Kindliche kniegelenknahe Avulsionen sind seltene Verletzungen, die v. a. ältere Kinder bzw. Jugendliche im Rahmen von Sportunfällen betreffen. Die Inzidenz beträgt ca. 3 pro 100.000 pro Jahr [9]. Sie machen ca. 2–5 % aller kindlichen Knieverletzungen aus, wobei ca. 1 % der Apophysenfrakturen die proximale Tibia betreffen [14]. Der Altersgipfel der betroffenen Kinder und Jugendlichen liegt bei 8 bis 14 Jahren [22]. Erklärt wird dies einerseits durch hormonelle Umstellungsprozesse und durch das schnelle Längenwachstum der Knochen, das zu erhöhter Spannung und Kraft der gelenkübergreifenden Muskulatur führt. Andererseits werden die mangelnde Ausreifung motorisch koordinativer Bewegungsabläufe und verschiedene Reifestadien von kindlichem Knorpel und apophysärem Knochen als Erklärung angeführt [7, 19]. Ursache für die Avulsionsverletzungen sind v. a. Sportverletzungen. Während es bei Sprungsportarten wie Basketball, Volleyball oder Leichtathletik häufig durch plötzliche, explosionsartig aufgetretene Anspannungen des vorgespannten M. quadriceps zu knöchernen Tuberositas-tibiae-Ausrissen kommt, werden knöcherne Kreuzbandausrisse entweder durch ein kombiniertes Valgusrotationstrauma (vorderes Kreuzband [VKB]), ein Hyperextensionstrauma oder einen direkten Anprall der Tuberositas tibiae im Rahmen eines Sturzes (hinteres Kreuzband [HKB]) verursacht [10, 16, 19].

Diagnostik

Vor der Durchführung apparativer Diagnostik sollten die Kinder und Jugendlichen oder im Zweifel Eltern oder Augenzeugen nach dem Unfallhergang befragt werden. Im akuten Verletzungsstadium beschränkt sich die klinische Untersuchung häufig auf die Inspektion (Weichteil- und Schwellungszustand?) und Palpation (Gelenkerguss?). Sofern es die Schmerzen zulassen, sollte jedoch eine dezidierte Stabilitätsprüfung des Kniebandapparates erfolgen. Danach wird zunächst eine Röntgenaufnahme des Kniegelenks in 2 Ebenen durchgeführt. Diese kann in den meisten Fällen knöcherne Avulsionen sichtbar machen. In den Fällen, in denen eine klinische Untersuchung nicht ausreichend möglich ist oder der Unfallmechanismus unklar ist, sollte eine weiterführende Diagnostik mittels Magnetresonanztomographie (MRT) durchgeführt werden. Bei Verdacht auf einen Luxationsmechanismus empfiehlt sich die Kontrastmittelgabe zum Ausschluss von Intimaverletzungen der A. poplitea. Da eine MRT bei jüngeren Kindern aufgrund der mangelnden Compliance häufig nicht möglich ist, kann auch die schneller durchzuführende CT (Computertomographie)-Angiographie notwendig sein, um den Gefäßstatus sicher zu überprüfen. Bei röntgenologisch sicher diagnostizierten kniegelenknahen Avulsionen und gut untersuchbarem Kniegelenk kann ggf. auch auf eine weiterführende Diagnostik verzichtet werden.

Klassifikationen

Knöcherne Avulsionen der Tuberositas tibiae werden üblicherweise nach Ogden eingeteilt [16]. Dieser Klassifikation wurden später weitere Subtypen von Frankl et al. [5], Ryu et al. [18] und McKoy et al. [12] hinzugefügt. Die gebräuchlichste Klassifikation für knöcherne VKB-Risse ist die nach Meyers und McKeever [13], die 1977 von Zaricznyj erweitert wurde [2]. Sie beschreibt 4 Subtypen, wobei Typ 1 nicht disloziert ist und Typ 4 eine dislozierte Mehrfragmentavulsion des VKB darstellt. Die knöchernen HKB-Ausrisse werden in 3 Typen – nicht disloziert, disloziert mit Kontakt des Fragmentes zur proximalen Tibia und komplett disloziert – unterteilt [4, 17].

Therapie

In vielen Fällen von kniegelenknahen Avulsionsverletzungen besteht die Indikation für eine operative Therapie. Allenfalls nicht dislozierte Frakturen können konservativ behandelt werden und bedürfen dann einer regelmäßigen klinischen und radiologischen Verlaufskontrolle [17, 20].

Dislozierte Apophysenfrakturen der Tuberositas tibiae werden in der Regel offen reponiert und verschraubt ([12, 14]; Abb. 1). Ein minimalinvasives Vorgehen sollte unseres Erachtens nur zur Absicherung von nicht oder wenig dislozierten Frakturen genutzt werden. Bei dislozierten Avulsionen kommt es in der Regel zum Einschlagen des noch gut ausgeprägten Periostes in den Frakturspalt, was eine geschlossene Reposition erschwert bzw. unmöglich macht. Alternativ zur Schraubenosteosynthese kann auch eine Drahtcerclage verwendet werden [15].

Abb. 1
figure 1

a Dislozierte Avulsion der Tuberositas tibiae bei einem 12-jährigen Jungen. b Intraoperativer Situs nach Exploration und nach interner Fixation mit Kortikalisschrauben und 2 Fadenankern. c Postoperative Röntgenbilder

Die Möglichkeiten für die operative Therapie der knöchernen Kreuzbandausrisse sind vielfältig, sie reichen von direkten offenen Verschraubungen über Knochenanker bis zu arthroskopisch durchgeführten Repositionen mittels Fadencerclage [10]. Vorteile arthroskopischer Verfahren sind die Möglichkeit, Begleitverletzungen wie Meniskusrisse einzeitig mitbehandeln zu können.

Die verschiedenen Refixationstechniken wurden in biomechanischen Studien gut untersucht [1, 3]. Es konnte gezeigt werden, dass Fadencerclagetechniken sowohl eine signifikant höhere maximale Versagenslast als auch eine höhere Steifigkeit als Refixationen mittels Schraubenosteosynthesen aufweisen [1]. Des Weiteren ist die Fadencerclage über einen Endobutton auch einer Refixation mit Knochenankern im Hinblick auf die Stabilität überlegen [8]. Die Wahl des Materials der Fadencerclage, resorbierbar oder nichtresorbierbar, scheint nach einer kürzlich veröffentlichten Studie keinen Einfluss auf das klinische Ergebnis zu haben ([21]; Abb. 2). In den beiden Gruppen zeigten sich nach einem durchschnittlichen Follow-up von 28 bzw. 47 Monaten sowohl in den klinischen Scores (International Knee Documentation Committee [IKDC] und Lysholm) als auch in den radiologischen Ergebnissen (Einheilung des Knochens) und der a.-p.-Translation keine Unterschiede. Da bei Verwendung resorbierbarer Cerclagen mit Verknotung über eine Knochenbrücke keine dauerhaften Implantate im Körper verbleiben, sollten diese unseres Erachtens in der Versorgung kindlicher knöcherner VKB-Avulsionen standardmäßig verwendet werden. Das arthroskopische Vorgehen wird auch durch eine aktuell veröffentlichte Multicenterstudie zu Meniskusrissen bei kindlichen VKB-Ausrissen unterstützt. Feucht et al. [11] konnten zeigen, dass es in 54 Fällen in fast 40 % zu begleitenden Meniskusrissen gekommen war, wobei zu 90 % der laterale Meniskus betroffen war. Deshalb empfehlen die Autoren eine präoperative MRT-Diagnostik und eine arthroskopische Therapie, um Meniskusrisse sofort mitbehandeln zu können.

Abb. 2
figure 2

a Dislozierter knöcherner VKB (vorderes Kreuzband)-Ausriss Typ 4 nach Meyers und McKeever sowie mediale Tibiakopffraktur und Außenmeniskus-Hinterhornriss. b, c Transossäre Refixation des VKB mittels resorbierbarer Kordel, Außenmeniskusnaht mit fortlaufenden All-inside-Nähten und arthroskopisch assistierte Schraubenosteosynthese des medialen Tibiaplateaus

Im Hinblick auf die operative Therapie von dislozierten HKB-Ausrissen kann unseres Erachtens keine eindeutige Empfehlung für eine arthroskopische Refixation gemacht werden, da diese Operationstechnik gerade in der akuten Verletzungsphase technisch äußerst schwierig und aufwendig ist. Hämarthros und eine ggf. zusätzlich eingerissene posteriore Gelenkkapsel führen zu einer verlängerten Operationsdauer und dem Risiko eines durch Spülflüssigkeit ausgelösten Kompartmentsyndroms. Andererseits bietet die diagnostische Arthroskopie die Möglichkeit, Begleitverletzungen wie Meniskusrisse und Knorpelschäden sofort mitzubehandeln.

Die offene Refixation über einen direkten posteromedialen minimalinvasiven Zugang ist technisch deutlich weniger anspruchsvoll [6]. Bei entsprechend großen Fragmenten ist eine anatomische Reposition und Fixation mit Kortikalisschrauben sicher durchführbar, für mehrfragmentäre Avulsionen können Knochenanker oder auch die oben genannte Fadencerclagetechnik genutzt werden (Abb. 3). Nachteil der direkten Verschraubung bei kindlichen knöchernen HKB-Avulsionen ist Verbleib von nichtresorbierbaren Schrauben und ggf. die Notwendigkeit einer Implantatentfernung.

Abb. 3
figure 3

Knöcherne HKB (hinteres Kreuzband)-Refixation mittels Schraubenosteosynthese über einen minimalinvasiven dorsomedialen Zugang

Betrachtet man die Literatur zu klinischen Ergebnissen nach operativer Versorgung von kindlichen kniegelenknahen Avulsionen, so muss man grundsätzlich eine relativ dünne Datenlage mit geringer Evidenz attestieren.

Insgesamt scheinen nach Operation jedoch gute klinische Resultate erreichbar zu sein. Nach offener Reposition und Schraubenosteosynthese von Tuberositas-tibiae-Avulsionen konnte kürzlich gezeigt werden, dass 98 % der Patienten das präoperative Aktivitätsniveau erreichen und 97 % die volle Beweglichkeit des Kniegelenks wiedererlangen [19]. Pretell-Mazzini et al. [17] berichteten jedoch in ihrer Studie auch von einer Komplikationsrate von ca. 28 %, was die Verletzungsschwere und Schwierigkeit der Behandlung realistisch darstellt.

Die klinischen Ergebnisse nach knöchernen VKB-Ausrissen wurden 2013 in einem systematischen Review analysiert [10]. Auch hier zeigte sich eine schlechte Datenlage. Insgesamt wurden nur 26 Studien gefunden, wobei lediglich eine Level-3- und 25 Level-4-Studien vorlagen. Trotz fehlender Level-1- und -2-Studien konnten die Autoren folgende Aussagen zu den klinischen Ergebnissen treffen:

Die konservative Therapie von dislozierten Avulsionen (Myers und McKeever Typ 3 und 4) führt in 60 % der Fälle zur Pseudarthrosenbildung. Es zeigte sich weder ein signifikanter Unterschied in den klinischen Ergebnissen nach arthroskopischer oder offener Refixation noch nach Schrauben- oder Fadencerclagerefixation. Eine signifikant geringere Laxizität und weniger Bewegungseinschränkungen waren nach operativer Therapie von nicht oder gering dislozierten Avulsionen (Meyers und McKeever Typ 1 und 2) nachweisbar.

Fazit für die Praxis

  • Kindliche kniegelenknahe Avulsionen sind seltene Verletzungen, die v. a. ältere Kinder bzw. Jugendliche im Rahmen von Sportunfällen betreffen.

  • Dislozierte kindliche kniegelenknahe Avulsionen sollten frühzeitig operativ refixiert werden.

  • Das Standardverfahren zur Refixation von knöchernen VKB-Ausrissen (Meyers und McKeever 2–4) ist die arthroskopische transossäre Cerclage mittels resorbierbaren Fadens.

  • Bei knöchernen VKB-Avulsionen treten in bis zu 40 % Meniskusrisse auf, die bei arthroskopischem Vorgehen einzeitig mitbehandelt werden können.

  • Knöcherne HKB-Avulsionen können schnell und relativ einfach über einen offenen posteromedialen minimalinvasiven Zugang adressiert werden. Die indirekte arthroskopische Refixation ist im akuten Verletzungszustand technisch schwierig und aufwendig, sodass diese Technik erfahrenen Operateuren vorbehalten bleiben sollte.

  • Dislozierte Avulsionsfrakturen der Tuberositas tibiae müssen in der Regel offen reponiert und mittels Schraubenosteosynthese fixiert werden.