Definiert man die komplexe Handverletzung als eine Läsion, deren multistrukturelle Schädigungen eine strategische operative Vorgehensweise verlangen [6], kann die Forderung eines strukturierten Ablaufs gleichermaßen auf die nichtoperativen therapeutischen Interventionen transferiert werden.

Abb. 1
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Frühfunktionelle Übungsbehandlung

Als Grundsatz gilt, dass eine Kombination erforderlicher Ruhigstellung mit einer frühstmöglichen Mobilisation (Abb. 1) betroffener anatomischer Strukturen geeignet ist, Sekundärproblematiken zu verhindern. Aber was stellt sich als eine solche mögliche Problematik dar und führt dazu, den Begriff komplex aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten?

  • Ist es eine zu lang immobilisierte MHK-Fraktur (MHK: Mittelhandknochen), deren Funktionsverlust aufwendige therapeutische Schritte nach sich zieht?

  • Ist es die Verletzung einzelner Finger, die zunächst nicht als komplexe Verletzung zu bezeichnen ist, aber erhebliche Auswirkungen auf die Teilhabe einer Person haben kann?

  • Sind es Verläufe, kombiniert mit Schmerzproblematik, Infekt, posttraumatischem Belastungssyndrom oder Ähnlichem, die das gesamte Team vor eine Herausforderung stellen?

Da – wissenschaftlich bewiesen – kein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß betroffener anatomischer Strukturen und dem Outcome eines Patienten besteht, kann – befreit vom Druck einer adäquaten Definition des Begriffs komplex – sofort auf unsere ergotherapeutische Vorgehensweise in der BG-Unfallklinik (BG: Berufsgenossenschaft) Ludwigshafen eingegangen werden.

Basierend auf den Grundlagen der ICF („International Classification of Functioning, Disability and Health“, [7]) widmet sich ein Großteil unserer Standardinterventionen den Bereichen der Strukturschäden und Funktionseinbußen – Verfahren, die im normalen Rehabilitationsprozess durchaus parallel laufen, sich bei der multistrukturellen Verletzung in der Regel jedoch aufwendiger und zeitlich intensiver gestalten. Ungeachtet einer spezifischen Einzeldiagnose wird entscheidend sein, wann welche Verfahren ins Gesamttherapiekonzept einbezogen werden – dieses wird unmittelbar die Art und die Intensität der Vorgehensweise diktieren.

Schienenherstellung

Als initiale und unterstützende Maßnahme ist die Herstellung thermoplastischer Schienen geeignet, prophylaktischen Aspekten der Vermeidung sekundärer Fehlstellungen, Muskeldysbalancen und möglicher Kontrakturen der unterschiedlichsten Genese gerecht zu werden.

Um den optimalen Spannungsverhältnissen der Haupt- und akzessorischen Kollateralbänder der Grund- und Mittelgelenke gerecht zu werden ist die Intrinsic-Plus-Stellung das Mittel der Wahl. Eine Abweichung von diesem Design ergibt sich bei entsprechender Art der chirurgischen Versorgung, wie der Naht der Strecksehnen mit gleichzeitiger Weichteilrekonstruktion oder der sukzessiven Aufdehnung eines Handgelenks aufgrund der vaskulären Situation.

Soweit es die Verletzung erlaubt, strebt man nach heutigen Erkenntnissen eine minimal gelenkübergreifende Ruhigstellung an. Dabei sind wie bei der chirurgischen Vorgehensweise Kreativität und das handwerkliche Geschick des Therapeuten gefordert. Die Kombination von Beuge- oder Strecksehnennaht mit Versorgungsmaßnahmen an anderen betroffenen anatomischen Strukturen spricht nicht grundsätzlich gegen eine frühfunktionelle Behandlung, erfordert in der Regel jedoch die Adaptation des Nachbehandlungsregimes.

Abb. 2
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Strecklagerungsschiene

Verfahren tagsüber praktizierter Mobilisation erhalten ihre sinnvolle Unterstützung oft erst in der behandlungsfreien Zeit des Patienten oder zur nächtlichen Applikation (Abb. 2), denn es ist bekannt, dass die therapeutische Intervention nicht über 24 h wirksam sein kann.

Abb. 3
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Dynamische Beugeschiene für die Mittelgelenke

Das Spektrum korrektiv-dynamischer Schienen (Abb. 3) ist bei der Versorgung komplexer Handverletzungen vielfältig. Ihr Wirkungsmechanismus beruht auf einer leichten prolongierenden Spannung, die eine Ausrichtung und Angleichung betroffener Strukturen zur Folge hat. Bei mäßigem, aber konstantem Dauerzug werden vernetzte kollagene Faserbündel und Fibroblasten in der Längsstruktur am besten parallel zur angewendeten Kraft ausgerichtet und in der Folge gegeneinander verschoben. Sind diese Prinzipien erkannt, kann bereits nach Abklingen der entzündlichen Phase an den Einsatz derartiger Schienen gedacht werden.

Abb. 4
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Zustand nach Radialisparese

Abb. 5
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Radialisersatzschiene

Erfordern der Ausfall oder die Naht der peripheren Nerven Unterstützung, ermöglichen die sog. Ersatzschienen funktionelle Bewegungsabläufe im aktiven Nachbehandlungsprozess, z. B. bei Radialisparese, Ulnarisläsion und beim Ausfall der Opponensfähigkeit (Abb. 4, Abb. 5).

Narbenbehandlung

Eng verknüpft mit den Prinzipien der Dehnung kommt der Narbenbehandlung eine besondere Bedeutung zu – zumal in der reparativen Phase der Wundheilung und Reifung einer Narbe bewegungseinschränkendes und limitierendes Gewebe mit funktionellen Einbußen einhergeht [5, 11].

Hierfür werden verschiedene Methoden werden als geeignet angesehen: Exakt angemessene Kompressionsbandagen führen zu einer deutlichen Verbesserung der Höhenangleichung und Verschieblichkeit einer Narbe, während sie bei Weichteilrekonstruktionen oder bei Stumpfbildung eine gewisse Konturierung zur Folge haben. Konkavareale können zudem mit Druckpelotten kombiniert werden.

Je nach Lokalisation und Art der Narbenareale kommen Silikonprodukte als Pflaster, gelgefütterte Bandagen oder als Zweikomponentenmaterial mit guter rückfettender und redressierender Wirkung zum Einsatz. Ein chemischer Effekt, die Hydratation, der Okklusivabschluss oder die Temperatur werden als mögliche Wirkungsweise diskutiert.

Ödemprophylaxe/-behandlung

Standardverfahren der Ödemprophylaxe sollten wie die Maßnahmen der Ödembehandlung als obligat betrachtet werden, will man Bewegungseinschränkungen und einen möglichen Circulus vitiosus verhindern.

Die Volumenmessung vor und nach der Therapie erweist sich als nützliches Instrument der Erfolgsdokumentation ausgewählter therapeutischer Medien.

Motorisch-funktionelles Übungsprogramm

Leider ist es im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht möglich, das gesamte Spektrum unserer Möglichkeiten darzulegen, deshalb soll das motorisch-funktionelle Übungsprogramm (Abb. 6) nur flankierend beleuchtet werden. Es erfolgt analog zu den in Rahmen der Evaluation ermittelten Defizite und unter Berücksichtigung der aktuellen Belastbarkeit der anatomischen Strukturen. Aufgrund dieser Anpassungen an den individuellen Status des Patienten gestaltet es sich sehr unterschiedlich, aber es ist sicher unsere therapeutische Aufgabe, funktionell zu trainierende Defizite mit der Motivation des Patienten zu verbinden.

Abb. 6
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Motorisch-funktionelles Übungsprogramm

Je nach vorliegendem Verletzungsmuster oder Heilverlauf stellt das Wiedererlangen von Greifformen einen wesentlichen Aspekt in der Schulung des Patienten dar, wobei ergotherapeutische Maßnahmen fast immer mit einem zielgerichteten Bewegungsauftrag für die entsprechende Extremität verbunden sind.

Resultiert aus der Verletzung eine Amputation des Daumens als Gegenhalt zur Mobilisation der Langfinger, kann die Herstellung einer Gegengreifschiene – als Testmodell für die spätere Umsetzung durch die Orthopädietechnik – sinnvoll sein.

Sind durch die Verletzung mehrere Gelenke und Bewegungsrichtungen betroffen, sind verschiedenste therapeutische Hilfsmittel gefragt. Zudem ist zu betonen, dass angrenzende Gelenke der Aufmerksamkeit nicht entgehen dürfen – weisen doch viele handverletzte Patienten relativ schnell eine Einschränkung der Schulterbewegung, eine allgemeine Dekonditionierung, aber auch Überlastungssyndrome der gesamten oberen Extremität auf.

Sensibilitätstraining

Sein sinnvoller Einsatz nach Verletzung peripherer Nerven terminiert sich nach heutigen Erkenntnissen weit früher als vor Dekaden angenommen, denn es handelt sich nicht nur um ein peripheres, sondern auch ein zentrales Problem [9, 10, 12, 13, 14].

Um zu vermeiden, dass Patienten die Erkennung ihrer Lateralität verlieren, ist das „graded motor imagery programme“ geeignet, die Präsenz der Hand auf Hirnniveau zu erhalten bzw. wieder auszuprägen. In einem weiteren Schritt geht es darum, sich eine Bewegung vorzustellen, ohne sie aktiv auszuführen. Denn bei etwa 25% der Neuronen in unserem Gehirn handelt es sich um Spiegelneuronen, die aktiviert werden, wenn man eine Bewegung sieht oder sich vorstellt, diese durchzuführen. Den dritten Teil des Programms nimmt die Spiegeltherapie ein, bei der der Patient die Illusion einer gesunden, normal beweglichen Extremität erfährt (Abb. 7). Sowohl die Integration aktiver Bewegungsübungen als auch der sensorische Input runden das Programm ab.

Die Wirksamkeit dieser Vorgehensweise konnte durch wissenschaftlichen Nachweis der kortikalen Plastizität erbracht werden.

Später – in der Zeit der Regeneration und Entwicklung einer neuen Sensibilität – muss gelernt werden, diese zu interpretieren, was über die Erkennung von Gegenständen oder Texturen ohne Sichtkontakt erfolgt und in das Training aufgenommen wird.

Abb. 7
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Spiegeltherapie

Demgegenüber steht die hypersensible Hand, die durch oder beim Unfall entsteht; im Gegensatz zu dem eher generalisierten Schmerz einer CRPS („complex regional pain syndrome“) oder beim Schulter-Arm-Syndrom [1].

Die Art des Traumas setzt somit Folgeproblematiken (Quetschung, Zerrung, Zerreißung), die durch ein gezieltes Programm, das in seiner Beschaffenheit unterschiedliche Materialien, Druckstäbe und Vibration dreistufiger Frequenzzahl einsetzt, berücksichtigt werden. Das Vorgehen des Programms ist standardisiert, folgt jedoch der Toleranzhierarchie des Patienten auf die unterschiedlichen Stimuli.

Selbsthilfetraining

Die funktionale Ebene der bislang gezeigten Standardinterventionen in den Bereichen Strukturschaden und Funktionseinbuße wird bei Maßnahmen im Bereich der Beeinträchtigungen der Aktivitäten verlassen [3, 7]. Die für den Einzelnen essenziellen Aspekte des täglichen Lebens werden im Rahmen des Selbsthilfetrainings angegangen, ggf. notwendige Hilfsmittel werden hergestellt oder adaptiert (Abb. 8).

Abb. 8
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Hilfsmittelversorgung bei Teilamputation der Langfinger

Übergangsweise kann ein Patient mit komplexer Handverletzung durchaus als Einhänder betrachtet werden und eine Interimsversorgung erforderlich machen.

Welche Priorität die einzelnen Aspekte der Teilhabe für den Patienten haben, legt dieser richtungsweisend in Art und Umfang der erforderlichen Hilfsmittel fest.

Belastungstraining

Abb. 9
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Belastungstraining

Analog zu den Fortschritten des einzelnen Patienten und in Anlehnung an die in der Evaluation ermittelten Werte erfolgt eine Steigerung therapeutischer Aktivitäten zur Verbesserung eingeschränkter Bewegungsfunktionen und zur Maximierung der Muskelkraft der gesamten oberen Extremität (Abb. 9). Die mit den Techniken verbunden Bewegungsketten fordern neben Koordination und Kontrolle zunehmende muskuläre Ausdauer und ermöglichen das Training ggf. erforderlicher Kompensationsbewegungen. In diesem Zusammenhang kommen durchaus auch Maschinen und andere Arbeitsmittel zum Einsatz, die hinsichtlich der Toleranz gegen Vibration oder Erschütterung vielen Patienten nicht nur mit Verletzungen der Handwurzel Schwierigkeiten bereiten und einer gewissen Rekonditionierung bedürfen. Auch können hier Aspekte der allgemeinen beruflichen Beanspruchung einbezogen werden (Abb. 10).

Abb. 10
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Aspekte beruflicher Wiedereingliederung

Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation (MBO)

Im Hinblick auf den Beitrag von Dr. Kohler [8] zur medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation in diesem Heft ist bezüglich der komplexen Handverletzungen eine Beschränkung auf folgende Aussage möglich:

Wie immer sich die Problemlage stellt und welche Lösungen gefunden werden, ist die MBO geeignet, die Arbeitsanforderungen mit Realitätsbezug gezielt zu trainieren und – neben möglichen Grenzen – auch ein positives Leistungsbild erstellen zu können.

In Absprache mit den Fachkräften der beruflichen Reintegration werden ggf. erforderliche Adaptationen am Arbeitsgerät initiiert, sodass die Arbeitsabläufe optimiert werden können.

Evaluation

Die Dokumentation – als wesentlicher Bestandteil der Erfolgskontrolle und normalerweise jeder therapeutischen Intervention vorgeschaltet – liefert mit einer Palette von Assessmentverfahren objektive Daten [2, 4].

Routineverfahren – wie die Winkel- oder Kraftmessung – können durch den Cambridge-Handfunktionstest ergänzt werden, der hinsichtlich Koordination und Geschicklichkeit wertvolle Angaben liefert, während die Semmes-Weinstein-Monofilamente exakte Auskunft über vorhandene Schutz- oder Asensibilität geben.

Mit als wichtigstes Instrument betrachten wir den DASH-Fragebogen (DASH: „disabilities of the arm, shoulder and hand“), mit dessen Hilfe die Patientenziele generiert werden können.

So ergeben sich – wie in diesem Fall einer multiplen Handverletzung – eine klare Zielsetzung hinsichtlich der Verbesserung der Funktionseinbußen ebenso wie die Festlegung dessen, was der Patient zu Aktivitäten und Teilhabe formuliert.

Fazit für die Praxis

Die ergotherapeutischen Interventionen umfassen Maßnahmen, die der Funktionsverbesserung dienen, während die der Aktivitäten und Teilhabe in besonderem Maß das Outcome des Patienten beeinflussen.

Der vorliegende Beitrag ist als unsere Vorgehensweise im Rehabilitationsprozess zu betrachten, in welchem der Patient im Mittelpunkt steht.