Lage der Notfallmedizin in Deutschland – anstehender Paradigmenwechsel

Auf dem Gebiet der Notfallmedizin in Deutschland findet derzeit ein Wandel statt. Die Zahl der Notfallpatienten in Krankenhäusern steigt kontinuierlich und in vielen Regionen dramatisch, bedingt durch den demografischen Wandel und die Umstrukturierungen der kassenärztlichen Notfallversorgung.

Unter dem Titel „Zentral und interdisziplinär“ stellte eine Gruppe von Experten der Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin, Deutsche Gesellschaft für Chirurgie) im Deutschen Ärzteblatt vom 19.02.2010 ihren „Konsensus“ über „die inhaltliche Ausrichtung einer zentralen Notaufnahme“ zur Diskussion, und bezog damit zu dem historischen Wandel in der Notfallmedizin Stellung [4]. Auf diese Veröffentlichung hin verfasste die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfallaufnahme (DGINA e.V.) eine Stellungnahme [3], die die inhaltliche Grundlage des aktuellen Beitrags darstellt.

An frühere Stellungnahmen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin und der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (November 2006, [2]) anknüpfend wurde in dem Konsensuspapier [4] erstmals die Realität interdisziplinärer Notaufnahmen und Aufnahmestationen akzeptiert, zentraler Anlaufpunkt für alle Notfallpatienten zu sein. Eine fachlich-räumliche Trennung wird nicht mehr gefordert, sondern eine organisatorische Zusammenfassung anerkannt. Auf diesem Wege wird nachträglich autorisiert, was die normative Kraft des Faktischen trotz der früheren Widerstände bereits an vielen Orten zur Umsetzung gebracht hat. Das Konsensuspapier wurde unter bewusster Auslassung der DGINA e.V. als Fachgesellschaft der in der Notaufnahme Tätigen erstellt. Dieser Umstand gibt den Autoren die Möglichkeit, als Vertreter der DGINA zu den fachlichen Inhalten des Konsensuspapiers unbefangen Stellung zu nehmen.

Die DGINA e.V. wurde im Bewusstsein der besonderen Verantwortung für die Weiterentwicklung einer professionellen Notfallmedizin auch in deutschen Notaufnahmen, die internationalen Maßstäben genügt, als fachliches Forum für in der Notaufnahme arbeitende Ärzte/-innen und Pflegekräfte 2005 gegründet. Seit dieser Zeit hat sich der kleine Gründungskreis von 9 Kliniken ebenso erweitert wie die Anzahl an eigenständigen zentralen Notaufnahmen gestiegen ist. Gegenwärtig ist die DGINA das Sprachrohr von annähernd 100 zentralen Notaufnahmen in Deutschland.

Effiziente Notfallversorgung durch zentrale Notaufnahmen

Die herkömmlichen „Aufnahme-Ambulanzen“ des Krankenhauses mit ihren an der Einweisungsdiagnose orientierten Prozessen stoßen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Nur als „Notfallzentrum“, d. h. als kompetenter Ansprechpartner für alle „ungeplanten“ Patientenkontakte des Klinikums in der Organisationsform der Zentralen Notaufnahme (ZNA), werden sie den Ansprüchen des Gesetzgebers und der Gesellschaft gerecht. Um ein medizinisch optimales Behandlungsergebnis zu erreichen und den ökonomischen Gegebenheiten knapper Ressourcen gerecht zu werden, müssen diese Patienten sehr effizient versorgt werden. Oft werden 50–60% der stationären Patienten eines Krankenhauses über die Notaufnahme aufgenommen, hier findet innerhalb kurzer Zeit eine initiale Diagnostik statt, und es werden die Weichen für eine erfolgreiche Therapie gestellt. Somit stehen die ZNA und die dort arbeitenden Berufsgruppen in besonderer Verantwortung. Ihre Leistung ist immer ein spezifisches Qualitätsmerkmal eines Krankenhauses, das auch von der Öffentlichkeit besonders wahrgenommen wird.

Verbunden mit der Einrichtung zentraler Räumlichkeiten für die Notfallversorgung stellt sich die Frage, ob und wie die notwendige Interdisziplinarität effektiv organisiert werden kann und wer in dieser Struktur die medizinische Verantwortung zu übernehmen hat. In vielen Kliniken stellte sich heraus, dass die räumliche Gemeinsamkeit alleine nicht genügt, einen Interdisziplinarität zwingend erfordernden Behandlungsablauf reibungsfrei zu gestalten. Dies trifft insbesondere auf die Großkliniken zu, in denen viele Fachdisziplinen an der Notfallversorgung beteiligt sind.

Primäre Fachspezifität – optimale Notfallversorgung?

Angelsächsische Modelle des „emergency department“ konnten überzeugend darlegen, wie wichtig eine straff organisierte Notfallversorgung für das Überleben der Patienten ist. Als Konsens in allen europäischen Notfallfachgesellschaften gilt, dass es nicht Aufgabe von in der Notaufnahme beschäftigten Ärzten ist, Patienten von der ihnen zustehenden fachspezifischen Behandlung fernzuhalten, sondern diese in gebotener Geschwindigkeit zu ermöglichen. In dieser Beurteilung stimmen Gries et al. [4] in ihrem Konsensuspapier mit dem Vorstand der DGINA überein. Dazu ist es erforderlich, eine diagnostische Klärung zu erreichen und bei der zunehmenden Zahl multimorbider Patienten abzuwägen, welches Gesundheitsproblem primär bzw. dringlich zu behandeln ist und welche begleitenden Gesundheitseinschränkungen besondere Risiken beinhalten.

Die Forderung, dass ein Patient fachbezogen und nach Facharztstandard durch die jeweilige Fachabteilung in der Notaufnahme behandelt werden soll, ist mit der Wirklichkeit des Krankenhausalltags nicht vereinbar. Einerseits werden viele Notaufnahmen außerhalb der Dienstzeiten der kassenärztlichen Notfallversorgung als Anlaufpraxen genutzt, in denen eine allgemeinärztliche Qualifikation erforderlich ist. Bei der geforderten alleinigen Präsenz von Teilgebietsfachärzten finden aufgrund der spezialisierten Weiterbildungsinhalte der Fachabteilungen bis zu 30% der Patienten in der ZNA keinen zuständigen Arzt. Erfahrungsgemäß ist nur ein kleinerer Teil von Patienten einer Notaufnahme prima vista mit einer klaren fachspezifischen Diagnose zu versehen und unmittelbar einem Spezialgebiet zuzuordnen. Auch aus ökonomischen Erwägungen ist die Vorhaltung von Fachärzten aller versorgungspflichtigen Fachabteilungen eines Klinikums in der ZNA nicht sinnvoll.

Bei allen mit einem oder mehreren Leitsymptomen vorstelligen Notfallpatienten in der ZNA ist es Aufgabe des Notfallmediziners, neben der wahrscheinlichsten Diagnose alternative, gefährliche Differenzialdiagnosen rasch herauszufiltern und zeitgerecht der richtigen fachspezifischen Behandlung zuzuführen. Der Ansatz der gleichzeitigen anstatt einer sequenziellen Diagnostik erfordert primär eine breite berufliche Ausbildung und Erfahrung sowie fach- und organübergreifendes Denken.

Bedrohliche Fehler in einer Notaufnahme entstehen besonders dann, wenn frühzeitig ein Symptom fälschlich auf die häufigste fachspezifische Differenzialdiagnose zurückgeführt wird, ohne alternative risikobehaftete Diagnosen anderer Fachgebiete erwogen zu haben. Daher ist es zwingend notwendig, Ärzte/-innen in der Notaufnahme besonders auf die Kardinaltugenden einer „generalistischen“ Akutdiagnostik und der Risikostratifizierung von Erkrankungen hin auszurichten. Nur so kann das Ziel erreicht werden, zeitkritische und lebensgefährliche Krankheitsbilder auszuschließen bzw. zu verifizieren, ohne dabei die parallel notwendige Initialtherapie zur primären Stabilisierung zu vernachlässigen.

Die Spezialisten der in den Krankenhäusern vertretenen Fachabteilungen sind in der Regel außerhalb der Notaufnahme mit Aufgaben beschäftigt, die ihrer Spezialisierung innerhalb der stationären Patientenversorgung dringender bedürfen, sodass eine unverzügliche Vorstellung ohne eindeutig zugeordnete Diagnose illusorisch ist. Es ist im Gegenteil eine der Aufgaben der Notaufnahme, Patientenströme so zu lenken, dass nur der Patient hochspezifische Leistungen erhält, der diese aufgrund der Art und Schwere der Diagnose auch benötigt. Es ist weder ökonomisch sinnvoll noch medizinisch-fachlich geboten, für jede in der DRG-Betrachtung (DRG: „diagnosis related groups“) letztendlich fachspezifische Diagnose die jeweiligen Fachkollegen zu Abklärung der Frage hinzuzuziehen, ob eine stationäre Aufnahme notwendig ist oder nicht. Vielmehr ist von kompetenten Notfallmedizinern in einer Notaufnahme zu erwarten, dass sie die Indikation zu einer stationären Aufnahme stellen können und den Patienten dann unverzüglich und korrekt den Fachabteilungen zuführen.

Auf keinen Fall kann eine effiziente Notfallmedizin sich darauf beschränken, den Akutpatienten an den jeweils am besten geeigneten Spezialisten zu vermitteln, statt verantwortlich in den Behandlungsprozess bis zu Klärung der Diagnose und Einleitung einer optimalen Therapie einzugreifen. Ein Notfallmediziner mit ausschließlich organisatorischem Mandat, wie von den Fachgesellschaften gewünscht, der keine breite medizinische Kompetenz für die in der Notaufnahme zu behandelnden Notfälle hat bzw. ausüben darf, ist ein „Papiertiger“, der sich zudem haftungsrechtlich in einer ausgesprochen unsicheren Beweislage befindet [5].

Professionalisierte „innerklinische“ Notfallmedizin in Deutschland

Für den Vorstand der DGINA steht fest, dass eine profunde Ausbildung in der Notfallmedizin weit über die präklinische Notfallmedizin herausreicht, indem sie relevante notfallmedizinische Kenntnisse der „großen“ Fachdisziplinen Chirurgie, Innere Medizin, Neurologie und Unfallchirurgie einbezieht und zusammenfasst. Fächer wie Pädiatrie, Frauenheilkunde, Urologie und Psychiatrie werden in Deutschland Sondergebiete bleiben, deren Notfallorganisation von der spezifischen lokalen Versorgungssituation abhängt. Allerdings würde eine professionalisierte Notfallmedizin nach internationalem Vorbild bei der Versorgung von Patienten aus diesen Fachgebieten in Krankenhäusern ohne die entsprechenden Fachabteilungen ebenfalls zu einer verbesserten Grundversorgung beitragen.

Unsere empirisch gut begründete Position konterkariert die in dem Statement der Fachgesellschaften im Ärzteblatt dargestellte Meinung der Sprecher dieser Fachgesellschaften [4]. So sei die heutige fachliche Qualifikation in Notfallmedizin in Deutschland ausreichend, weil

„Die fachspezifische Notfallversorgung fester Bestandteil einer jeden Facharztweiterbildung und fachspezifischer Fortbildungsprogramme“ [4]

sei. Diese Aussage lässt sich anhand der aktuellen Weiterbildungsordnungen und -richtlinien nicht belegen und ist faktisch falsch. Lediglich die chirurgischen Fächer fordern in ihrem „common trunk“ zwingend ein halbes Jahr vollzeitige Weiterbildung in der Notaufnahme. Für die Erlangung eines internistischen Facharztes ist eine Ausbildung im Bereich der Notaufnahme anrechenbar, aber nur optional erforderlich. Die Weiterbildungsinhalte der Anästhesiologie sehen nicht einmal vor, dass die erforderlichen Kenntnisse der Diagnostik und Therapie notfallmedizinisch relevanter Erkrankungen in den jeweils fachlich zuständigen Bereichen der Krankenversorgung erlernt werden müssen.

Der 80-stündige „Fachkunde“-Kurs, der zur Erlangung der Zusatzweiterbildung Notfallmedizin für den präklinischen Bereich vorausgesetzt wird, wurde in früheren Expertenstatements als „common trunk“ der klinischen Notfallmedizin in Erwägung gezogen. Er bildet die Anforderungen einer hochkompetenten innerklinischen Notfallmedizin an den Noch-nicht-Facharzt in keiner Weise ab.

Die Weiterbildungsordnungen für die meisten am Krankenhaus vertretenen Fachdisziplinen sind diagnoseorientiert und auf Organsysteme bzw. Körperregionen fokussiert. Sie setzen die symptombezogene Notfallversorgung voraus, geben aber keinerlei Anleitung hierfür. Auch wenn alle diagnostisch und therapeutisch tätigen medizinischen Fachdisziplinen notfallmedizinische Kenntnisse in den sie betreffenden Krankheitsbildern wissenschaftlich und praktisch sicherstellen, verfügt keine für sich allein über die notwendige Breite der medizinischen Kenntnisse, die der Alltag in einer Notaufnahme in optimaler Weise erforderlich macht.

Zusätzlich besteht in Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung immer wieder die Notwendigkeit, auch Notfälle aus nicht am Haus vertretenen Fachdisziplinen medizinisch fachgerecht erstzuversorgen. Die hierfür benötigte Kompetenz wird derzeit in Deutschland in keiner Weise strukturiert weitergebildet. Weiterbildungsinhalte, die die sehr spezifischen Anforderungen an Notaufnahmen wie das Schnittstellenmanagement, die migrantenspezifische Medizin, den Massenanfall von Verletzten, die Grippepandemie usw. abbilden, fehlen in der Musterweiterbildungsordnung komplett.

Curriculum für die klinische Weiterbildung in der Notfallmedizin

In Konsequenz seiner empirisch fundierten Argumentation stellte der Vorstand der DGINA bereits 2006 fest, dass wir in Deutschland keine strukturierte Weiterbildung für zahlreiche, wesentliche medizinische Handlungsfelder einer Notaufnahme besitzen.

Die DGINA als Fachgesellschaft der in der Notaufnahme Tätigen machte daher bereits im Jahr 2006 dringenden Regelungsbedarf publik und ergriff mit dem Antrag auf die Einführung des Facharztes für Notfallmedizin bei der Deutschen Bundesärztekammer die entscheidende Initiative für eine Zustandsverbesserung. Dieser Antrag wird dem Deutschen Ärztetag voraussichtlich im Jahr 2010 zur Entscheidung vorgelegt.

In der Folge dieses Antrags wurden innerhalb der großen, an der Notfallversorgung traditionell beteiligten Fachdisziplinen Unmut und Widerspruch laut, verbunden mit beträchtlichen Befürchtungen, den gebührenden Einfluss in der Notfallversorgung zu verlieren. Diese Besorgnisse sind aus Sicht der DGINA unbegründet. Es sollen keinesfalls die Fachgesellschaften geschwächt werden, vielmehr ist es unser erklärtes Ziel, die Ausbildung in der Notfallmedizin auch in Deutschland auf ein hochprofessionelles, internationales Niveau zu heben. Nur dadurch können die in wachsender Zahl gegründeten ZNA bundesweit sichere Anlaufstellen für die steigende Zahl der ZNA-Patienten werden. Nur so wird die ZNA auch als langjähriger Arbeitsplatz für ärztliche Kollegen attraktiv gestaltet werden. Im Sinne eines „Kollateral-Nutzens“ würde die Weiterbildungsordnung durch die von uns vorgeschlagene Änderung mit den europäischen Ausbildungscurricula in der Notfallmedizin harmonisiert werden, womit auch eine Rückkehr der vielen, jetzt im Ausland arbeitenden Notfallmediziner ins deutsche Gesundheitswesen möglich wäre (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Entwicklung der Notfallmedizin als eigenständiges Fachgebiet in Europa

Vorbild für eine strukturierte Ausbildung in der Notfallmedizin ist das Europäische Curriculum zur Ausbildung zum Notfallmediziner, das die DGINA innerhalb der European Society of Emergency (EuSEM) mitgestaltete und das alle europäischen notfallmedizinischen Fachvertretungen konsentierten. Dieses Curriculum bildet eine exzellente inhaltliche Ausgangsbasis, von der aus die grundlegenden medizinischen Ausbildungsinhalte für jede notfallmedizinische Tätigkeit in Deutschland erarbeitet werden können. Seit April dieses Jahres liegt eine von der DGINA autorisierte deutsche Übersetzung des EuSEM Curriculums für Notfallmedizin vor, die allen Interessierten gerne zur Verfügung gestellt wird [3]. Es ist das vordringliche Ziel der DGINA, die im Curriculum beschriebenen Kompetenzen in den Notaufnahmen Deutschlands zu etablieren. Dieses Ziel werden wir mit großer Dringlichkeit vertreten, unabhängig davon, wie diese Qualifikation dann zu benennen ist.

Fazit

Mit der von der DGINA vorgeschlagenen Priorisierung der Maßnahmen wird sich ein guter Weg finden lassen, die gesundheitspolitischen Potenziale der neuen Struktur Zentrale Notaufnahme zu fördern. Damit scheint auch die Problematik unzureichend genutzter Leistungsreserven in der Notfallversorgung der Krankenhäuser lösbar. Wird die Notwendigkeit der operativen und strategischen Exzellenz in dem lebensentscheidenden Bereich eines Krankenhauses betont, wird eine verstärkte Orientierung auf die Potenziale, die Prozesse und die Ergebnisse einer solchen Einrichtung möglich werden.

Aus Sicht der DGINA e.V. sollten alle beteiligten Fachdisziplinen unter der inhaltlichen Vorgabe des EuSEM-Curriculums einen tragfähigen und zukunftsweisenden Weg erarbeiten, um die überfällige Professionalisierung der Notfallmedizin in Deutschland zu realisieren.