Verletzungen des Atlas

Die Frakturen des Atlas werden nach der Klassifikation von Gehweiler [4] in die Typen 1 bis 5 eingeteilt. Unterschieden werden vordere und hintere Atlasringfrakturen, kombinierte Ringfrakturen sowie Massa-lateralis- und Querfortsatzfrakturen (Abb. 1). Kombinierte Ringfrakturen können zudem ohne (Typ 3a) und mit (Typ 3b) Verletzung des Lig. transversum atlantis auftreten. Das Ligament reißt entweder oder es wird durch einen knöchernen Ausriss an seinem Ansatz indirekt verletzt. Nur die kombinierten Ringfrakturen vom Typ 3b sind als instabil anzusehen, weil sie eine Translation der tragenden Frakturteile ermöglichen.

Abb. 1
figure 1

Frakturtypen des Atlas nach Gehweiler

Diagnostik

Die translatorische Dislokation der Facetten wird als radiologisches Zeichen der Instabilität in a.-p.-Röntgenaufnahmen (Dens-axis-Zielaufnahme mit geöffnetem Mund) durch ein Auseinanderweichen der oberen Facettenanteile sichtbar (Abb. 2a, b). Eine Instabilität liegt vor, wenn die Summe des Überhangs an beiden Facettengelenken 9 mm übersteigt. Ein indirekter, aber nicht zuverlässiger Hinweis für eine Atlasverletzung kann eine Seitenabweichung des Dens axis von der Mittellinie sein. Da Röntgenaufnahmen allein jedoch in vielen Fällen die Instabilität nicht sicher nachweisen, ist die Anfertigung eines Computertomogramms (CT) bei Verletzungen der oberen Halswirbelsäule (HWS) immer obligat. Nur mit dem CT lässt sich der genaue Frakturverlauf darstellen (Abb. 2c). Die Ruptur des Lig. transversum bzw. sein knöcherner Ausriss kann zudem auch in einem axialen Magnetresonanztomogramm (MRT) dargestellt werden (Abb. 2d). Darüber hinaus eignet sich das MRT zum Detektieren von paraspinalen Hämatomen und Gefäßdissektionen sowie zur Beurteilung des Ausmaßes anderer Weichteilverletzungen. Sollte trotz Kombination dieser radiologischen Verfahren unklar bleiben, ob die vorliegende Verletzung instabil ist, eignen sich Funktionsaufnahmen zur weiteren Abklärung. Dabei gibt die unter kontinuierlicher Durchleuchtung passiv und dynamisch (also vom Untersucher) durchgeführte Flexions/Extensions- bzw. Beugeuntersuchung am besten Aufschluss über das Ausmaß der Instabilität. Bei neurologischen Defiziten, die auch isoliert die kaudalen Hirnnerven betreffen können, ist meist von einer instabilen Verletzung auszugehen.

Abb. 2
figure 2

Radiologische Befunde bei Atlasfraktur. a,b Bestimmung der translatorischen Dislokation der Facetten. c Computertomographische Darstellung der Morphologie. d Magnetresonanztomographische Darstellung eines Ausrisses des Lig. transversum atlantis

Therapie

Die Therapie der stabilen Atlasverletzung erfolgt konservativ durch Anlage einer HWS-Orthese (Philadelphia-Krawatte). Durch eine zu eng anliegende Orthese können Hautulzera entstehen, die schlimmstenfalls eine plastisch-chirurgische Deckung erfordern. Daher ist der passende Sitz der Orthese regelmäßig zu überprüfen. Umgekehrt wird eine zu locker angelegte oder zu große Orthese ihre ruhigstellende Wirkung nicht erfüllen, sodass die Ausheilung der Verletzung gefährdet ist. Stark dislozierte Typ-4- und Typ-3a-Frakturen können insbesondere bei jüngeren Patienten durch eine Ruhigstellung im Halofixateur über 6 bis 12 Wochen behandelt werden. Zur Beurteilung des Therapieerfolgs ist eine radiologische Verlaufskontrolle obligat. Um ein frühes Abrutschen der Fraktur auszuschließen, wird eine Röntgenaufnahme im a.-p.-Strahlengang nach 1 Woche durchgeführt. Ein Kontroll-CT wird für den Nachweis der knöchernen Ausheilung der Fraktur benötigt und erfolgt i.d.R. nach 6 bis 12 Wochen. Nach Ausheilung der Fraktur kann die Orthese abgenommen (meist „Abtrainieren“ über 1 bis 2 Wochen) und parallel eine muskelaufbauende Physiotherapie durchgeführt werden. Bei älteren Patienten, die eine schlechte Heilungstendenz besonders im Fall stärker dislozierter Frakturen aufweisen, ist u. U. eine operative definitive Versorgung erforderlich.

Instabile Verletzungen des Atlas müssen operativ stabilisiert werden. Dies lässt sich entweder durch eine knöcherne Fusion zwischen dem 1. und 2. Halswirbel oder durch eine direkte Atlasosteosynthese [2] erreichen. Bei der Osteosynthese werden 2 Massa-lateralis-Schrauben eingebracht und nach Reposition der Fraktur mit einem Querverbinder konnektiert (Abb. 3). Dies verhindert eine weitere translationale Dislokation. Für die Atlasosteosynthese wurden sowohl ein ventraler transoraler, ein dorsaler als auch ein kombinierter Zugang beschrieben, wobei das rein dorsale Vorgehen in unserer Klinik am häufigsten durchgeführt wird [3, 5, 6]. Vorteil der Atlasosteosynthese ist der Erhalt der Rotationsfähigkeit zwischen Atlas und Axis. Die Operationszeit ist im Vergleich zu den Fusionsverfahren kürzer, die Morbidität durch die Entnahme eines Beckenkammspans entfällt. Die Mobilisation der Patienten kann sofort postoperativ beginnen, die Patientenzufriedenheit ist groß, da die Belastbarkeit der versorgten Fraktur unmittelbar gegeben ist. Allerdings eignet sich das Verfahren nur, wenn das Lig. transversum mit seinem knöchernen Ansatz ausgesprengt und der knöcherne Ausriss zudem nicht stark disloziert ist (Gehweiler Typ 3b, Dickman Typ II [3], Abb. 3f). Durch eine zu starke Dislokation wird die korrekte Platzierung der Schraube erschwert, diese darf keinesfalls durch den Frakturspalt verlaufen, da dies eine adäquate Reposition verhindert. In diesen seltenen Fällen kann durch die Atlasosteosynthese ein knöchernes Anheilen des ausgesprengten Fragments erreicht werden. In allen anderen Fällen wird die Fusion von Atlas und Axis durchgeführt. Hierfür kommt die direkte transartikuläre beidseitige Verschraubung nach Magerl oder die C1-C2-Fusion nach Goel-Harms infrage (Abb. 4).

Abb. 3
figure 3

Atlasosteosynthese. a Röntgen- und b computertomographische Diagnostik bei gering dislozierter knöcherner Aussprengung des Lig. transversum atlantis bei einer C1-Fraktur. c Postoperative Röntgenaufnahmen. d,e CT-Darstellung der knöchernen Fusion 2 Monate und 6 Monate postoperativ. f Einteilung der Lig.-transversum-Verletzungen nach Dickman [3]

Abb. 4
figure 4

Operative Versorgung einer Atlasfraktur a nach Magerl, b nach Goel-Harms

Bei beiden Operationsverfahren wird die Fusion durch Anlagerung autologen Knochenmaterials (z. B. eines knöchernen trikortikalen Beckenkammspans) oder anderer osteoinduktiver bzw. -konduktiver Materialien herbeigeführt. Dies erfolgt in der Technik nach Magerl durch Anlagerung zwischen dem hinteren Atlasbogen und der Lamina des Axis, in der Technik nach Goel-Harms optional auch durch Eröffnung und Entknorpelung der Facettengelenke zwischen Atlas und Axis mit Einbringen des Materials. Die Fusion nach Magerl sieht aufgrund der gelenkübergreifenden Stabilisation mit Destruktion der Facettengelenke keine Implantatentfernung vor und sollte daher immer von einer Spondylodese begleitet werden. Dagegen ist die Implantatentfernung bei Verwendung der Technik nach Goel-Harms ausnahmsweise und besonders bei jüngeren Patienten zur Freigabe der atlantoaxialen Rotationsachse spätestens nach 6 Monaten möglich, wenn die knöcherne Ausheilung computertomographisch gesichert wurde. Eine „hochreitende“, d. h. weit kranial verlaufende A. vertebralis kann die Platzierung der Magerl-Schrauben verhindern. Bei der Technik nach Goel-Harms hingegen kann es zu venösen Blutungen aus dem Venenplexus zwischen C1 und C2 kommen. Diese lassen sich aber i.d.R. durch Tamponade stillen. Als Reserveoption kann sowohl bei geplanter Magerl- als auch Goel-Harms-Verschraubung auf eine okzipitoaxiale Stabilisation und Fusion zurückgegriffen werden.

Verletzungen des Dens axis

Frakturen des Dens axis werden nach der Einteilung von Anderson u. DʼAlonzo [1] klassifiziert (Abb. 5). Bei Typ-I-Frakturen ist der Apex des Dens frakturiert, i.d.R. ist die Fraktur als stabil anzusehen. Typ-II-Frakturen kommen am häufigsten vor und verlaufen durch die Densbasis, entweder horizontal oder von ventrokranial nach dorsokaudal oder von ventrokaudal nach dorsokranial. Die Ausrichtung der Frakturebene und ggf. auch deren Dislokation sind für die operative Behandlung entscheidend. Typ-III-Frakturen betreffen den Corpus des Axis.

Abb. 5
figure 5

Dens-axis-Frakturen in der Klassifikation nach Anderson u. D'Alonzo

Diagnostik

Zur Diagnose reichen meist Röntgenaufnahmen der HWS in 2 Ebenen. Allerdings ist zur Beurteilung des genauen Frakturverlaufs bei Typ-II- und Typ-III-Frakturen ein CT i.d.R. ergänzend erforderlich. Bei nicht oder gering dislozierten Typ-III-Frakturen ist oft zusätzlich eine passiv-dynamische Funktionsaufnahme notwendig, um die Instabilität zu dokumentieren.

Therapie

Die normalerweise stabile Typ-I-Fraktur wird konservativ, d. h. per Ruhigstellung in einer festen Zervikalorthese über 6 Wochen, behandelt.

Instabile Frakturen des Typs II und III werden operativ versorgt. Dabei ist die ventrale transdentale Schraubenosteosynthese das Standardverfahren (Abb. 6). Ausnahmen sind ein Frakturverlauf von ventrokaudal nach dorsokranial, da der Dens axis hier nicht mit der Schraube an den Corpus herangezogen werden kann, transdentale Luxationsfrakturen (Abb. 7) sowie Trümmer-, atypische und osteoporotische Frakturen. Das ventrale Ausbrechen der Schrauben ist die häufigste Komplikation der Dens-axis-Osteosynthese und die auch dadurch bedingte Pseudarthroserate nach standardisierter Verschraubung beträgt bis zu 20 % [8]. Die Lagerung des Patienten ist von großer Bedeutung, da hierbei zunächst die geschlossene Reposition der Fraktur in der Mayfield-Klemme erfolgt und anschließend die Trajektorie für das Einbringen der Schrauben ermittelt wird. Gelegentlich ist die direkte Verschraubung des Dens axis auch bei korrekter Lagerung des Patienten aufgrund seiner Physiognomie (Emphysemthorax, Kyphosen etc.) nicht möglich. Bei Typ-III-Frakturen ist die Größe des kaudalen Frakturfragments von entscheidender Bedeutung, denn ein kleines Fragment kann von ventral nicht hinreichend gefasst werden. In all diesen Fällen muss eine atlantoaxiale Spondylodese nach Magerl oder Goel-Harms erfolgen. Eine Ausnahme bilden osteoporotische Dens-axis-Frakturen Typ II. Hier kann bei geeignetem Frakturverlauf die häufig zu beobachtende Schraubenauswanderung nach ventral durch eine Zementaugmentation der Schrauben verhindert werden [7] (Abb. 8).

Abb. 6
figure 6

Transdentale Verschraubung mit 2 Kortikaliszugschrauben

Abb. 7
figure 7

Transdentale Luxationsfraktur a vor und b nach Reposition und operativer Stabilisation nach Goel-Harms mit autologem trikortikalen Beckenkammspan zwischen dorsalem Atlasbogen und C2-Lamina bei einer 74-jährigen Frau

Abb. 8
figure 8

Typ-II-Dens-axis-Fraktur bei einer 87-jährigen Patientin mit Osteoporose. a Präoperative Röntgennativ- und CT-Diagnostik. b CT nach Reposition und zementaugmentierter Dens-axis-Verschraubung. c Röntgenaufnahmen 20 Monate postoperativ mit knöcherner Ausheilung. (Mit freundl. Genehmigung des Thieme-Verlags)

Fazit für die Praxis

  • Stabile Atlas- und Dens-axis-Frakturen werden in einer Philadelphia-Orthese für 4 bis 6 Wochen ruhiggestellt.

  • Instabile Atlasfrakturen weisen ein translatorisches Abgleiten über die Facettengelenke von >9 mm auf und werden meist durch eine dorsale Spondylodese nach Magerl oder Goel-Harms operativ versorgt. Dabei wird die Rotationsmöglichkeit aufgehoben und der maximale Rotationsumfang der HWS erheblich reduziert. Bei jungen Patienten mit geringer Dislokation ist u. U. eine reine Atlasosteosynthese mit Erhalt der Rotation möglich.

  • Instabile Dens-axis-Frakturen werden standardmäßig über eine ventrale transdentale Verschraubung versorgt. Ausnahmen sind gerade bei älteren Patienten häufig, in diesen Fällen kommen ebenfalls die dorsalen Spondylodeseverfahren zum Einsatz. Alternativ kann eine zementaugmentierte transdentale Zugschraubenosteosynthese bei Patienten mit Osteoporose durchgeführt werden.