Hintergrund

Die deutsche Gesellschaft für Geriatrie charakterisiert den geriatrischen Patienten mit den Kernmerkmalen „höheres Lebensalter“, „Multimorbidität“ und „alterstypische Vulnerabilität“ mit der Gefahr des „Autonomieverlustes“ [5]. In der Vergangenheit war dieser Patient gar nicht oder nur sehr selten als z. B. Rehabilitand unter den BG-Patienten zu finden. So berichtet die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) in ihrem Jahresbericht 2014 zum Arbeitsunfallgeschehen, dass es sich bei den Patienten jenseits des 65. Lebensjahrs überwiegend um Patienten handelt, die z. B. während eines Reha-Aufenthaltes einen Sturzunfall erlitten hatten [6]. Das Statistische Bundesamt geht von einem starken Anstieg der Bevölkerungsgruppe jenseits des 65. Lebensjahres innerhalb der nächsten 20 Jahre aus. Im Vergleich zum Jahr 2013 auf 2060 wird eine Verdopplung der Menschen über 80 Jahre in Deutschland prognostiziert [3]. In der Vergangenheit hat sich bereits eine Zunahme der Lebenserwartung von 65-Jährigen und 80-Jährigen gezeigt. So berichtet das Robert Koch-Institut über eine Erhöhung der ferneren Lebenserwartung von 65-Jährigen im Vergleich 1971/73 zu 2009/2011 um gut 5 Jahre für Männer und Frauen. Bei den 80-Jährigen beträgt diese Zunahme im gleichen Zeitraum knapp 3 Jahre [1]. Eine zunehmend alternde Bevölkerung sowie eine Erhöhung des Renteneintrittsalters werden voraussichtlich zu einer schrittweisen Veränderung der Patientenstruktur bei BG-Patienten führen, sodass auch geriatrische Patienten zunehmend dazukommen werden. Geht man von einer zunehmenden Prävalenz von Komorbidität und Multimorbidität mit zunehmendem Alter aus, wie sie z. B. für die kardiovaskulären Erkrankungen oder den Diabetes mellitus seitens einer von der Gesundheit in Deutschland Aktuell (GEDA) 2009 durchgeführten Patientenbefragung festgestellt wurde [4], werden sich hierdurch zukünftig vermutlich auch im BG-Wesen Veränderungen anbahnen müssen, um diesen Charakteristika in der Behandlung des BG-geriatrischen Patienten gerecht zu werden.

Bisher werden im BG-Wesen Komorbiditäten nicht einheitlich statistisch erfasst, und eine systematische Analyse ihrer Anzahl und Auswirkungen auf den klinischen Verlauf wurde bisher nicht durchgeführt.

Ziel dieses Beitrags ist die Darstellung von Epidemiologie und Komorbidität bei geriatrischen BG-Patienten an einem Universitätsklinikum der Maximalversorgung.

Material und Methoden

Anhand der klinikinternen Daten (OPS [Operationen- und Prozedurenschlüssels] sowie ICD [International Classification of Diseases]-10-Codes) wurden für die Jahre 2005, 2010 und 2015 alle stationär operativ behandelten bg-lich versicherten Patienten ausgewertet. In die Auswertung wurden lediglich Patienten ab dem 60. Lebensjahr eingeschlossen. Die Tab. 1 zeigt die demografischen Daten der Patienten. Wesentliche internistische und neurologische Komorbiditäten (Tab. 2 ) wurden erfasst. Als Multimorbidität wurde das Vorhandensein von 3 oder mehr Komorbiditäten bei einem Patienten definiert.

Tab. 1 Demografische Daten
Tab. 2 Komorbiditäten

Ergebnisse

Der Anteil der Patienten, die älter als 60 Jahre waren, lag in den analysierten Jahren zwischen 13,0 und 13,7 %. Bei den Patienten jenseits des 80. Lebensjahres zeigte sich eine prozentuale Verdopplung im Verlauf der letzten 10 Jahre (Abb. 1). Auch wenn der prozentuale Anteil der Patienten jenseits des 60. Lebensjahr ähnlich blieb, kam es jedoch bei der Anzahl der zu behandelnden Patienten zu einer Zunahme (Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Altersverteilung 2005, 2010 und 2015

Abb. 2
figure 2

Anzahl der behandelten Patienten jenseits des 60. Lebensjahrs

Im Jahr 2005 hatten 70,9 % der Patienten mindestens 1 Komorbidität, 11,6 % Patienten davon waren multimorbide. Im Jahr 2010 hatten 82,7 % der Patienten 1 Komorbidität, wovon 18,2 % der Patienten eine Multimorbidität aufwiesen. Im Jahr 2015 war bei 79,6 % der Patienten 1 Komorbidität vorhanden, dabei hatten 19,8 % Patienten mehr als 3 Komorbiditäten gleichzeitig. Im Vergleich zu 2005 zeigt sich 2010 und 2015 eine Zunahme der Patienten mit mindestens 1 Komorbidität sowie eine Zunahme an multimorbiden Patienten. Mit Ausnahme von 2005 zeigte sich dabei eine zunehmende Multimorbidität mit zunehmender Lebensdekade (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Komorbidität und Multimorbidität im Vergleich 2005, 2010 und 2015

Die Auswertung einzelner Komorbiditäten zeigte eine altersabhängige Prävalenz. So hatten in den Jahren 2005, 2010, 2015 die Patienten der Altersgruppe 70 bis 79 Jahre eine prozentual höhere Prävalenz für einen Diabetes mellitus als Patienten der Altersgruppe 60 bis 69 Jahre. Die Altersgruppe der über 80-Jährigen zeigt wiederum die höchste Prävalenz mit Ausnahme von 2005 (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Diabetes mellitus

Im zeitlichen Vergleich kam es zu einer Zunahme an Patienten mit einer kodierten koronaren Herzkrankheit (KHK). Im Jahr 2005 hatten 10,5 % der Patienten eine KHK oder einen stattgehabten Myokardinfarkt. In den Jahren 2010 und 2015 zeigte sich bei diesen Diagnosen ein prozentualer Anstieg auf 12,7 und 13,0 % der Patienten. Mit Ausnahme von 2005 zeigte sich auch hier eine Abhängigkeit von der Lebensdekade (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Koronare Herzkrankheit (KHK) und Infarkt

Ein ähnlicher Verlauf konnte auch bei Patienten, die eine orale Antikoagulation (Marcumar, ASS, Plavix, Eliquis etc.) in ihrer Hausmedikation hatten, beobachtet werden. Im Jahr 2005 hatten 1,1 % der Patienten eine orale Antikoagulation in ihrer Hausmedikation. Im Jahr 2010 waren es 6,4 % der Patienten, und 2015 lag der Anteil bei 6,2 %. Es zeigte sich eine höhere Prävalenz mit zunehmender Lebensdekade (Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Orale Antikoagulation

Fallbeispiel 1

Anamnese.

Weiblich, 87 Jahre, auswärtige stationäre Aufnahme bei Verdacht auf eine transitorische ischämische Attacke (TIA) im Mediastromgebiet. Es kam zum Sturz im Rahmen der Mobilisation während des stationären Aufenthaltes. Die Zuverlegung in unsere Klinik zur operativen Versorgung folgte mit einer Femurschaftfraktur bei liegendem proximalem Femurnagel und Knietotalendoprothese (Abb. 7a, b).

Nebendiagnosen.

70 % Arteria carotis interna (ACI) Stenose links, permanentes Vorhofflimmern, Diabetes mellitus Typ II, Hypothyreose, arterielle Hypertonie, Schrittmacherimplantation, beginnende Demenz.

Dauermedikation.

Xarelto, Xipamid, Spironolacton, Nifedipin, Digimerck, Metformin, Bisohexal, Omeprazol, L‑Thyroxin, Folsan.

Verlauf.

Operative Versorgung der Patientin (Abb. 7c, d). Postoperative intensivmedizinische, interdisziplinäre Behandlung mit zunehmend demarkierender Ischämie im Mediastromgebiet in den Verlaufs-CCT(Craniale Computertomographie)s sowie eine zunehmende kardiopulmonale Dekompensation der Patientin. Die Patientin verstarb 8 Tage nach dem Sturzereignis.

Abb. 7
figure 7

ab Präoperative Röntgenaufnahme in 2 Ebenen der Femurschaftfraktur bei liegendem proximalem Femurnagel und Knietotalendoprothese. cd Postoperative Kontrolle nach plattenosteosynthetischer Frakturversorgung

Fallbeispiel 2

Anamnese.

Männlich, 73 Jahre, posttraumatische Arthrose linke Hüfte bei komplexer Oberschenkelfraktur vor 50 Jahren (Abb. 8a). Geplante stationäre Aufnahme zur endoprothetischen Versorgung (Abb. 8b).

Nebendiagnosen.

Herzinsuffizienz NYHA III, KHK, Spinalkanalstenose.

Dauermedikation.

Amlodipin, Opipramol, Lorazepam, Sultanol DA, Symbicort forte, Metoprolol, HCT, Torasemid, Tamsulosin, ASS.

Verlauf.

Operative Versorgung mit postoperativer Überwachung auf Intermediate-Care-Station bei pektanginösen Beschwerden. Kardiologische Mitbehandlung mit Anpassung der Hausmedikation ohne Notwendigkeit einer interventionellen Therapie. Im weiteren Verlauf Verlegung auf Normalstation und Entlassung in die Reha (16 Tage postoperativ).

Abb. 8
figure 8

a Beckenübersicht mit posttraumatische Arthrose der linken Hüfte bei komplexer Oberschenkelfraktur vor 50 Jahren. b Postoperative Stellungskontrolle nach endoprothetischer Versorgung der linken Hüfte

Fallbeispiel 3

Anamnese.

Weiblich, 89 Jahre, auswärtige stationäre Aufnahme bei Pneumonie, Sturz während der Mobilisation im Rahmen der Physiotherapie. Zuverlegung zur operativen Versorgung bei medialer Schenkelhalsfraktur.

Nebendiagnosen.

Chronische Niereninsuffizienz, COPD („chronic obstructive pulmonary disease“), arterielle Hypertonie, Aortenklappenstenose (mittelgradig), koronare 1‑Gefäß-Erkrankung (NSTEMI [Nicht-ST-Hebungsinfarkt] 2009 und 2014, PTCA [Perkutane transluminale Koronarangioplastie] 2009), Vorhofflimmern (Verzicht auf Antikoagulation bei Schleimhautblutung unter Marcumar), Zustand nach oberer Gastrointestinalblutung (Forrest Ib), Morbus Wegener.

Dauermedikation.

ASS, Plavix, Salbutamol, Atrovent, Symbicort, Metoprolol, Simvastatin, Torasemid, Decortin, Sertralin, Ferro sanol, Vitamin D.

Verlauf.

Operative Versorgung mittels Duokopfprothese (Abb. 9), postoperative Verschlechterung der Niereninsuffizienz mit intensivmedizinischer, interdisziplinärer Behandlung. Besserung der Retentionsparameter im Verlauf und Entlassung 15 Tage postoperativ.

Abb. 9
figure 9

Endoprothetische Versorgung der medialen Schenkelhalsfraktur der linken Hüfte

Diskussion

Die aufgeführten Fallbeispiele veranschaulichen die klinische Relevanz internistisch/neurologischer Komorbiditäten auf die Versorgung bei geriatrischen BG-Patienten. Aus dem klinischen Alltag ist uns diese Relevanz bei z. B. postoperativen Entgleisungen eines vorbestandenen Diabetes mellitus oder auch einer postoperativen respiratorischen Insuffizienz auf dem Boden einer COPD oder einer dekompensierten Herzinsuffizienz bestens bekannt. Nichtsdestotrotz stellt die Notwendigkeit des Vorhaltes unterschiedlicher Fachdisziplinen angesichts des wachsenden Kostendruckes eine Diskussionsgrundlage dar. Weitere Studien sind hier notwendig, um konkrete Auswirkungen auf z. B. Länge des Krankenhausaufenthaltes, Revisionsraten oder Mortalität auch bei Patienten im BG-Wesen zu objektivieren.

Auch wenn die vorliegende Nachuntersuchung keinen wesentlichen Anstieg der Patienten jenseits des 60. Lebensjahrs in den untersuchten Jahren zeigen konnte, zeigt sich innerhalb dieser Gruppe jedoch eine prozentuale Verdopplung der Patientenanzahl jenseits des 80. Lebensjahrs. Dies korreliert mit den eingangs erwähnten Prognosen des Statistischen Bundesamtes [3], und von einer weiteren Zunahme ist hier auszugehen. Es zeigte sich eine sehr hohe Prävalenz an Komorbidität bei den Patienten. Im Jahr 2005 lag diese bei 71 %, 2010 bei 83 %, und im Jahre 2015 hatten 80 % der Patienten mindestens 1 Komorbidität.

Bezüglich der Häufigkeit einzelner Komorbiditäten lassen sich teilweise höhere prozentuale Anteile in Untersuchungen der gesetzlichen Krankenkassen finden. In einer Auswertung der Knappschaft aus 2015 mit einer vergleichbaren Altersgruppe (65 bis 84 Jahre) lag der prozentuale Anteil der Patienten mit einem Diabetes mellitus zwischen 29,0 und 34,1 % und zwischen 18,8 und 35,5 % für KHK/Myokardinfarkt [2]. Ob letztlich die Erfassung der Komorbiditäten hier ursächlich für diesen Unterschied ist, bleibt zunächst unklar.

Die Auswertung einzelner Komorbiditäten zeigte in unserer Auswertung eine zunehmende Prävalenz mit zunehmenden Lebensdekaden. Auch wenn die Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen nur eingeschränkt als „geriatrischer“ Patient bezeichnet werden kann, so zeigt sich jedoch auch hier eine Komorbiditätsprävalenz von über 70 %. Ähnliches wurde 2009 von der GEDA berichtet. So zeigte sich in deren Patientenbefragung die Prävalenz kardiovaskulärer Erkrankungen bei 6,9 % für Frauen und 13,8 % für Männer im Alter zwischen 50 und 64 Jahren. Im Alter zwischen 65 und 74 Jahren waren es bereits 20,5 bzw. 31,0 % und jenseits des 75. Lebensjahrs 35,1 % bzw. 40,0 % [4].

Aus dem Deutschen Gesundheitsbericht Diabetes 2015 geht hervor, dass über ein Viertel der über 75-Jährigen an einem Diabetes mellitus leidet. In unserer Auswertung waren die prozentualen Anteile der Patienten mit einem kodierten Diabetes mellitus dieser Einschätzung ähnlich. Die Arbeitsgruppe wies darüber hinaus darauf hin, dass insbesondere biologisch ältere, multimorbide Patienten spezieller Vorgehensweisen in der Zielplanung, den Allgemeinmaßnahmen und der Pharmakotherapie bedürfen [7].

Betrachtet man nun beide Veränderungen im Einklang, so ist zukünftig von einer zunehmenden Anzahl älterer Patienten, die entsprechend ihrem Alter eine Vielzahl von Komorbiditäten mitbringen, auszugehen. Dieser Trend wird sich auch bei bg-lich versicherten Patienten widerspiegeln. Hieraus schlussfolgernd, sind unserer Ansicht nach zum einen die einheitliche Erfassung und statistische Aufarbeitung der Komorbiditäten von Patienten im BG-Wesen erforderlich, um diese Veränderungen zu objektivieren und quantifizieren zu können. Des Weiteren resultiert hieraus eine unverzichtbare enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Präsenz internistisch/neurologischer Fachabteilungen gerade auch für die Versorgung vornehmlich chirurgischer Patienten, um dem Versorgungsauftrag dieser Patienten mit einer hohen Komorbiditäts- und Multimorbiditätsrate gerecht zu werden. Auch das Miteinbeziehen eines Geriaters ist an dieser Stelle zu diskutieren.

Fazit für die Praxis

  • Ein Großteil der Patienten >65 Jahre sind Rehabilitanten.

  • Es ist ein Anstieg der >80-Jährigen zu verzeichnen.

  • Rund drei Viertel der Patienten >65 Jahre haben internistisch/neurologische Komorbiditäten.

  • Es zeigt sich sowohl eine zunehmende Prävalenz von Komorbiditäten als auch ein zunehmendes Alter.

  • Das Risiko für komplikationsreiche Verläufe ist in diesem Patientengut erhöht.

  • Enge interdisziplinäre Zusammenarbeit ist im klinischen Alltag erforderlich.