Patientenversorgung zu gewährleisten, und die Qualität der medizinischen Versorgung absinkt [17, 23, 33, 34].

Mittel- und längerfristig können Gewalterfahrungen bei Pflegekräften zu posttraumatischen Stressreaktionen und Burn-out führen. Ramacciati et al. befragten neun Pflegekräfte aus Notaufnahmen in Mittelitalien in einem Fokusgruppeninterview zu ihrer Einstellung und zu ihren Gefühlen zu der von ihnen erlebten Gewalt am Arbeitsplatz. Die Befragten hielten Gewaltepisoden an ihrem Arbeitsplatz für unvermeidbar. Sie fühlten sich mit der Problematik „allein gelassen“, „verletzt“, „verängstigt“ und auch „verärgert“ [35]. Übliche Verhaltensstrategien nach erlebter Gewalt sind, „nichts zu tun“ und „zu schweigen“ [36]. Fernandes et al. [16] beschrieben nach einer retrospektiven Befragung von Mitarbeiter*innen einer Notaufnahme in Vancouver, Kanada, dass 38 % (n = 39) der Befragten aufgrund der erlebten Gewalt einen Jobwechsel in Betracht zogen, da ihr Wohlbefinden stark gelitten habe. Auch über 80 % von 171 befragten Notaufnahmeärzt*innen in Michigan (USA) berichteten über zeitweilige und 10 % über häufige Ängste am Arbeitsplatz. 16 % dachten aufgrund der Gewalterfahrungen darüber nach, das Krankenhaus zu verlassen [18]. Neben akuten körperlichen oder psychischen Verletzungen durch Gewalterleben besteht die Gefahr, dass sich die Beschäftigten längerfristig von ihrem Beruf entfremden, diesen verlassen oder nicht mehr gut und den eigenen Ansprüchen genügend ausüben. In der europäischen NEXT Study (Nurses Early Exit Study) stellten Estryn-Behar et al. [15] fest, dass es nicht nur in der Notfallmedizin einen Zusammenhang zwischen der Rate des Gewalterlebens und der Entwicklung eines Burn-outs bzw. dem Wunsch, den Arbeitsplatz oder den Beruf zu wechseln, gibt.

Fazit für die Praxis

  • Gewalttätiges Verhalten ist ein alltägliches, internationales Problem in der präklinischen und klinischen Notfallmedizin.

  • Meist erleiden die Mitarbeiter*innen verbale Gewalt.

  • Gewalttätiges Verhalten wird meist vom Patienten selbst gezeigt. Häufig ist ein Substanzmissbrauch (mit‑)ursächlich.

  • Viele Mitarbeiter*innen in der Notfallmedizin denken, dass das Erfahren von Gewalt „Teil ihres Berufs ist“.

  • Das regelmäßige Erleben von Gewalt kann zu Frustration und zur Abkehr vom Beruf führen.

  • Das Personal ist nicht ausreichend vorbereitet auf eskalierende Situationen. Ein Mangel an Kenntnis und kommunikativen Fähigkeiten im Umgang mit hocherregten Patient*innen oder Angehörigen kann zu einer Verschlimmerung der Situation führen.