Die akute Blutung stellt den Notfallmediziner in der präklinischen und klinischen Phase auch heute noch vor eine große Herausforderung, werden doch das Ausmaß und die Dynamik einer Blutung häufig unterschätzt. Clarke et al. [1] veröffentlichten 2002 die Ergebnisse einer klinischen Untersuchung an 243 hypotensiven Patienten mit einer Blutung infolge abdominaler Verletzung. Die Autoren zogen den Schluss, dass innerhalb der ersten 90 min nach Klinikaufnahme mit jeder Minute bis zur Laparotomie – und damit definitiven Blutstillung – die Letalität anstieg. Die Wahrscheinlichkeit zu sterben erhöhte sich mit jeder dritten Minute in der Notaufnahme um 1%. Dies darf als klare Forderung für die Notwendigkeit eines schnellen, organisierten und stratifizierten Workflows verstanden werden.

“Treat first what kills first“

Das präklinische Versorgungsintervall beim schwerverletzten Patienten mit einem Injury Severity Score (ISS) laut Jahresbericht des Traumaregisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) ≥16 lag im vergangenen Jahr im Mittel (± Standardabweichung) bei 71±42 min und die Dauer der Schockraumversorgung bei 69±40 min [2]. Das Fortbestehen von Blutungen und die Entwicklung eines hämorrhagischen Schocks stellen in vielen Datenbanken weiterhin die zweithäufigste Todesursache bei Traumapatienten dar. Die Kontrolle der Blutung ist somit essenziell: Die Volumengabe und Transfusion von Blut und Blutprodukten kann nicht mehr als nur eine „bridging“-Funktion einnehmen, bis die Blutung definitiv unter Kontrolle gebracht ist.

In Deutschland wird in den letzten Jahren eine deutlich steigende Zahl von rupturierten abdominalen Aortenaneurysmen registriert. Etwa 5–6% aller über 65-jährigen Männer haben eine pathologische Erweiterung der Aorta unterhalb des Abgangs der Nierenarterien. Neben der bis vor einigen Jahren allein offen chirurgisch durchgeführten Aneurysmektomie und Gefäßersatz mittels Kunststoffprothesen setzt sich immer mehr die endovaskuläre Therapie, d. h. Implantation eines aortobi- oder monoiliakalen Stentgrafts, durch, sofern es die Lokalisation des Aneurysmas erlaubt. Gefäßchirurgische Zentren sind heute darauf vorbereitet, auch im Notfall derartige Eingriffe durchzuführen. Kopp et al. [4] weisen in ihrem Artikel zum rupturierten Bauchaortenaneurysma auf die Bedeutung der präklinischen Einschätzung hin (daran denken!). Hieraus ergibt sich der Behandlungspfad mit zügiger Diagnostik und Therapie in einem spezialisierten Zentrum, welches vom Schockraummanagement (Stichwort: permissive Hypotension) über die eigentliche Therapie (offen chirurgisch oder endovaskulär) bis hin zur postoperativen Kontrolle das Überleben ermöglichen kann (Letalität bei rupturiertem Bauchaortenaneurysma mit hämorrhagischem Schock: 50–90%).

Während in den USA schwere Blutungen durch penetrierende Verletzungen, z. B. durch Schuss- und Stichwaffen, relativ häufig sind, ist ihr Anteil an allen behandelten Verletzungen und damit die Erfahrung im therapeutischen Prozedere in Mitteleuropa geringer. Umso wichtiger ist es aber für den Notfallmediziner, sich mit den Besonderheiten und der Erstversorgung solcher Verletzungsmuster vertraut zu machen. Lichte et al. [5] weisen in ihrem Beitrag zu penetrierenden Verletzungen besonders auf den Faktor Zeit hin („scoop and run“). Insbesondere Schussverletzungen werden in der präklinischen Ersteinschätzung oft unterschätzt – mit fatalen Folgen. Der Hinweis einer vorsichtigen (wenn überhaupt) Flüssigkeitssubstitution in der Initialphase bei penetrierenden Verletzungen des Körperstamms sei hier nur exemplarisch hervorgehoben.

Blutungen, besonders bei Schwangeren, stellen den Notfallmediziner, der in aller Regel nicht aus der Gynäkologie/Geburtshilfe kommt, immer wieder vor große differenzialdiagnostische und therapeutische Probleme, sind doch hier immer gleichzeitig zwei Patienten zu therapieren. Im Verlauf einer Schwangerschaft kommt es neben anderen physiologischen Veränderungen zu einem Anstieg des Blutvolumens um 35–40%. Bis zur 32. Schwangerschaftswoche nimmt das Plasmavolumen um 45% bzw. 1400 ml zu [6]. Der überproportionale Anstieg des Plasmavolumens ist mit einem erniedrigten Hämoglobinwert im Blut verbunden. Diese Konstellation macht es für den behandelnden Traumaspezialisten oft schwierig, einen hämorrhagischen Schock in der Frühphase anhand der gängigen Schockparameter wie Blutdruck und Puls zu erkennen. Andererseits kann eine vitale Gefährdung des Foetus schon bei einem relativ geringfügigen Blutverlust einsetzen.

Grum und Michaelis [3] gehen in ihrem Beitrag auf die für den Notfallmediziner wesentlichen Differenzialdiagnosen ein, die bei Schwangeren alleine schon durch die Anamnese mit Angabe der Schwangerschaftswoche eingegrenzt werden können. Sie weisen auf die Wichtigkeit der Wehenhemmung während eines eventuellen Transports hin, bei Verdacht auf eine Placenta praevia auch ohne Wehen. In ihren sehr übersichtlichen Flussdiagrammen werden dabei die Ursachen der vaginalen und intrabdominellen Blutung bei Patientinnen dargestellt.

Die Grundzüge des ATLS®-Konzepts erfahren eine ganz neue Dimension

Generell sollte bei allen Formen lebensbedrohlicher Blutungen das aus dem Advanced Trauma Life Support (ATLS®) bekannte Konzept des fortwährenden Re-Evaluierens als Instrument in Betracht gezogen werden, um Veränderungen von Vitalparametern richtig interpretieren und entsprechend schnell reagieren zu können. Behandlungspfade gehören heute zum Qualitätsmanagement aller modernen Kliniken, und algorithmenkonformes Vorgehen hat sich gegenüber dem bloßen Abarbeiten von Aufgaben als weit überlegen erwiesen. Hat sich noch vor Jahren die Tendenz abgezeichnet, dass mehr und mehr Häuser immer größere Behandlungsmöglichkeiten speziell für Notfallpatienten haben, ist es zwischenzeitlich zu einer Ressourcenverknappung gekommen. Die Zahl der Krankenhäuser in Deutschland hat abgenommen, Kliniken sind teilweise in den Nachtstunden geschlossen, Netzwerkstrukturen wurden aufgebaut, um die vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten und den teuersten Kostenfaktor, das Personal, optimal auszulasten. Diese Ressourcenoptimierung führt möglicherweise dazu, dass die Grundzüge des ATLS®-Konzepts eine ganz neue Dimension erfahren: Ziele sind die schnelle, genaue Einschätzung des Zustandes des (Trauma)Patienten, die prioritätenorientierte Behandlung und die Entscheidung, ob die eigenen Ressourcen zur Behandlung des Patienten ausreichen oder ein Transfer zu erwägen ist.

Akute Blutungen bedürfen immer eines guten interdisziplinären Managements, das in der präklinischen Phase beginnt, und an welches sich die klinische Versorgung nahtlos anschließen muss. Denn der Zeitfaktor zählt. Das „scoop and run“-Konzept der 1980er Jahre für die präklinische Versorgung traumatisierter Patienten wird damit überführt in „keep on running“ in der Behandlung von Patienten mit lebensbedrohlichen Blutungen.

Ihre

U. Kreimeier

R. Somasundaram

T. Bey