Epidemiologie und Diagnostik

Die suprakondyläre Humerusfraktur ist eine sehr häufige Fraktur im Wachstumsalter mit einer Inzidenz von 5–6 % aller Frakturen in der Kindertraumatologie [2]. Im Bereich des Ellenbogens ist sie die häufigste Entität. Der typische Altersgipfel liegt zwischen dem 3. und 10. Lebensjahr mit einer Spitze um das 5. und 6. Lebensjahr [8].

Eine Röntgenuntersuchung in 2 Ebenen gilt seit Langem als Standarduntersuchung, wobei auf eine streng seitliche Aufnahme zu achten ist, um etwaige Rotationsfehler sicher zu erfassen. Weiterführende bildgebende Untersuchungen, wie Magnetresonanztomographie (MRT) oder Computertomographie (CT), haben keine Bedeutung. Nichtachsengerechte Aufnahmen führen oft zu Fehleinschätzungen eines möglichen Rotationsfehlers, was manchmal zur Verharmlosung mit Einleitung einer konservativen Therapie, anderseits aber auch zur Überbewertung mit der Folge einer unnötigen Operationsindikation führt. Das Fettpolsterzeichen ist ein radiologisches Zeichen, das zur Detektion einer (okkulten) Fraktur hilfreich sein kann. Das Vorliegen des Fettpolsterzeichens durch einen Gelenkerguss weist auf eine Fraktur hin und zwingt zur exakten Betrachtung der vorliegenden Röntgenbilder bzw. zur Wiederholung einzelner Aufnahmen bei nichtexakter achsgerechter Einstellung. Ein normales Alignement liegt vor, wenn die anteriore Humeruslinie (auch Rogers-Linie genannt) entlang des anterioren humeralen Kortex und durch das mittlere Drittel des Capitulums läuft. Somit ist gewährleitet, dass der Winkel vom Humerusschaft zum Capitulum humeri zwischen 20° und 45° beträgt. Des Weiteren sollte die Radius-Capitulum-Linie durch die proximale Radiusschaftmitte und die Mitte des Capitulums verlaufen (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Verlauf der anterioren Humeruslinie (Rogers-Linie) entlang des anterioren humeralen Kortex durch das mittlere Drittel des Capitulums (rot). Verlauf der Radius-Capitulum-Linie durch die proximale Radiusschaftmitte und die Mitte des Capitulums (blau)

Klassifikationen

Die suprakondylären Frakturen werden allgemein zunächst in Extensions- (98 %) und Flexionsfrakturen (2 %) unterschieden. Weitergehende Klassifikationen berücksichtigen das Dislokationausmaß der Fragmente, um daraus therapierelevante Schlussfolgerungen zu ziehen. In unserem Zentrum ist mittlerweile die Einteilung nach von Laer [21] am gebräuchlichsten, die 4 Grade der suprakondylären Humerusfrakturen unterscheidet:

  • Typ I: nichtdislozierte Fraktur

  • Typ II: dislozierte Fraktur ohne Rotation

  • Typ III: dislozierte Fraktur mit Rotation

  • Typ IV: vollständig dislozierte Fraktur

Im englischsprachigen Raum wird überwiegend die 1984 von Wilkins [1] modifizierte Gartland-Klassifikation aus dem Jahre 1959 [6] verwendet, die der Von-Laer-Klassifikation sehr ähnelt:

  • Typ I: „undisplaced fracture“

  • Typ IIA: „greenstick fracture with posterior angulation“

  • Typ IIB: „greenstick fracture with malrotation + posterior angulation“

  • Typ III: „completely displaced fracture“

Therapie

In der Kindertraumatologie herrscht Konsens darüber, dass Typ-I-Frakturen nach von Laer immer konservativ therapiert werden. Frakturen des Typs III und IV sollten immer operativ therapiert werden. Typ-II-Frakturen müssen differenziert betrachtet werden. Allgemein akzeptiert wird die Auffassung, dass diese Frakturen jenseits des 6. Lebensjahrs und mit einer Angulation >20° von der Norm eine Operationsindikation darstellen [7] und ansonsten lebenslange Fehlstellungen mit abnormer Überstreckfähigkeit drohen (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

10-jähriges Mädchen mit Typ-II-Fraktur nach van Laer, Unfallbild aus dem Jahr 2008. b Ausheilung/Spontankorrektur 8 Jahre später nach Wachstumsabschluss (Bild nach erneutem Sturz), 20° Überstreckfähigkeit. c Klinisches Bild mit Ellenbogenüberstreckung im 18. Lebensjahr

Konservative Behandlung

Bei Typ-I-Frakturen nach von Laer ist keine Reposition erforderlich. Hier reicht die Ruhigstellung im Oberarmgips aus. In der Regel wird der Unterarm in 90° Ellenbogenflexion in Neutralstellung ruhiggestellt. Es gibt aber auch Empfehlungen für eine Ruhigstellung im Oberarmgips in 100° Flexion und pronierter Unterarmstellung [4]. Eine allgemein etablierte Methode ist die Blount-Schlinge („cuff and collar“), bei der das Ellenbogengelenk ungefähr in 110° Flexion bei gleichzeitiger Pronation des Unterarms eingestellt wird.

Typ-II-Frakturen werden in Abhängigkeit von der Angulation bzw. dem Ausmaß der Abkippung ebenfalls konservativ behandelt. Eine Angulation ≤10° wird i.d.R. nur ruhiggestellt, wobei die Grenze bei Kindern unter dem 6. Lebensjahr erweitert wird. Bei Kindern mit einer Extensionsangulation > 15–20° erfolgt eine geschlossene Reposition in Narkose oder Analgosedierung mit gleichzeitiger Überprüfung der Stabilität und Anlage eines Oberarmgipses. Alternativ kann die Reposition bei Extensionsverkippungen auch mit einer Blount-Schlinge erfolgen. Dies erfordert ein Nachziehen nach 2 bis 3 Tagen mit Verkürzung der Schlinge. Der Repositionserfolg muss radiologisch nach 2 bis 3 Tagen kontrolliert werden, wobei hier eine streng seitliche Aufnahme ausreichend ist. Schließlich ist bei konservativer Behandlung eine Röntgenkontrolle nach 5 bis 7 Tagen erforderlich, da zu diesem Zeitpunkt gerade noch eine erneute geschlossene Reposition und operative Versorgung ohne offene Reposition vorgenommen werden können.

Cave: Typ-II-Flexionsfrakturen sind nach Reposition im Gips nicht adäquat zu halten und zeigen rasch einen kompletten Repositionsverlust. Eine Blount-Schlinge verbietet sich, da die Fehlstellung nur unterstützt wird. Meist ist eine operative Stabilisierung indiziert.

Instabile Typ-II-Frakturen – erkennbar am sofortigen Repositionsverlust – sollten in der gleichen Narkose/Analgosedierung operativ stabilisiert werden. Damit ließe sich die hohe Rate an sekundären Dislokationen (ca. 30 % bei Typ-II-Fraktur) vermeiden [17].

Operative Therapie

Die operative Therapie ist bei den instabilen Typ-II- sowie den Typ-III- und Typ-IV-Frakturen indiziert. Häufig gelingt auch bei grob dislozierten Frakturen die geschlossene Reposition.

Grundsätzlich kann der Eingriff in Rücken- oder Bauchlage vorgenommen werden. Die Rückenlage bietet dabei deutliche Vorteile, was die Repositionsmöglichkeiten betrifft. In Bauchlage ist meistens die erforderliche maximale Flexionsmöglichkeit limitiert. Nachteile der Bauchlage finden sich auch bei der Behandlung von Gefäß- und Nervenverletzungen, die meist einen beugeseitigen Zugang erfordert. Hingegen kann eine Reposition in Rückenlage auch leicht mittels Tape oder Wickelung fixiert werden, was dann die Osteosynthese erleichtert [16]. Vor der Operation sollte zur Beurteilung der Repositionsfähigkeit unsteril eine Probereposition durchgeführt werden.

Die offene Reposition ist indiziert bei Frakturen, bei denen eine geschlossene Reposition nicht gelingt, und bei Frakturen, bei denen assoziierte Verletzungen wie Gefäß und Nervenverletzungen vorliegen. Die meisten Operateure sind mit dem radialen und medialen operativen Zugang vertraut. Wir favorisieren jedoch den ventralen Zugang, der v. a. bei neurovaskulären Begleitschäden Vorteile bietet. Ein wesentlicher Vorteil des vorderen Zugangs ist die direkte visuelle Darstellung der A. brachialis und des N. medianus, des Weiteren können die Frakturfragmente leicht erreicht und reponiert werden. Mit einer relativ kleinen transversen Inzision in der Ellenbeuge lässt sich auch ein kosmetisch akzeptables Ergebnis erzielen. Eine mögliche Narbenkontraktur mit Extensionseinschränkung wurde beim vorderen im Gegensatz zum lateralen Zugang bisher nicht beschrieben. Unterschiede hinsichtlich des funktionellen Outcomes und der Knochenheilung konnten im Vergleich vorderer versus lateraler Zugang nicht festgestellt werden [5]. Da die Blutversorgung der Epiphyse über Gefäße von dorsal verläuft, wird der posteriore Zugang aufgrund der evtl. höheren Osteonekroserate heute nicht mehr empfohlen [23].

Die Kirschner-Draht-Osteosynthese gilt in der Literatur als der Goldstandard der operativen Retention. Ihr Stellenwert unterscheidet sich nicht bei geschlossener und offener Reposition. Unterschiedliche Techniken der Drahtkonfiguration können heute nach biomechanischen Kriterien unterschieden werden (Abb. 3). So zeigen 2 gekreuzte Drähte (von distal ulnar und von distal radial) eine größere Stabilität als 2 parallel von radial eingebrachte Drähte [11, 24]. In einer anderen Untersuchung konnte nachgewiesen werden, dass 2 radiale divergente Drähte bei Einleitung von Extensions- und Varuskräften eine höhere Stabilität als 2 gekreuzte Drähte haben, bei Valguskräften jedoch als gleichwertig anzusehen sind [10]. Eine weitere, stabilere Situation kann erzeugt werden, wenn zu 2 radialen divergenten Drähten ein zusätzlicher ulnarer Draht eingebracht wird. Dies wird jedoch nur für die hochinstabilen Frakturen Typ IV nach von Laer oder Typ III nach Gartland empfohlen. Eine weitere Studie stellte das Ergebnis mit 3 radialen Drähten dem mit 2 gekreuzten Drähten gegenüber und zeigte, dass die Torsionsstabilität gleich ist [9]. Weitere Untersuchungen favorisierten 3 radiale Drähte, v. a. bei den hochinstabilen Frakturen [12, 15]. Eine iatrogene Nervenverletzung des N. ulnaris bei ulnar eingebrachten Drähten kann Raten von bis zu 5 % erreichen [16]. Eine von radial distal und radial proximal gekreuzte Kirschner-Draht-Technik (auch „Dorgan’s percutaneous lateral cross-wiring technique“ genannt) stellt eine weitere Alternative dar [14], birgt jedoch eine höhere Gefahr an Nervenverletzungen. Radial proximal kann bei dieser Technik leicht der N. radialis verletzt werden, was der engen Lagebeziehung zur Insertion und der großen Variabilität des Verlaufs geschuldet ist (Abb. 4). Es spielt keine Rolle, ob die Kirschner-Drähte perkutan belassen oder unter die Haut versenkt werden. Eine erhöhte Infektionsrate bei überstehenden Drähten wurde bisher nicht nachgewiesen.

Abb. 3
figure 3

Varianten der Kirschner-Draht-Osteosynthese

Abb. 4
figure 4

Lagebeziehung des N. radialis bei der „Dorgan’s percutaneous lateral cross-wiring technique“

Weitere operative Stabilisierungsverfahren sind die deszendierende elastisch stabile intramedulläre Nagelung (ESIN-Osteosynthese), die noch nicht sehr verbreitet ist [13], sowie der radial platzierte Fixateur externe [18], der hilfreich bei den hochinstabilen, schwer zu reponierenden Verletzungen ist.

Ein Spezialsituation ist die mediale Impaktion, die bei Typ-II-Fakturen nach von Laer und nach Gartland beobachtet werden kann. Hilfreich bei der Beurteilung ist die Messung des Baumann-Winkels (Abb. 5). Dabei handelt es sich um einen Winkel innerhalb des Ellenbogengelenks als Hilfsmittel für die Reposition einer suprakondylären Humerusfraktur bei Kindern (unabhängig von der Durchstreckung im Gelenk), der Normwert nach Williamson liegt bei 64–81°. Gemessen wird der Winkel (α) zwischen Humerusachse zur Geraden durch die Epiphysenfuge des lateralen Kondylus (Capitulum humeri). Der reziproke Winkel (90–α–5) gibt Hinweise auf den Kubitalwinkel, also die mediale Impaktion. Diese Frakturen erfordern immer eine operative Intervention, auch wenn nur eine Abkippung in einer Ebene <15–20° vorliegt. Eine geschlossene Reposition ist i.d.R. nicht ausreichend, da die Redislokation nahezu immer auftritt. Eine unbehandelte mediale Impaktion führt unweigerlich zur Cubitus-varus-Fehlstellung. Auch bei minimaler Impaktion wird eine Reposition und Stabilisierung mit Kirschner-Drähten oder radialem Fixateur externe empfohlen, da in einer retrospektiven Untersuchung an 13 Patienten mit medialer Impaktion das Outcome deutlich für die stabile Fixierung spricht [3]. Patienten mit medialer Impaktion, die operativ stabilisiert wurden, bildeten keinen Cubitus varus aus, während 4 von 7, die nichtoperativ behandelt wurden, einen Cubitus varus entwickelten.

Abb. 5
figure 5

Baumann-Winkel. b Pathologischer Baumann-Winkel 85°: mediale Impaktion

Bei ungenügender Reposition und Retention drohen folgenschwere Reoperationen und Korrekturen, insbesondere wenn die Rotationsfehler nicht richtig behandelt werden (Abb. 6). Um dies zu vermeiden gilt es, die zu erwartenden operativen Schwierigkeiten zu kennen und Lösungsmöglichkeiten zu haben.

Abb. 6
figure 6

a 11-jähriger Junge 12 Wochen nach auswärtiger Operation, 8 Wochen Gipsschiene in 90° Ellenbogenflexion nach Operation, 70° Rotationsfehler, Radialisausfall, Extension/Flexion 0-70-90, Pronation/Supination 20-0-10. b Korrekturoperation: offene Reposition medial und lateral mit Fixateur externe. c Ausheilung 4 Monate nach Korrektur, Rückbildung des Radialis, Extension/Flexion 0-10-140, Pronation/Supination 80-0-80

Nachbehandlung nach operativer Therapie

Die gängige Behandlung mit Kirschner-Drähten erfordert die direkt postoperative Anlage eines Oberarmgipses. Die allgemeine Empfehlung ist hier eine Oberarmschiene in einer maximalen Flexion von 70°, Pro- und Supination sollten in der Schiene weitgehend ausgeschaltet sein. Die maximale Flexion von 70° dient der Vermeidung eines möglichen postoperativen Kompartmentsyndroms [16]. Bei der Kirschner-Draht-Osteosynthese werden altersabhängig nach 3 bis 4 Wochen der Oberarmgips und die Drähte ambulant entfernt, wobei die Prozedur bei nichtversenkten Drähten keine Narkose erfordert und bei der perkutan versenkten Variante eine Sedierung mit Midazolam ausreicht [20]. Anschließend erfolgt die Freigabe zur spontanen Bewegung. Eine klinische Untersuchung 2 bis 3 Wochen später klärt den Bedarf einer Physiotherapie, die bei sehr schlechter Beweglichkeit zu diesem Zeitpunkt indiziert ist. In der Regel ist eine 90 %ige Bewegungsfähigkeit nach 10 bis 12 Wochen zu erwarten [22]. Bis zur vollständigen Bewegungsfreiheit dauert es jedoch oft bis zu 1 Jahr [19].

Fazit für die Praxis

  • Zur Vermeidung operativer Schwierigkeiten sollte man exakt die Frakturtypen analysieren, um dann das geeignete Operationsverfahren orientierend am Grad der Stabilität bzw. der Fehlstellung zu wählen.

  • Die Rückenlage bietet Vorteile bei der Visualisierung und Behandlung von Begleitpathologien.

  • Die Kenntnis der biomechanischen und anatomischen Gegebenheiten der unterschiedlichen Verfahren ist unabdingbar, um eine sichere Retention zu erzielen.

  • Die selten notwendige offene Reposition zeigt für den vorderen Zugang deutliche Vorteile in Bezug auf Repositionsqualität, Behandlung von Begleitverletzungen und Reduktion von Osteonekroseraten.