Die Versorgung peripherer Nervenverletzungen stellt in der Mikrochirurgie eine Herausforderung dar. Eine sofortige Reinnervation nach erfolgter Koaptation von Nerven ist nach derzeitigem Stand der Therapie nicht möglich. Einflussfaktoren wie Alter des Patienten, Begleitverletzungen, der Zeitpunkt der primären oder sekundären Rekonstruktion oder die Höhe der Nervenverletzung spielen bei der Versorgung eine wichtige Rolle. Neben der (mikro)chirurgischen Erfahrung ist eine enge Zusammenarbeit mit der Neurologie bei weiterführender Diagnostik und Verlaufsbeurteilung erforderlich, um dem Patienten bei der Versorgung dieser komplexen Verletzungen gerecht zu werden.

Chirurgisch relevante Anatomie

Periphere Nervenfasern bestehen aus Zellkörper, Axon und der umgebenden Myelinscheide. Im peripheren Nervensystem wird diese von Gliazellen, den sog. Schwann-Zellen, gebildet. Die aus dem zentralen Nervensystem kommenden elektrischen Impulse erreichen die Zellkörper in den Spinalganglien. Von hier aus werden sie über die Axone im Rahmen der saltatorischen Erregungsleitung über sog. Ranvier-Schnürringe an ihr Zielorgan weitergeleitet. Periphere Nerven und ihre Zielorgane bilden so eine funktionelle Einheit.

Das Epineurium bildet die äußere Hüllschicht peripherer Nerven. Die einzelnen Faszikel sind vom Perineurium umhüllt. Innerhalb des Perineuriums werden die myelinisierten Axone vom Endoneurium umgeben. Die Gefäßversorgung eines Nervs erfolgt durch die Aa. nervosum, die segmental in den Nerven eintreten und sich in intrinsische und interfaszikuläre Arteriolen aufteilen, die einen Gefäßplexus bilden [1]. Die intraoperative Handhabung der Nervenstümpfe darf nur über das Epi- oder das Perineurium erfolgen.

Pathophysiologie

Nach Seddon [2] lassen sich Nervenschäden, wie nachfolgend aufgeführt, unterteilen.

Neurapraxie.

Eine segmentale Demyelinisierung führt zu einem Leitungsblock. Es entsteht keine Waller-Degeneration bei intakten Axonen. Eine Regeneration innerhalb von Tagen oder Wochen ist zu erwarten.

Axonotmesis.

Es entsteht eine Kontinuitätsunterbrechung der Axone bei erhaltenen Hüllstrukturen. Grundsätzlich ist eine Regeneration möglich.

Neurotmesis.

Bei kompletter Durchtrennung von Nerven oder Faszikeln inklusive Hüllstrukturen besteht die Notwendigkeit der mikrochirurgischen Intervention.

Nach Sunderland lassen sich 5 Schweregrade unterscheiden [3]. Typ I entspricht der Neurapraxie, Typ V der Neurotmesis. Die Axonotmesis wird hier noch in weitere Subtypen unterteilt (Typ II–IV).

Nervendegeneration und -regeneration, zeitliche Aspekte

Nach Trennung des distalen Anteils des Axons von seinem Zellkörper beginnt innerhalb von 24–48 h die antegrad gerichtete Waller-Degeneration. Zytokinvermittelt kommt es zu einer erhöhten Permeabilität der Blut-Nerven-Schranke. Axon- und Myelintrümmer werden von einwandernden Makrophagen phagozytiert. Retrograd erreicht die Degeneration den ersten intakten Ranvier-Schnürring [4].

Direkt nach der Verletzung beginnt bei intaktem Zellkörper parallel das Aussprossen des Axons entlang der Hüllstrukturen. Ohne eine entsprechende Leitschiene kann das Aussprossen der regenerierenden Axone fehlgeleitet und sogar rückwärts gerichtet erfolgen. Bei intakter Leitschiene wie bei Axonotmesis hat das Axon hingegen einen direkten Weg zu seinem Zielorgan [5].

Mit der Verletzung und der Denervierung beginnen auch die motorischen Endplatten zu degenerieren. Nach 6 Monaten beginnt dieser Prozess irreversibel zu werden, nach 18 Monaten ist eine motorische Reinnervation nicht mehr möglich. Für die sensorischen Zielorgane liegt die Zeitspanne der möglichen funktionellen Reinnervation bei etwa 3 Jahren [6].

Da das Aussprossen des Axons mit einer Geschwindigkeit von etwa 1 mm pro Tag geschieht [7], ist das Wissen um die zeitliche Komponente bei der Versorgung peripherer Nervenläsionen für den Mikrochirurgen essenziell.

Diagnostik

Klinische Untersuchung

Eine exakte klinisch-neurologische Untersuchung dient zum einen der Erfassung des Ist-Zustandes, zum anderen als Grundlage für vergleichende Untersuchungen im meist langwierigen Heilverlauf. Die detaillierte Dokumentation von Kraftgraden und Sensibilität kann bereits Hinweise auf mögliche strukturelle Nervenverletzungen geben. Beim Hofmann-Tinel-Zeichen wird durch Beklopfen des verletzten Nervs ein elektrisierendes Gefühl ausgelöst. Dies kann Hinweise auf die Lokalisation der distal der Verletzungsstelle aussprossenden Axone geben und eignet sich so für die klinische Beurteilbarkeit der Nervenregeneration im Verlauf [8].

Elektrophysiologie

Elektroneurographie.

Eine verlangsamte Nervenleitgeschwindigkeit zeigt eine Demyelinisierung (z. B. bei Leitungsblock im Rahmen einer Neurapraxie) an, eine Reduktion der Amplitude eine axonale Schädigung (z. B. bei Axonotmesis). Im Falle einer Neurotmesis kann keine Antwort auf einen Reiz erhalten werden.

Elektromyographie.

Eine axonale Schädigung zeigt sich in einer pathologischen Spontanaktivität. Bei Neurapraxie treten diese Veränderungen nicht auf. Eine Unterscheidung zwischen Axonotmesis und Neurotmesis ist nicht möglich.

Bildgebende Verfahren

Neurosonographie.

Hier können zusätzliche Informationen zu Durchmesser, Kontinuität und Läsionshöhe gewonnen werden. Durch die meist verwendeten Linearschallköpfe mit 10–15 MHz können auch raumfordernde Prozesse (z. B. Tumoren, Entzündungen) detektiert werden [9].

MR-Neurographie.

Sie steht momentan nur in spezialisierten Zentren zur Verfügung. In T1-gewichteten Sequenzen können feine anatomische Details wie die faszikulären Nervenstrukturen dargestellt werden. Hochaufgelöste T2-gewichtete Sequenzen sind dagegen geeignet, um Schädigungen der Nerven selbst darzustellen [10].

Therapie

Konservative Therapie

Bei Nervenläsionen ohne Kontinuitätsunterbrechung ist ein abwartendes Prozedere für bis zu 12 Wochen gerechtfertigt. In dieser Zeit sind physiotherapeutische Maßnahmen zum Erhalt der passiven Gelenkbeweglichkeit indiziert. Kommt es nicht zu einer klinischen und neurologischen Besserung der Symptomatik innerhalb von 12 Wochen, ist ein höhergradiger struktureller Schaden anzunehmen und eine operative Revision angezeigt.

Primäre Rekonstruktion

Die beste Methode der primären Nervenrekonstruktion ist die direkte, spannungsfreie End-zu-End-Neuroraphie [11]. Nach Präparation der Nervenstümpfe und sparsamem Anfrischen erfolgt die Approximation mit möglichst exakter Identifizierung der korrespondierenden Faszikel. Mit einem monofilen 9–0- oder 10–0-Faden wird die Koaptation unter Nutzung des Operationsmikroskops in Einzelknopftechnik abgeschlossen. Bei mono- oder oligofaszikulären Nerven erfolgt sie meist epineural, bei polyfaszikulären Nerven auch faszikulär. Jede Spannung im Bereich der Naht ist zu vermeiden, da sie zu vermehrter Narbenbildung und lokaler Ischämie führen kann.

Sekundäre Rekonstruktionsverfahren

Ist nach 12 Wochen klinisch und neurophysiologisch keine Befundbesserung nachweisbar, sollte mit dem Patienten eine operative Revision besprochen werden. Durch Narbenbildung und notwendige Rückkürzung der Nervenstümpfe können Defektstrecken entstehen, die eine spannungsfreie Koaptation nicht mehr zulassen. Hier können resorbierbare, aus Biomaterialien bestehende Conduits als Leitschiene verwendet werden ([12]; Abb. 1). Empfohlen werden diese für Defektstrecken <3 cm. Azelluläre Allografts finden Anwendung für Defektstrecken <5 cm. Ab einer Defektstrecke >5 cm bleibt der Goldstandard das autologe Nerveninterponat ([13]; Abb. 2). Bevorzugt wird hier der N. suralis verwendet, der eine Länge von bis zu 30 cm aufweist und an Spendermorbidität ein meist vertretbares sensibles Defizit am lateralen Fußrand hinterlässt.

Abb. 1
figure 1

Conduit (NeuroTube®, Fa. Synovis Micro Companies Alliance, INC., 439 Industrial Lane, Birmingham, AL 3521, USA)

Abb. 2
figure 2

Sekundäre Rekonstruktion des N. medianus im Hohlhandbereich mittels Suraliskabelinterponat

Zeitmanagement bei sekundären Rekonstruktionen

Besonders bei motorischen Ausfällen ist eine zeitnahe Rekonstruktion für ein bestmögliches funktionelles Ergebnis von großer Bedeutung. Bei einer hohen Läsion des N. ulnaris sind die Resultate für die Reinnervierung der intrinsischen Handmuskeln selbst bei sofortiger Koaptation selten gut. Grund dafür ist die Länge der zu überwindenden Strecke für die aussprossenden Axone bis zu ihrem Zielorgan [14].

Die motorischen Endplatten der Zielmuskulatur lassen sich durch handgelenknahe Transpositionen zwischen N. medianus und N. ulnaris bereits früher erreichen. Eine Möglichkeit ist die Transposition des motorischen Endastes des N. interosseus anterior vor Eintritt in den M. pronator quadratus auf den motorischen Ast des N. ulnaris ([15]; Abb. 3, Falldarstellung). Als weitere Option ist ein jeweils End-zu-Seit koaptiertes Suralisinterponat zwischen dem motorischen Thenarast des N. medianus und dem motorischen Ast des N. ulnaris zu erwähnen [16].

Abb. 3
figure 3

19 Jahre alter männlicher Patient, 6 Wochen nach Schnittwunde mit Durchtrennung des N. ulnaris auf Höhe des mittleren Unterarmes. Auswärtige „inkomplette Nervennaht“ erfolgt. Vorstellung mit sensomotorischer Ulnarisparese rechts, Verschmächtigung der Handbinnenmuskulatur, Krallenfehlstellung und typischem Sensibilitätsausfall. a Narbenpannus am Stamm des N. ulnaris auf 4 cm mit einliegendem Faden. b Resektion des Narbengewebes bis ins Gesunde mit resultierender Defektstrecke von etwa 5 cm. c Darstellen des motorischen Anteiles des N. ulnaris und proximales Absetzen. d Aufsuchen des motorischen Endastes des N. interosseus anterior und Absetzen vor Eintritt in den M. pronator quadratus. e End-zu-End-Koaptation mit 9–0-Ethilon. f Interposition von insgesamt 5 Suraliskabeln, zusätzliches Umhüllen der Koaptationsstellen mit resorbierbarem Conduit

Gemeinsames Ziel dieser Verfahren ist, eine Reinnervation der intrinsischen Muskulatur früher zu ermöglichen, als es mit der Rekonstruktion einer weit proximal gelegenen N.-ulnaris-Läsion erreichbar gewesen wäre.

Nach 18 Monaten ist eine erfolgreiche Reinnervation nicht mehr möglich. Als Rettungsoperationen kommen motorische Ersatzplastiken durch Sehnenumlagerungen oder funktionelle Muskeltransfers in Betracht. Eine Entscheidungshilfe zwischen den möglichen Operationsverfahren bei motorischer Schädigung des N. radialis gibt Tab. 1.

Tab. 1 Wahl des Operationsverfahrens in Abhängigkeit von der zeitlichen Latenz zur Verletzung sowie vom Alter des Patienten bei motorischer Schädigungen des N. radialis

Fazit für die Praxis

  • Neurapraxie: Zuwarten bis zu 12 Wochen, hier ist die Klinik entscheidend mit Wiedererlangung der Schutzsensibilität etc.

  • Axonotmesis: Wiedererlangung der Funktion mit Nervenregeneration von etwa 3 cm/Monat, bei verbleibenden Defiziten ist die Operation als Neurolyse zu planen → enge Kooperation mit Neurologie.

  • Neurotmesis: komplette Aufhebung der Sensibilität inklusive der Schutzsensibilität → Rekonstruktion anstreben.

  • Weit proximale Läsionen: Durch handgelenknahe Nerventranspositionen lassen sich die Zielorgane früher erreichen und deren irreversible Degeneration vermeiden.

  • Kritisches Zeitfenster für die Rekonstruktion motorischer Nerven: 18 Monate, für sensible Nerven 3 Jahre.

  • Goldstandard für die Versorgung von Defektstrecken >5 cm bleibt das Nerveninterponat.

  • Hochauflösende Bildgebung (Neurosonographie, MR-Neurographie) erweitert das diagnostische Spektrum.

  • Als Rettungsoperationen stehen motorische Ersatzplastiken und funktionelle Muskeltransfers zur Verfügung.