Algorithmus des Verwaltungsverfahrens

Nach Auswertung der wissenschaftlichen Erkenntnisse hat der beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales gebildete Ärztliche Sachverständigenbeirat [1] eine wissenschaftliche Empfehlung zu

„Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt 1 Stunde pro Schicht“

als neue Berufskrankheit bekanntgegeben. Es folgte im Dezember 2008 ein Referentenentwurf zur Änderung der Berufskrankheitenverordnung (BKV), mit dem die Berufskrankheit (BK) Gonarthrose mit unverändertem Wortlaut als Berufskrankheit Nr. 2112 zu berücksichtigen ist. Zum Zeitpunkt der Beitragserstellung war die Änderung der BKV noch nicht erfolgt.

Die Unfallversicherungsträger haben über BK-Meldungen zu entscheiden, auch wenn, wie bei der BK Gonarthrose, eine intensive wissenschaftliche Diskussion stattfindet. Zur Klärung offener Fragen wurden von Seiten der DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung) mehrere Forschungsvorhaben initiiert, parallel dazu wurde für die Bearbeitung der gemeldeten BK-Gonarthrose-Fälle eine prozessorientierte Handlungsrichtlinie in Form eines Workflow entwickelt. Dieser Workflow soll eine einheitliche Bearbeitungspraxis bei den Unfallversicherungsträgern sicherstellen. Hierauf soll nachfolgend eingegangen werden.

Ausgangssituation

Mit der Bekanntgabe der wissenschaftlichen Begründung [1] wurde die generelle Geeignetheit Knie belastender Tätigkeiten zur Verursachung einer Gonarthrose anerkannt. Die Frage der Abgrenzung zwischen beruflicher und außerberuflicher Verursachung stellt sich daher nur noch im Einzelfall auf der Grundlage der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Berufskrankheit. Dies bedeutet, dass auf der Grundlage eines generellen Erkenntnisstandes auf individueller Ebene eine Entscheidung herbeizuführen ist, indem die Knie belastenden Tätigkeiten festgestellt, der Gesundheitsschaden einer Gonarthrose gesichert und die wesentliche Kausalität für diesen festgestellt werden [5]. Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze stellen das Gerüst des Workflows dar.

Workflow zur BK Gonarthrose

Der mit Unterstützung mehrerer Unfallversicherungsträger gemeinsam entwickelte und in den Gremien der DGUV vorgestellte Workflow soll die Sachbearbeiter bei der Bearbeitung der Berufskrankheit Gonarthrose unterstützen. Er zielt auf die Durchführung eines einheitlichen und effizienten Verwaltungsverfahrens sowie die beschleunigte Feststellung von Leistungen ab. Er stellt alle für eine Fallbearbeitung relevanten Informationen, die jeweils unterstützenden Links und die entsprechenden Formtexte zur Verfügung.

Die Weiterentwicklung des Workflows wird in einem dynamischen Prozess erfolgen, in welchem die jeweils aktuellen Erkenntnisse zu rechtlichen und medizinischen Fragestellungen zeitnah eingearbeitet werden.

Erstbearbeitungsschritte

Abb. 1 zeigt die wesentlichen Erstbearbeitungsschritte auf, die üblicherweise anfallen und in dieser Form auch bei einer Vielzahl von anderen Berufskrankheiten praktiziert werden. Besonders hervorzuheben ist die empfohlene frühzeitige Kontaktaufnahme zum Versicherten, um dessen Interessen und Bedürfnisse festzustellen. Gleichzeitig wird dem Unfallversicherungsträger die Möglichkeit eröffnet, sich als Ansprechpartner vorzustellen.

Abb. 1
figure 1

Wesentliche Erstbearbeitungsschritte im Workflow BK Gonarthrose, BKDOK Dokumentation des Berufskrankheitengeschehens in Deutschland, UV Unfallversicherung, VbgBK Vereinbarung über die Zuständigkeit bei Berufskrankheiten

Bearbeitungsschritte zur Sicherung des Gesundheitsschadens

Der Gesundheitsschaden Gonarthrose im Sinne des Berufskrankheitenrechts setzt nach der wissenschaftlichen Begründung ([1], S 52) voraus, dass chronische Kniegelenkbeschwerden, Funktionsstörungen bei der orthopädischen Untersuchung in Form einer eingeschränkten Streckung oder Beugung im Kniegelenk und die röntgenologische Diagnose einer Gonarthrose entsprechend Grad 2–4 der Klassifikation von Kellgren gesichert sind. Gesichert nach den Beweisanforderungen der gesetzlichen Unfallversicherung bedeutet, dass die Diagnose, wie oben beschrieben, mit dem so genannten Vollbeweis als erfüllt anzusehen ist [7].

Sofern allein durch den Röntgenbefund die Diagnose nicht mit der erforderlichen Sicherheit gestellt werden kann, bietet sich eine weiterführende Beurteilung mit Hilfe des MRT (Magnetresonanztomogramm) an, welches, sofern nicht bereits vorliegend, vom Unfallversicherungsträger im Verfahren direkt veranlasst werden kann. Das MRT kann zur Lokalisation des Gesundheitsschadens herangezogen werden. Eine allgemeingültige wissenschaftliche Aussage zum berufskrankheitentypischen Schadensbild hat sich noch nicht herausgebildet, weil weitere Kenntnisse darüber benötigt werden, wie die pathophysiologischen Abläufe des Übergangs von physiologischen zu krankhaften Knorpelbelastungen aussehen [8]. In einem interdisziplinären Fachgespräch der DGUV zur BK Gonarthrose am 30.03.2007 wurde als Arbeitshypothese formuliert, dass von einem Beginn des Knorpelaufbrauchs patello-femoral und in den dorsalen Kniegelenkanteilen ausgegangen werden kann.

Bearbeitungsschritte zur Beurteilung der Einwirkung

Ausgangspunkt der Feststellungen ist die wissenschaftliche Begründung [1] mit einer Beschreibung der Gefahrenquellen, ergänzt durch 5 Piktogramme und eine Auflistung von 17 Berufsgruppen und Tätigkeiten, bei denen Beschäftigungen im Knien, Hocken, im Fersensitz oder im Kriechen vorkommen.

Die Feststellung der hierfür im Verordnungswortlaut geforderten 13.000 h setzt einen Grad der Überzeugung im Sinne des Vollbeweises voraus. Um diesen Überzeugungsgrad zu erlangen, werden in der Regel Feststellungen durch den Präventionsbereich durchgeführt.

Damit für jede Einzelfallbeurteilung eine ausreichend sichere Grundlage besteht, hat die DGUV im BGIA (Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung) die Erstellung eines Katasters für Kniegelenk belastende Arbeiten, orientiert an den 17 Berufsgruppen der wissenschaftlichen Begründung [1], initiiert. Aktuell vermessen sind die Berufe Installateur, Maler, Estrichleger und Fliesenleger. Tab. 1 zeigt den modularen Aufbau und die Zeitdauer Knie belastender Tätigkeiten bezogen auf eine 8-h-Arbeitsschicht für Fliesenleger.

Tab. 1 Knie belastende Tätigkeiten in einer 8-h-Arbeitsschicht von Fliesenlegern

Bis zur abschließenden Erarbeitung des Katasters sind die Knie belastenden Tätigkeiten für die übrigen Berufe durch persönliche Befragung des Versicherten, des/der Arbeitgeber, von Arbeitskollegen und auf der Grundlage von vorhandenen Erfahrungswerten der Prävention festzustellen.

Bearbeitungsschritte zur Beurteilung der Kausalität

Zur Beurteilung der Kausalität zwischen der schädigenden Einwirkung und dem Gesundheitsschaden (haftungsbegründende Kausalität [6]) sind die Unfallversicherungsträger auf medizinische Beratung angewiesen, in vielen Fällen in Form einer Begutachtung. Zur Vorbereitung auf die neue Berufskrankheit Gonarthrose hat die DGUV eine Arbeitsgruppe „Begutachtungsempfehlungen“ initiiert, die in einem ersten Schritt Untersuchungsstandards für die Begutachtung entwickelte. In einem nächsten Schritt sollen inhaltliche Empfehlungen erarbeitet werden. Bis dahin haben die von den Unfallversicherungsträgern beauftragten Gutachter die Kausalität auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beurteilen [4]. Heranzuziehen sind hierbei die gängige wissenschaftliche Literatur, die allgemein anerkannte Kommentierung und ebenso die vorliegende wissenschaftliche Begründung zur BK Gonarthrose [1]. Letztere enthält in den Kapiteln 7–9 grundsätzliche Ausführungen zu konkurrierenden Faktoren, dem Zusammenwirken zwischen beruflichen und außerberuflichen Ursachen und zur Begutachtung. Diese Ausführungen sind in den Kontext der für die Unfallversicherung maßgeblichen Lehre der rechtlichen wesentlichen Ursache zu stellen und von Gutachtern und Verwaltungen gleichermaßen zu beachten.

Das Bundessozialgericht hat in einer lesenswerten Entscheidung die Grundsätze der Wesentlichkeit zusammengefasst [2]. Die Entscheidung ist zwar zu den Folgen eines Arbeitsunfalles ergangen, die beschriebenen Grundsätze sind aber ohne Einschränkungen auf Berufskrankheiten übertragbar. Diese allgemein gültigen Rechtsgrundsätze geben den Rechtsanwendern ein Instrumentarium zur Hand, welches eine Rechtsanwendung für den Einzelfall ermöglicht. Lässt der im Entscheidungszeitpunkt aktuelle Kenntnisstand keine Beurteilung der Ursächlichkeit zu, ist die Anerkennung einer Berufskrankheit abzulehnen. Beweisrechtlich ist zu beachten, dass die Kausalität zwischen der Einwirkung und dem Gesundheitsschaden positiv festgestellt werden muss [3].

Mengengerüste

Tab. 2 zeigt die Mengengerüste der BK-Verdachtsanzeigen bei den Unfallversicherungsträgern, den bis dahin maßgeblichen Bearbeitungsstatus und die Art der Entscheidung auf.

Tab. 2 Mengengerüste der BK-Verdachtsanzeigen (Stand März 2009; Quelle: DGUV)

Von den 1451 im Rahmen der BK-Dokumentation erfassten Meldungen wurden 1231 Vorgänge abschließend bearbeitet, darin enthalten sind 13 Anerkennungen. Damit wurde in 85% der Fälle eine versicherungsrechtliche Entscheidung herbeigeführt. In laufender Bearbeitung befanden sich befanden sich zum Zeitpunkt der Beitragserstellung 220 Fälle. Zu deren Bearbeitungsstatus, insbesondere zur Laufzeit seit Meldung, ist keine Aussage möglich.

Fazit

Die Unfallversicherungsträger bearbeiten die gemeldeten Verdachtsanzeigen zur BK Gonarthrose auf der Grundlage des vorliegenden aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes. Hierzu zählt auch die wissenschaftliche Begründung zur BK Gonarthrose [1]. Dieser Erkenntnisstand im Kontext mit der für die Rechtslehre der rechtlich wesentlichen Ursache stellt eine ausreichende Grundlage dar, um die gemeldeten BK-Gonarthrose-Fälle zu entscheiden. Deren praktische Bearbeitung wird durch einen Workflow unterstützt. Eine sich fortsetzende wissenschaftliche Diskussion und ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn aus laufenden Forschungsvorhaben sind bei der Bearbeitung der BK-Gonarthrose-Fälle zu beachten.